Dass Don DeLillo der Versuchung, einen Roman über den 11. September zu schreiben nicht widerstehen konnte, ist keine Überraschung. Schließlich ist er seit mehr als 35 Jahren Chronist des amerikanischen Alltags, vor allem zuständig für die Katastrophen, die das amerikanische Kollektivbewusstsein erschütterten. In Sieben Sekunden (1984) erzählte er die Geschichte des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald und in Weißes Rauschen (1988) berichtet er von den Folgen eines Chemiefabrik-Unfalls - deutlich inspiriert vom Störfall im Atomkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg 1979. DeLillo ist Experte für die Kehrseite des amerikanischen Traums, sein paranoides Negativ.
Das Cover seines 1000-Seiten-Romans Unterwelt (1997) zeigte die Zwillingstürme in Lower Manhattan dann auch nicht als Stolz der amerikanischen Nation, sondern bedrohlich in die dunklen Wolken ragend, im Vordergrund ein Kreuz, als blickte man auf eine Friedhofslandschaft - erschreckend prophetisch. Kurz nach den Anschlägen reagierte DeLillo mit dem Essay In den Ruinen der Zukunft, mit einiger Verspätung folgt jetzt Falling Man - ein Roman über die Angriffe auf das New Yorker World Trade Center vor sechs Jahren.
Das traumatische Ereignis ist nach wie vor präsent. Nicht zuletzt in seinen politischen Folgen. Das wirft, anders als sonst bei DeLillo, die Frage auf, was eine angemessene Darstellung der Katastrophe wäre. Seit den frühen Tagen des "New Journalism" in den 1960ern wird in den USA eine Debatte geführt, die in der letzten Zeit noch an Brisanz gewonnen hat: Taugt Literatur in einer globalisierten Welt (noch) dazu, den Verständnishorizont zu erweitern, oder sind wir nicht mit Sachbüchern wie Lawrence Wrights Der Tod wird euch finden (2007), das die Entstehungsgeschichte von Al-Quaida nachzeichnet, besser bedient, weil das Verständnis komplex vernetzter Ereignisse in erster Linie von der Datenmenge und nicht von einer geschärften subjektiven Wahrnehmung abhängt? Kann die ästhetische Bearbeitung angesichts der weltpolitischen Bedeutung nicht anders als sentimental - oder sogar obszön - sein? Eine Falle, in die zuletzt Frederic Beigbeder mit seinem misslungenen Roman Windows on the World (2005) getappt ist, in dem er die reale Katastrophe als Metapher einer dekadent-apokalyptischen Grundstimmung in der westlichen Welt funktionalisierte.
Jede Fiktionalisierung läuft Gefahr, die Bedeutung der Ereignisse ins Mythische zu überhöhen: als Bild einer untergehenden Zivilisation oder als Heldenepos. Das ist umso problematischer, als der Westen nach dem 11. September sich in einen plumpen Patriotismus einerseits und einen reflexartigen Antiamerikanismus andererseits gespalten hat. Jeder Beitrag wird zunächst als politische Stellungnahme gewertet, noch bevor sie ästhetisch wahrgenommen werden kann. Was wiederum die Frage aufwirft, auf welche Weise eine ästhetische Darstellung der Politik etwas entgegenzusetzen hätte.
"Ich habe den Roman geschrieben, wie ich jeden Roman schreibe, auch wenn es diesmal sehr schwer war", verriet der Autor dem Spiegel. Die Darstellung weltpolitischer Ereignisse von Gewicht, nicht den Propagandamaschinen aus Washington und Foxnews zu überlassen, sondern zu versuchen, ihnen mit analytischer Schärfe und Sprachmacht zu begegnen, ist in jedem Fall ein Anliegen, für das er Respekt verdient. Dahinter steckt kaum Marktkalkül, sondern vermutlich Notwendigkeit und Mut.
Wie sieht also eine Geschichte aus, die dem Zusammenbruch der Türme mit der Komplexität literarischer Sprache begegnet? Im Zentrum von Falling Man stehen Lianne und Keith, nach gescheiterter Ehe bringt der 11. September das Paar wieder zusammen: Mit Staub bedeckt, Glassplitter im ganzen Gesicht und Blut auf dem Anzug, das nicht von ihm stammt, steht er auf einmal vor ihrer Haustür in Brooklyn. Keith gehört zu den Büroangestellten, die anders als sein Kumpel Rumsey aus den brennenden Türmen flüchten konnten.
