Immer bleibt man zurück

Ein Spaziergang in Frankfurt Hier hört der Flohmarkt auf. Wie am Rand der Welt. Manche Stände nur wie die fahrige Erinnerung an andere Stände, die man zwei Kilometer vorher oder ...

Hier hört der Flohmarkt auf. Wie am Rand der Welt. Manche Stände nur wie die fahrige Erinnerung an andere Stände, die man zwei Kilometer vorher oder vor einem halben Jahr einmal sah. In einem früheren Leben und wie hieß das Land? Andere werden schon abgebaut und gleich stürzt der Wind herbei, gleich soviel Leere, daß es dir den Atem nimmt. Schnell! Haltmichfest! Dort fahren die ersten schon ab. Plakate, Bettfedern, Plastiktüten. Altes Laub durch die Luft. Pfützen und zittern im Wind. Zeitungsverkäufer, die uns den Rücken wenden. Eine Eierfrau, aber hat keine Eier, nur leere Kartons und sieht aus wie eine Wahrsagerin. Ein kleiner Junge mit einem Bauchladen voller Erdnüsse - aber ist weggerannt und sah es nicht aus, als ob er so schnell er kann so weit es geht wegrennt - bis zu der Mauer am Ende der Welt und dort dann gleich anfängt zu weinen bis alles davonschwimmt in seinen Tränen? Ein alter Mann aus Siebenbürgen und tritt von einem Fuß auf den andern und hat ein Paar Turnschuhe zu verkaufen. Und wo nur hast du ihn schonmal gesehen? So blaue Augen! Turnschuhe Größe 40. Einer mit einer Fahrradluftpumpe. Aber vielleicht will er die gar nicht verkaufen? Steht nur so da. Mit Regenmantel und Baskenmütze. Gerade hier am Ende des Flohmarkts, weil es hier nicht mehr weitergeht, fängt es oft mittags zu regnen an. Wind, Abfall, Papierfetzen. Dort vorn beladen sie schon ihre Flohmarktautos. Kleinlaster, Kombiwagen und bunte alte VW-Busse. Karawanenmusik. Laut die Autotüren zuschmeißen! Fahren ab und bis nach Istanbul. Nach Persien, Afghanistan, Indien. Mongolengesichter. Seit ein paar Jahren auch Indios. Aus Mexiko, aus Peru, aus den Anden. Und als Händler hierher. Oder sind von hier, sind Deutsche hier aus der Gegend, sind die Kinder der fünfziger Jahre. Haben Kunstgeschichte und Soziologie studiert, Psychologie, Politik, Romanistik. Als Zivi beim Bund. Und Schlagzeug in einer Band. Entweder Zivildienst oder Berlin-Studium. Hier in Frankfurt ein paar Jahre Taxifahrer oder zur Aushilfe Nachtschicht am Flughafen und in Rüsselsheim bei Opel am Band. Psychoanalyse, Ethnologie und beinah Lehrer geworden. Und jetzt Flohmarkt. Schon vier Jahre Flohmarkt. Das Auto billig. Kennen sich aus. Am Besten einen ehemaligen Krankenwagen oder ein ausgemustertes Postauto und eine günstige Stereoanlage rein. Die Rolling Stones und Van Morrison auf Cassette. Ein altes Haus auf dem Land. Selbst die Ölheizung eingebaut (Kessel und Öltank unter der Hand). Stall und Scheune als Warenlager. Erst kürzlich dreißig geworden. Erst die Heizung fertig, dann das Dachgeschoß ausgebaut. Und dann unter den Eternit-Platten wieder das Fachwerk freigelegt. Wohnen als Flohmarkthändler im Vogelsberg, in Gelnhausen, im Spessart, im Rheingau, in Darmstadt, im Odenwald und im Ried. Alles eingepackt? Fahren und nehmen den Tag mit. Gerade hier jedesmal muß man mit Mühe sich wiederfinden. Gerade hier mit dem Tag und der Zeit zum Stehen gekommen. Die Schwerkraft. Zuende der Markt und dann ist man müd, hat sowieso, hat schon länger kein Geld und weiß nicht weiter. Wohin? Wollen trotzdem auch weiterhin an