Unter Shinzo Abe - seit acht Monaten als 46. Premierminister seit 1945 im Amt - ist Japan bei seiner Rückkehr zum Status eines "normalen Staates" ein gutes Stück vorangekommen: Nicht nur, dass seit Dezember 2006 sämtliche Schulen per Gesetz verpflichtet sind, bei gewissen Anlässen unter wehender Staatsflagge die Nationalhymne absingen zu lassen. Auch das Oberhaus hat am 14. Mai einen Gesetzentwurf über Volksentscheide abgesegnet, um den Weg zur Revision der Friedensverfassung von 1947 zu ebnen. Deren Autoren hatten einst geschworen, Japan werde nie wieder mit kriegerischen Mitteln in internationale Konflikte eingreifen. Artikel 9 untersagte ausdrücklich, Land-, See- und Luftstreitkräfte zu unterhalten. Dass Japan all diese Militärformationen seit Jahrzehnten gleichwohl besitzt, wurde stets mit dem Recht auf Selbstverteidigung begründet.
Das scheint nun überholt, schon im Dezember 2006 hatte Shinzo Abe die bisherige Verteidigungsbehörde offiziell zum Verteidigungsministerium aufgewertet und damit zum Ausdruck gebracht, den Kernauftrag der Selbstverteidigungsstreitkräfte (Jieitai) durch globale Militärmissionen erweitern zu wollen.
Um dabei zivile Kontrollen zu umgehen, sollen mittelfristig Jieitai-Offiziere die derzeit noch dem Verteidigungsminister zugeordneten zivilen Verteidigungsräte ersetzen. So wächst das administrative Rückgrat für die von Abe proklamierte "kämpfende Diplomatie" (tatakau gaiko), um die schon unter Amtsvorgänger Koizumi begonnene Abkehr vom Nachkriegskurs Japans zu forcieren.
Zur See geschieht das seit Jahren, bereits im November 2001 wurden Schiffe der Maritimen Selbstverteidigungsstreitkräfte in den Indischen Ozean verlegt, wo sie seither als schwimmende Treibstoffdepots und Kontrollposten die US-Operationen in Afghanistan flankieren. Mit diesem Einsatz hat die Regierung in Tokio den maritimen "Selbstverteidigungsraum" klammheimlich auf einer Strecke von 3.000 Seemeilen erweitert. Sollte sich irgendwann im Sog der Amerikaner eine Iran-Mission anschließen, käme noch einmal eine Distanz von annähernd 1.000 Seemeilen hinzu - Japan hätte dann erstmals Schiffsverbände bis in den Persischen Golf verlegt.
Darüber hinaus verfügt das Oberkommando der Jieitai seit Februar über ein hochpräzises Allwetter-Aufklärungssystem, dessen Elemente - vier Satelliten made in Japan - dank eigener Trägerraketen vom nationalen Weltraumbahnhof Tanegashima in den erdnahen Raum geschossen wurden. Zugleich erproben japanische Techniker derzeit ein eigenes Satellitennavigationssystem, das ab 2008 GPS-Signale des US-Verteidigungsministeriums "regional optimieren" soll, wie es offiziell heißt. Ein Indiz von vielen für einen Schulterschluss mit den USA, der Japan eines Tages eine seegestützte Raketenabwehr bescheren könnte - möglicherweise bestückt mit einer von Amerikanern und Japanern gemeinsam entwickelten Abfangrakete, die als strategischer Trumpf des geplanten US-Abwehrsystems ab 2015 in Produktion gehen soll. Unter Shinzo Abe wird außerdem erneut die "nukleare Option" erwogen: Von den Ressourcen her sei die Atombombe für Japan kein Problem, meinte Außenminister Taro Aso Ende 2006 und hatte damit durchaus recht, denn das Land verfügt über knapp 44 Tonnen Plutonium - das reicht für mehr als 5.000 Nukleargeschosse.
Es mag sein, dass sich in all dem auch der Wille Tokios nach größerer Selbstständigkeit spiegelt. Doch scheint die inzwischen regierende Nachkriegsgeneration mehr noch von der Vorstellung beseelt, man könne nur in Tuchfühlung mit Washington den Herausforderungen das 21. Jahrhunderts gewachsen sein. Eine Überzeugung mit Folgen - allein die Beteiligung am Raketenabwehrprogramm der USA dürfte zur Unterstellung japanischer Streitkräfte unter US-Kommandostrukturen führen und einen merklichen Souveränitätsverlust bewirken. So ist absehbar, dass nach dem Umzug des Luftverteidigungskommandos auf die US-Air-Base Yokota im Westen Tokios und mit dem dort für 2010 vorgesehenen Raketenabwehrkommando über Japans Luftverteidigung eher in Washington als in Tokio entschieden werden dürfte.
Wie sehr sich Japan bereits heute als Juniorpartner der USA versteht, hat Shinzo Abe klar zu verstehen gegeben, als er Mitte Januar 2007 das Brüsseler NATO-Hauptquartier besuchte und nur wenige Wochen später in Tokio einen Sicherheitspakt mit Australien, Washingtons wichtigstem Alliierten im Südpazifik, unterzeichnete. Ganz im Geiste des NATO-Gipfels von Riga im November 2006 signalisierte Abe damit die Bereitschaft, den Anspruch der USA auf Führerschaft in einer global handelnden NATO durch eine asiatisch-pazifische Säule abstützen zu wollen.
Der Autor ist Japanologe/Politikwissenschaftler, er leitet derzeit das Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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