Der Mann, der zweimal starb

MEIN ALTER Alles, was er sagte, hatte mit Erfahrungen zu tun. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er als Bäckergeselle in Berlin und musste früh raus. Eine ...

Alles, was er sagte, hatte mit Erfahrungen zu tun. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er als Bäckergeselle in Berlin und musste früh raus. Eine Streife hielt ihn für einen Spartakisten, erschoss ihn standrechtlich, hielt ihn für tot und ließ ihn liegen. Da verließ er die SPD. Seine sechs Brüder verstanden ihn nicht. Auch wenn die Partei sich mal irrte, deshalb trat man doch nicht gleich aus.

Er trat gerne aus und lieber einmal zu viel. Die KP verließ er, weil sie sich niemals irrte. Nur aus der NSDAP brauchte er nicht auszutreten. Er verachtete Hitler, seit der im thüringischen Hildburghausen Polizeikommissar werden wollte, was ihm jedoch nicht gelang, weil er sogar dafür zu dumm war.

Seither galt mein Alter als unsicherer Kantonist. So dachte man vor 1933: Gar keine Partei war schlimmer als eine falsche. Ob er tatsächlich mal bei den Anarchisten war, weiß ich nicht. Er kokettierte gerne damit, was er alles mitgemacht hatte. Einer seiner Lieblingssätze lautete: "Wenn mir das einer vorher gesagt hätte, ich hätte es nicht geglaubt."

Sein Lebensstil war bewusst kleinbürgerlich, "das ist am unauffälligsten", sein Wesen weltbürgerlich. "Nationen sind eine Erfindung der Regierungen". Auch das hatte was mit seiner Herkunft zu tun. Seine Mutter, eine Deutsche aus betuchten Verhältnissen, wurde von ihren Eltern verstoßen, als sie sich in seinen Vater verliebte. Der war ein stattlicher Kerl, aber ein armer Wasserpolacke und arbeitete beim (natürlich preußischen) Grafen als Gärtner.

Mein Alter wuchs auf in einer kleinen Garnisonsstadt in Schlesien. Seine ersten Kröten verdiente er, indem er den Offizieren und Honoratioren die Türen aufhielt - an den zwei Puffs und am Casino. Durch ihn lernte ich, dass es immer ein Oben und Unten gibt, und dass es Sinn macht, die da oben zu verachten, und dass man etwas lernen muss, sehr viel sogar, um zu erkennen, wie dumm und verachtenswert sie sind. Zu allen Zeiten. "Das Verhalten der Herrschenden ändert sich manchmal", sagte er, "nie die Verhältnisse".

Die Nazizeit betrachtete er als ein Lehrstück, an dem er ein paar Mal fast gestorben wäre. "Da hat man gesehen, zu welchen Verbrechen die herrschenden Klassen bereit sind, wenn es um den Erhalt ihrer Reichtümer geht."

Gegen die westdeutsche Nachkriegsordnung hatte er nur einen Einwand: "Die Demokratie ist eine hübsche Utopie, aber nicht praktizierbar."

Die DDR hielt er im Prinzip für das bessere Deutschland, aber da hatte sein ausgeprägter Selbsterhaltungstrieb ihn schon davon überzeugt, dass es besser sei, als kleiner Krauter zu malochen und nicht als Bauarbeiter, der auch um den Mehrwert betrogen wird. In der Hinsicht war sein Denken holzschnittartig. "Mehrwert" war das, was der Chef ihm vorenthielt und dazu benutzte, um sich eine Jagd zu pachten oder die CDU zu schmieren.

Zugegeben: Nicht kam ihm in den Sinn, dass es höhere Triebkräfte im menschlichen Leben geben könnte, als das Gewinnstreben und den Kampf ums Leben, doch das hinderte ihn nicht, die Naturwissenschaften und die schönen Künste zu bewundern, auch wenn sie, wie er meinte, wie fast alles im Leben "käuflich" seien.

Ich besuchte ihn fast jeden Sonntag zum Mittagessen in seinem Altersheim hier in der Nähe von Köln, und er redete fast pausenlos, wie er es schon getan hatte, als ich Ende der vierziger Jahre bei ihm in die Malerlehre ging. Als Junge bewunderte ich seine Bildung, bis ich bemerkte, dass er nur die Tageszeitung las, viel Radio hörte und ein gutes Gedächtnis besaß.

Es dauerte Jahrzehnte bis ich mich zu fragen traute, ob ich ein Tonbandgerät mitbringen dürfe, aber meine Befürchtung, das Gerät könnte seinen Wortschwall bremsen, war unbegründet.

Die Kolumne im Freitag schmeichelte ihm, aber er mochte sie nicht besonders. Er las ein paar Folgen, schaute mich vorwurfsvoll an und sagte: "Was soll das sein? Das ist nicht, was ich gesagt habe. Und wenn ich es gesagt habe, dann habe ich es nicht so gemeint. Es liest sich alles so, als wäre ich ein Komiker. Du nimmst mich nicht ernst."

Ich glaube, wenn ich ihm gesagt hätte, dass viele Menschen das Leben für komisch halten, wären ihm etliche Episoden aus seinem Leben eingefallen, die nicht zum Lachen waren.

Sein Tod kam ihm nicht ungelegen. "Wenn man anfängt, die Welt zu verstehen", sagte er, "sollte man abtreten. Danach wird man unbelehrbar." Deshalb hielt er auch Gott für eine Erfindung: "Der Kerl weiß zuviel."

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