den Main und den Flohmarkt glauben! Wohin? Samstage, Flohmarkttage. Manche Samstage ist der Flohmarkt am Main mit dem Fluß und dem Himmel und den Bäumen, Gesichtern und Stimmen das Schönste, was es in Frankfurt gibt. Meistens. Und dann wieder andere Tage, da erweist sich der ganze Flohmarkt vom einen zum andern Ende als Täuschung. Unwirklich. Eine Luftspiegelung. Rückwirkend. Ein Irrtum. Hätten lieber dies und das. Da und dort. Besorgungen. Wichtige Angelegenheiten. Um Arbeitsplätze, Namen, Mäntel und Wohnungen anstehen! Die Akten ordnen! Behördenbriefe beantworten! Oder im Bett bleiben! Ausschlafen! Noch länger ausschlafen! Gar nicht mehr aufstehen! Immer gerade hier! Der Samstagmittagruck! Immer erst nachträglich weiß man es wieder. Jetzt hat das Wochenende angefangen. Samstagmittag, alles stolpert und stockt und kommt zum Erliegen. Stehengeblieben. Immer gerade an dieser Stelle. Und läßt sich weder anschubsen noch rückgängig! Zum Verzweifeln! Der Tag leergeräumt. Wie geplündert. Ein Zettel auf dem draufsteht, wer du bist und wohin, so ein Zettel wäre nicht schlecht. Besser aus Pappe. Noch besser auf ein Holzschildchen aufgeklebt. Griffbereit. Nicht zu verwechseln. In der Tasche das Schildchen, die Schrift eingebrannt und sich den ganzen Tag daran festhalten. Edelstahl. Grabsteinmarmor. Da tragen sie stapelweise vergangene Tage und alte Zeitungen weg. Wird gleich regnen! Kalt. Windig. Riecht nach Schnee, fängt vor deinen Augen zu schneien an. Wie im Kino am Ende des Films. Keinen Mantel? Wie heißt der Film? Meistens dann keinen Mantel oder wenn, dann nicht mit! Müd, hungrig, die Schuhe durch. Geld verloren. Oder kommt dir so vor. Vielleicht nicht verloren, aber jedenfalls auch nicht da. Meine alte Wildlederjacke aus dem Mai 68 oder eine Jacke vom Flohmarkt, die sich bald als vergänglich erweist. Genau wie der Tag und die Zeit. Neun Jahre lang auf allen Wegen die Tage, Pullover und Jacken mit Sibylle geteilt. Hier am Rand, hier ist der Flohmarkt zuende. Nachträglich beinah wie nicht gewesen. Und fängt auch schon an zu verschwinden. Vor deinen Augen auf und davon. immer bleibt man zurück. Und wenn du aufblickst, gerade dann und gerade hier fällt dein Blick jedesmal auf das Wirtshausschild. Bäreneck. Richtig! Jetzt weißt du es wieder! Zu den drei Bären nämlich heißt ein Gasthaus in Prag. Oft dran vorbei. Dort in Prag war ich in den Sechziger Jahren. Damals war ich reich. Mäntel. Taxis. Ein Auto. Ein Seidenschal. Restaurants. Goldene Kugelschreiber. Die besten Hotels. Sogar Handschuhe und eine Pelzmütze, wenn du willst, daß es kalt wird. Die Pelzmütze wie aus einem russischen Buch. Damals hatte ich keine Sorgen! Ich hab einfach keine gebraucht! Jede Frau hat mich angesehen! Ein Visum, eine Aufenthaltserlaubnis, dauerhaft eine große Wohnung in einem alten Haus. Nicht sogar eine Art Familie? Und wo ich auch gehe, die Stadt spricht mit mir. Jeder Stein. In Prag gibt es eine astronomische Uhr. Manchmal kommt man zur rechten Zeit und sieht sie der Reihe nach alle herauskommen und vorbeirucken, Bettler und König und Tod und zuletzt kräht ein Hahn und dann muß man auch schon wieder weiter, muß weiter. Wird Zeit! Immer wieder gekommen! Und wie wir uns durch die Jahre beeilt haben, sagte ich. Oder denkt man das immer nur? Hier am Main am Ende des Flohmarkts, der