Eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche politische und wirtschaftliche Reformierung Japans ist die Befreiung des Landes aus der sicherheitspolitischen Bevormundung durch die USA. Ob dies jedoch auf absehbare Zeit gelingen kann, steht nach den jüngsten Verlautbarungen aus Washington in den Sternen. Nicht nur, dass in den militär-strategischen Überlegungen der Amerikaner der asiatisch-pazifische Raum künftig eine viel größere Rolle als die euro-atlantische Region spielen wird. Vor allem bei der Bewaffnung der Streitkräfte will man neue Wege gehen: Nicht konventionelles Fluggerät, Flugzeugträger oder gar Panzer, sondern hochgradig integrierte land-, see-, luft- und weltraumgestützte Raketenabwehrsysteme sollen künftig das Rückgrat der US-Streitkräfte bilden. Für diesen geographischen und technologischen Schwenk braucht es Partner, die sicherheitspolitisch ebenso unmündig wie rüstungstechnologisch potent sind. Niemand ist diesbezüglich besser geeignet als das Land der aufgehenden Sonne: "Japan", erklärte vor wenigen Tagen Generalleutnant Paul Hester, Oberkommandierender der US-Streitkräfte in Nippon, "wird künftig das Herzstück des asiatisch-pazifischen Sicherheitsapparates sein." Vor dem Hintergrund der aktuellen US-amerikanischen Strategiedebatte bedeutet dies vor allem eines: den Missbrauch des fernöstlichen Inselreichs zum Zwecke der diskreten Aushebelung des ABM-Vertrages von 1972.
Das Interesse Washingtons an der asiatisch-pazifischen Region kommt nicht von ungefähr: Nach der Selbstauflösung der Sowjetunion brauchten Pentagon-Strategen nicht lang, um den Raum zwischen Teheran und Tokyo als Fläche für immer neue und phantastischere Feindbildprojektionen auszumachen: Seit 1992 fanden gut zwei Drittel aller vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium inszenierten strategischen Geländespiele vollständig oder teilweise in Asien statt. Im gleichen Zeitraum begann die US-Navy damit, den größten Teil seiner Kampf-U-Boote aus dem Atlantik in den Pazifik zu verlegen. Nach umfangreichen chinesischen Manöverübungen in der Straße von Taiwan 1996 und dem Absturz einer nordkoreanischen ballistischen Rakete ins Japanische Meer 1998 stand für lang gediente Pentagon-Analysten wie Andrew Marshall endgültig fest: der neue Erzfeind steht in Peking und Pjöngjang. Unter George W. Bush zum Chef der internen Denkfabrik des Pentagon avanciert, lässt der inzwischen knapp Achtzigjährige keine Gelegenheit ungenutzt, seine Phantasien Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und über diesen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten höchstpersönlich zur Kenntnis zu bringen. Nicht ohne Erfolg, wie die jüngsten öffentlichen Auftritte der beiden Spitzenpolitiker belegen.
Asien als künftiges Hauptfeld verteidigungspolitischen Engagements der USA bedeutet für Marshall Co. vor allem "Neues militärisches Denken": Weg von der klassisch europäischen Vorstellung eines "großen Krieges", in dem sich nationale Armeen direkt gegenüberstehen, hin zu Kriegsszenarien, in denen klassisch asiatische Formen militärischer Taktik wie Täuschung und indirektes Vorgehen dominieren. Rüstungstechnologisch heißt dies wiederum die Entwicklung, Produktion und Beschaffung extrem flexibler und mobiler Waffensysteme. Wie das landgestützte regionale System zur Abwehr ballistischer Raketen THAAD oder dessen see-gestützter Bruder NTWD. Während THAAD bislang nur als Computer-Simulation funktioniert, hat sich NTWD in kürzester Zeit zu einer durchaus greifbaren Option gemausert, nicht zuletzt, weil sein Grundbaustein, das Aegis/Standard-System, seit Jahren zu den leistungsfähigsten Kampfmitteln der US-Navy gehört.
Washington hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass es bei der weiteren Vervollkommnung von NTWD gern auf das technologische Knowhow Japans zurückgreifen würde. Nach schwierigen Verhandlungen erklärte sich Tokio Ende 1998 erstmals öffentlich bereit, im Rahmen eines gemeinsamen Fünf-Jahres-Programms ca. 255 Millionen Dollar in die Erforschung eines regionalen Raketenschilds zu stecken. Japans Industrie-Bosse ließen sich daraufhin nicht lange bitten. Seit Frühjahr vergangenen Jahres beteiligen sich sechs führende Unternehmen des Inselreichs - Mitsubishi Heavy Industries, Kawasaki Heavy Industries, Ishikawajima-Harima Heavy Industries, Nissan Motors, Fujitsu Corp. und Toshiba Corp. - unter Federführung der US-Navy an der konkreten Entwicklung eines seegestützten Raketenabwehrsystems namens NTW Block 2.
Die These der japanischen Regierung, NTW Block 2 sei ein regionales, nicht-strategisches Raketenabwehrsystem und damit verfassungskonform, erhielt erste Risse, als Ende vergangenen Jahres der damalige Ministerpräsident Yoshiro Mori erklärte, sein Land werde bis 2003 vier Aufklärungssatelliten in den Weltraum schießen. Endgültig ad absurdum geführt wurde sie jedoch vor wenigen Tagen durch den stellvertretenden US-Verteidigungsminister Richard Armitage. Während einer Tokio-Visite stellte dieser unmissverständlich klar, dass Washington nicht länger zwischen nationaler (TMD) oder strategischer (MD) Raketenabwehr unterscheiden werde. Armitage brachte damit die Grundüberzeugung der Bush-Administration zum Ausdruck, wonach der kürzeste, preiswerteste und eleganteste Weg, die USA gegen feindliche Interkontinentalraketen immun zu machen, nicht über die Schaffung eines speziellen landgestützten, strategischen Abwehrsystems à la Clinton führt, sondern über die systematische Entwicklung diverser land-, see- und luftgestützter nicht-strategischer Abwehrsysteme, die - ergänzt um weltraumgestützte Aufklärungsmittel - praktisch wie ein strategisches Abwehrsystem funktionieren, ohne formal ein solches zu sein. Nicht nur, dass ein derartiger Ansatz billiger und praktikabler als der Clintons wäre, da wesentliche Komponenten bereits vor Jahren in Dienst gestellt und seitdem systematisch weiterentwickelt wurden. Auch böte er die Möglichkeit, den leidigen ABM-Vertrag praktisch auszuhebeln, ohne ihn formal brechen zu müssen.
Mit der Fokussierung der Verteidigungsstrategie Bushs auf die asiatisch-pazifische Region ist klar, dass seegestützte Raketenabwehrsystemen eine Schlüsselstellung bei der Realisierung der jüngsten Sternenkriegspläne Washingtons einnehmen werden. Eine japanische Regierung, die sich aktiv an der Schaffung derartiger Systeme beteiligt, verstößt damit nicht nur gegen die geltende japanische "Friedensverfassung". Sie sägt auch an einer wesentlichen Säule globaler Stabilität und Sicherheit: dem ABM-Vertrag.
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