"Jetzt kommt einem nichts mehr übertrieben vor, jetzt erstaunt einen nichts mehr", sagt Martin, der Liebhaber von Liannes Mutter Nina angesichts der um sich greifenden apokalyptischen Stimmung. Angesichts der tödlichen Bedrohung und des Traumas, von dem die ganze Stadt heimgesucht ist, wirken die Alltagsprobleme von Lianne und Keith - Sprachlosigkeit, Alkoholismus und "frühe Zeiten der irgendwann eintretenden Düsternis namens Ehe" - vergleichsweise idyllisch. Nicht dass DeLillo der öffentlichen Katastrophe das wieder gefundene private Glück entgegenstellen würde. Eher umgekehrt: Die große Katastrophe sensibilisiert für all die kleinen, die vergangenen und die gegenwärtigen, und lässt deshalb die Menschen zusammenrücken. "Sie wollte Kontakt, und er auch."
Statt eine Versöhnungsgeschichte zu entwickeln, arbeitet der Text fragmentarisch. Er umkreist die Geschehnisse nicht linear: Die Erinnerungen an die in den Türmen gestorbenen Freunde gehören genauso dazu wie die an Liannes Vater, der sich vor 15 Jahren aus Angst vor Altersdemenz umgebracht hat. Heute leitet Lianne eine Schreibgruppe für Alzheimerpatienten. Von den Begegnungen der orientierungslosen Menschen in New York ist nicht klar, wohin sie führen. "Ich weiß, dass das Leben keinen Sinn ergibt. Ich meine, was in diesem Land ergibt schon Sinn?" fragt Lianne. Das gilt für das Wiedersehen von Keith und Lianne genauso wie für Keiths Bekanntschaft mit Florence, einer Überlebenden aus den Türmen, deren Koffer er zufällig rettete. "Du fragst dich, welche Geschichte an der Aktentasche dranhängt. Ich bin die Geschichte." Nur knapp setzt sich der Text über die allgemeine Sprachnot hinweg. Immer wieder wird betont, dass Worte ihre Gültigkeit verloren haben. "Ich lief über die Brücke, weil sie über die Brücke liefen" sagt Keith. "Es klang nach einer Sprachbehinderung, die Wörter waren erstickt und verwischt", kommentiert DeLillo.
Und so ist es auch zunächst ein Bild, dass die Katastrophe nachstellt und dem Buch den Titel gibt: Der "Falling Man", ein Performance-Künstler, der sich unerwartet an verschiedenen Orten Manhattans immer wieder kopfüber an Seilen vor den Häuserfassaden aufhängt als befände er sich im freien Fall. Eine Erinnerung daran, dass viele Opfer einen selbstmörderischen Sprung aus dem Fenster dem sicheren Flammentod vorzogen.
Wie sich Sprache gegenüber den Bildern und vor allem den Medienbildern behaupten kann, ist eine Frage an den Roman selbst. Was DeLillo über die Teilnehmer von Liannes Alzheimer-Schreibgruppe sagt, kann man auch als Programm für den Roman verstehen: "Es gab ... Momente von Hochstimmung ..., wenn sie auf die glücklichen Kreuzungspunkte von Einsicht und Erinnerung stießen, die der Akt des Schreibens ermöglicht." Und obwohl längst nicht alle Szenen überzeugen (die Beschreibungen der Attentäter bei ihrer Vorbereitung in Hamburg wirken banal und deplaziert), gelingt DeLillo eine literarische Bearbeitung der Post-9-11-Befindlichkeit auf eine Weise, die die ganze Hilflosigkeit gegenüber den Ereignissen ausstellt. So ist es gerade die Verweigerung der großen Interpretation, mit der DeLillo die bisher beste Erzählung über den 11. September geglückt ist.
Und in der Schlusspassage schafft er es sogar, jenen Moment zur Sprache zu bringen, um den der Roman, die ganze Zeit kreist: Keiths Flucht aus den brennenden Türmen, kurz vor dem Einsturz. Und was DeLillo hier macht, ist schlichtweg atemberaubend, so realistisch und präzise ist die Beschreibung des Infernos. Es trifft die Lesenden, wie kein Fernsehbild es vermag.
Don DeLillo: Falling Man. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer Köln 2007, 304 S., 19,90 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.