jetzt in der Nacht natürlich nicht da ist, das Bäreneck. Hat gewartet. Steht immer hier. Heißt immer noch Bäreneck. Dabei war ich nur höchstens einmal drin. Mit Sibylle. Unser erster Frankfurter Herbst. Als ich zum erstenmal mit ihr hier auf dem Flohmarkt - oder wollten wir damals nach dem Flohmarkt nur rein, aber sowieso kaum Geld und es uns für später? Ein andermal? Ein andermal und das sind dann auch wieder wir? Der billigste Schnaps in Frankfurt ist immer im Stehen an der Theke ein schneller Korn. Damals ungefähr neunzich Fennich oder eine Mark, manchmal einszehn, je nachdem. Oder gleich einen Flachmann am Büdchen. Muß man mit sich selbst verhandeln! Jetzt nie mehr, sagte ich, einen Schnaps im Vorbeigehen. Als Gast. Ein Fremder. Die Kneipe auch fremd. Und wenn man geht, nimmt man alle Blicke mit, die Uhrzeit, Gesichter und jedes Gespräch. Die ganze Kneipe jedesmal gleich im Kopf mit. Sind das Schiffe, die rufen? Ob Carina jetzt schläft?

Schifferstraße, Schulstraße, Färberstraße. Wollen hier entlang, komm! Mit vollem Bauch. Satt. Fest auf der Erde. Hier vor uns die alten Häuser, die paar, die noch übrig sind. Mondlicht. Das Pflaster glänzt. Die Kirche und bei der Kirche so hohe Bäume. Wie die Nacht rauscht. Sandstein, ein Eisengitter, ein hohes Tor und bis an den Himmel die Bäume. Gab es hier nicht eine Musikkneipe auch? Gleich da um die Ecke? Immer enger die Häuser. Drängen sich aneinander. Wie still es ist. Bis jetzt noch nie in Sachsenhausen gewohnt, du ja auch nicht. Wie in alten Zeiten gehen wir mitten auf der Straße. Gerade hier kann man gut sehen, wie es einmal gewesen ist. Und in der Stille die eigenen Schritte, als ob jemand hinter uns herkommt. Und woher die Stimmen? Wohl aus dem Kneipenviertel dort vorn. Und dazu noch die Stimmen in deinem Gedächtnis. Der Wind auch mit vielen Stimmen. Der Wind bringt das Echo vom Wind. Und muß da hinten am Rand der Nacht immerfort großspurig johlen und lachen und mit Kneipenschildern und Wolkenschiffen und Fensterläden und Dachziegeln klappern - und dann wieder schnell weg und fährt in weiter Ferne dahin. Schmal die Häuser. Die Wände mit Schiefer. Besonders die oberen Stockwerke. Vollmond hieß die Musikkneipe. Nicht weit von der Kirche. Und wie heißt die Kirche? Vor uns die Mondschatten. Und gerade hier wieder an unser altes nächtliches Treppen- und Gassen-Marburg denken, den Fluchtpunkt. Ohne Marburg hätten wir es in Gießen nicht ausgehalten. Und unser Freund Eckart? Verschollen? Noch immer verschollen? Nein, sagte ich, ich weiß, wo er wohnt! Ihn gesehen! Zweimal sogar ihn gesehen! Du warst nicht da! Du weißt ja, du warst nicht da! Im Dezember von Wolfram gehört, daß er in Bruchköbel wohnt. Ein oder zwei Wochen vor Weihnachten. Nach der Trennung schon. Schon die neue Zeitrechnung, aber ich bin noch in der Jordanstraße. Sibylle schon dabei, jeden Tag ihr künftiges neues Leben einzuüben und ich muß mir immer spät in der Nacht aus den überzähligen Matratzen in unserem großen Zimmer ein Bett für mich allein. Nach Mitternacht. Allein in der vorgeschrittenen Stille und immer noch fassungslos. Du warst in Portugal. Ihr wart alle in Portugal. An diesem Tag ein Brief von dir. Abends mit Carina allein daheim. Die ehemalige Wohnung. Nebeneinander in einem von den großen grauen Sesseln, Carina und ich. Die meisten