America first

Putin und Schröder in Jekaterinburg Für Russland ist Europa derzeit nur zweite Wahl - die Beziehungen mit Deutschland bleiben davon nicht unberührt

Von seinem Treffen mit George W. Bush in Camp David gerade heimgekehrt, nickte Wladimir Putin eine Vorlage seines Verteidigungsministers Sergej Iwanow ab, in der die Möglichkeit weltweiter russischer Präventivschläge im Interesse der nationalen Sicherheit nicht länger ausgeschlossen bleibt. Bedroht werde die eigene Sicherheit nicht nur durch instabile Nachbarn, sondern auch "durch fremde Staaten und Organisationen", die versuchten, sich in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen, heißt es. Fast ein Paukenschlag vor der Begegnung Putins mit Kanzler Schröder in dieser Woche.

Ob Iwanow mit "fremden Staaten und Organisationen" die USA und die NATO meint, ist so sicher nicht. Die Weltpolitik, konstatiert Russlands erster Militär-Theoretiker, werde zunehmend von ökonomischen Interessen bestimmt. Dies wiederum führe zum vermehrten Gebrauch militärischer Gewalt "durch Staaten oder Koalitionen jenseits traditioneller militärischer Allianzen".

Dass auch Russland derartige Koalitionen eingehen sollte, steht für Iwanow außer Frage. Allerdings suchen dabei die Kreml-Kritiker den Partner eher in Peking, Delhi und Teheran, während die Kreml-Sympathisanten voll und ganz auf Washington setzen. Etwa die Mitglieder des einflussreichen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, die in einer Doktrin zur Formierung eines strategischen Bündnisses zwischen Russland und den USA betitelten Denkschrift Wladimir Putin kurz vor seinem Besuch in Amerika aufforderten: Er solle George Bush durch eine "großzügige militärstrategische Kooperationsbereitschaft" dazu bewegen, Russland den im US-Recht festgeschriebenen Status eines "nicht der NATO angehörenden strategischen Verbündeten" zuzubilligen. Wie der Angesprochene darauf reagierte, ist nicht bekannt. Allerdings gab sich Stephen Rademaker, Staatssekretär für Rüstungskontrolle im State Department, nach Gesprächen mit russischen Politikern Anfang Oktober bemerkenswert euphorisch: Washingtons Doktrin präventiver Schläge gegen "Schurkenstaaten" treffe in Moskau auf großes Verständnis. Der 2002 unterzeichnete amerikanisch-russische Vertrag über die Reduzierung der strategischen Offensivpotenziale (SNP) werde reibungslos umgesetzt. Die Kooperation, um gemeinsam ein Raketenabwehrsystem zu bauen, mache Fortschritte.

Dem viel beschworenen europäischen Dreigestirn Moskau-Berlin-Paris mag diese Waffenbrüderschaft wenig zuträglich sein. Darüber können auch pompös inszenierte Bilateralitäten wie der russisch-deutsche Gipfel von Jekaterinburg nicht hinwegtäuschen. Sichere russische Öl- und Gaslieferungen an Deutschland, ein besseres Investitionsklima für deutsche Firmen in Russland, die "Beutekunst" und der Jugendaustausch - seit Jahren arbeiten sich Heerscharen russischer und deutscher Spezialisten an diesen Themen ab. Daran wird sich auch künftig nichts ändern, denn die geopolitischen Rücksichten, die Berlin und Moskau gegenüber Washington nehmen, lassen das außen- und sicherheitspolitische Miteinander derzeit eher versanden, als dass Fahrten zu neuen Ufern anstehen. Ein Beleg dafür ist die noch druckfrische, der "neuen deutschen Außenpolitik" gewidmete Ausgabe der von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegebenen Zeitschrift Internationale Politik, in der das deutsch-russische Verhältnis mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn analysiert wird.

Für eine Achse Moskau-Berlin-Paris gebe es keinerlei Grundlage, belehrte denn auch am Vorabend des Jekaterinburger Gipfels Gernot Erler, Koordinator für die deutsch-russischen Beziehungen, die Leser der Moskauer Nesawisimaja Gasjeta. Wichtig sei, dass weiterhin alle führenden Länder gemeinsam gegen den internationalen Terrorismus kämpfen.

So neigen die europäisch-russischen Beziehungen im Augenblick nicht unbedingt zu Höhenflügen. "Das künftige Miteinander von EU und Russland hängt in hohem Maße von den Europäern selbst ab", meint Alexander Rahr, Ost-Experte der DGAP. "Glaubt die Union, mit Russland im Rücken an Stärke zu gewinnen, wird sich dies positiv auf die Herausbildung partnerschaftlicher Beziehungen auswirken." Wohl wahr. Aber will Russland der Union überhaupt den Rücken stärken? Solange in den Hauptstädten Westeuropas zu wenig getan wird, die EU als eigenständigen geopolitischen Akteur zu profilieren, bleiben für Moskau die USA der bevorzugte Partner. Europapolitisch eine Misere von Rang, die allerdings weder in Berlin, noch in Paris, noch in Brüssel jemanden aufzuregen scheint.

"Die historische Mission Russlands im 21. Jahrhundert besteht in der Schaffung eines liberalen Imperiums auf dem Territorium der GUS." (*) Derartige Statements aus dem Munde "bewährter Demokraten" wie des Ex-Privatisierungsministers Anatoli Tschubais sollten für Brüssel Anlass genug sein, im Umgang mit Moskau nach neuen Wegen zu suchen, an deren Anfang die Erkenntnis stehen müsste, dass Westeuropa Russland mehr braucht als umgekehrt: Bereits heute ist klar, dass die anstehende Erweiterung der EU bis auf weiteres die letzte sein wird. Dementsprechend wächst die Bedeutung Russlands für die Reintegration des ehemaligen sowjetischen Südwestens und der Kaspi-Region - ohne Russland werden die Europäer dort langfristig keinen Fuß auf den Boden bekommen.

(*) Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, 1991 gegründet.

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