Frankfurter Kinder sind den halben Winter erkältet. Wir sitzen bei der Stehlampe und malen mit Buntstiften Briefmarken. Nichtehelich als Vater ein Kind. Keine Wohnung, kein Geld, kein Einkommen, aber immerhin ein bequemer Sessel. Ein Secondhandsessel und die Heizung summt. Vorher lang stur und ernsthaft versucht, aus einem Kapitel vom schwarzen Buch einen Dialog, ein Hörspiel, ein Drama, ein Drehbuch, etwas wofür man Geld kriegen kann! Mit den gleichen Buntstiften. Indem ich die Sätze mit Farben. Mit System. Und dazuschreiben: Erster Sprecher, zweiter Sprecher usw. Dann gemerkt, daß es mich nicht lockt. Wenn es einen nicht lockt, hat es keinen Sinn. Welches Kapitel? fragt er. Das zweite, sagte ich. Die Sylvesternacht. Wie er über den Main rennt. Übers Eis! Genau richtig das Kapitel. Jedes Wort stimmt. Es schon vor mehr als zehn Jahren einmal schnell aufgeschrieben. Vor zwölf Jahren. Nur für mich. Damit es dann da ist. Und als ich das Buch schrieb, es immer wieder neu. Noch zwanzigmal. Aber wenn es dann fertig ist, wird auch mit Not und Buntstiften nichts daraus, wofür man Geld kriegen könnte. Deshalb dann die Briefmarken. Lieber Briefmarken malen. Mit Begeisterung. Sollen so echt aussehen, wie es nur geht. Carina auch mit Begeisterung. Kleine Kinder können lang keine Rechtecke. Neben mir in dem großen Sessel sitzt sie und zappelt mit den Füßen und muß manchmal die Luft anhalten vor Eifer. Dann abendmüd und ich auch. Geht auf sieben. Sessel, Tisch, Lampenlicht und die Heizung summt. Um uns das Zimmer, die Wohnung, der Abend und alles schon nicht mehr wahr. Noch da und doch schon Vergangenheit oder muß rückwirkend annulliert. Wunderschöne handgemalte Briefmarken. Dann telefonisch die Auskunft und dann gleich Eckarts Nummer. Bruchköbel. Hinter Hanau. Ein Dorf, ein ehemaliges Dorf. Er sitzt direkt beim Telefon. Verheiratet. Einen Sohn. Vierzimmerneubauwohnung. Der Sohn heißt Benjamin. Benny. Schon sieben. Haben vorher im Fernsehen das tägliche Abendsandmännchen und dann zweimal Mühle, er und sein Sohn. Seit Benny Mühle kann, spielen sie abends oft Mühle. Meistens spielen sie zweimal. Seine Frau ist jetzt in der Küche. Ihm von uns, von Sibylle und Carina und mir und den Büchern und Jahren erzählen. Die Zeit ihm erzählen. Teppiche, Sessel, eine Stehlampe. Hast du auch so eine Stehlampe neben dir stehen? Carina auf meinem Schoß. Viereinhalb. An Sibylle erinnert er sich. Neun Jahre jeden Schritt Weg miteinander, sagte ich. Und vor drei Wochen die Trennung. Seine Frau in der Küche darf nicht wissen, daß er mit mir spricht. Dann schreibt er sich meine Telefonnummer auf. Dann aufgelegt und ich muß gleich Carina von ihm erzählen, von ihm und von mir. Und selbstgemacht richtige Briefmarken, sagt sie dann. Und Peta, die kömmier auch kleben, Peta! Bloß sind noch schöner!

Peter Kurzeck ist 1943 in Böhmen geboren, aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen, lebt in Frankfurt am Main und Uzes in Südfrankreich. 1999 erhielt Kurzeck den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 2000/2001 war er Stadtschreiber von Bergen. Zuletzt erschien der Roman Übers Eis. Der abgedruckte Text ist ein Vorabdruck aus Kurzecks neuen Roman Als Gast, der im Frühjahr im Frankfurter Verlag Stroemfeld erscheint.

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