Niedere Motive

Pop Der Eurovision Song Contest wird 60. Einige Richtigstellungen zur erfolgreichsten Fernsehshow der Welt
Ausgabe 21/2015
Monika Linkytė und Vaidas Baumila singen „This Time“ für Litauen in Wien
Monika Linkytė und Vaidas Baumila singen „This Time“ für Litauen in Wien

Foto: Eibner/Imago

1. Ist der ESC so unpolitisch, wie er gerne wäre?

Zum Selbstverständnis des ESC gehört es, dass er unpolitisch ist. Das heiβt, die European Broadcasting Union (EBU), als Dachverband der europäischen öffentlich-rechtlichen Sender für die Ausrichtung verantwortlich, bezieht in politischen Konflikten keine Stellung und schreibt vor, dass die Bühne nicht zum Schauplatz politischer Meinungsäußerungen gemacht werden darf. Aber wenn 40 europäische Nationen beim Singen gegeneinander antreten, kommt dieses Konzept in der Praxis schnell an seine Grenzen. Nach der Annexion der Krim und der militärischen Unterstützung russischer Separatisten auf dem Gebiet der Ukraine wurde Russlands Beitrag im vergangenen Jahr vom Publikum in der Halle in Kopenhagen lauthals ausgebuht. Der Libanon und Marokko, die auch zur EBU gehören, nehmen nicht teil, solange Israel mitmacht. Großbritannien schrieb 2003 seine null Punkte nicht der misslungenen Performance von Cry Baby zu, sondern dem britischen Engagement im Irakkrieg an der Seite der USA, das im Rest Europas auf wenig Gegenliebe stieß. Armenien schickt dieses Jahr die Gruppe Genealogy mit dem Beitrag Face the shadow ins Rennen. Der Song wird als Kommentar zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern verstanden. Das Lied ist aber so allgemein gehalten, dass man das nicht erkennen muss, und die armenische Regierung verzichtet bewusst auf eine Stellungnahme.

2. Wie peinlich muss uns der ESC eigentlich sein?

Qualität ist beim ESC keine verlässliche Größe. Auf das beim Pop-Konsum so entscheidende Distinktionsmerkmal Stil ist hier kein Verlass. So hat der Wettbewerb den Ruf, eine exotischere Variante des Musikantenstadl mit einigen kuriosen Überraschungen zu sein, und kein cooles Pop-konzert mit Stars zur Identifikation. Traditionell ist Pop keine Erfahrung, die man zusammen mit den Eltern und Geschwistern am Samstagabend vor dem Fernseher teilen will. Allerdings hat sich der Charakter durch den Eventcharakter der Show mit zwei Halbfinalen und dem Televoting seit den Nullerjahren stark verändert. Heute gibt es kaum noch angestaubte Schlager im Programm. Zwar ist der ESC nur selten Pop-Avantgarde, aber doch oft ordentlicher Pop-Standard. Von einem jüngeren Publikum wird der Wettbewerb heute beim Public Viewing als eine Variante von Castingshows wie The Voice of Germany oder Deutschland sucht den Superstar wahrgenommen. Stefan Raab hat das verstanden. ESC-Sieger müssen in der Regel unter 25 sein, wie Lena, Emmelie de Forest oder Alexander Rybak.

3. Ist der ESC nur noch was für Homosexuelle?

Mit dem Sieg der Transsexuellen Dana International für Israel 1998 hatte der ESC sein offizielles Coming-out als queere Veranstaltung. Ist der ESC also ein mit europäischen Steuergeldern finanzierter CSD? Es stimmt: Die treusten Fans des ESC sind schwule Männer, für die das Pop-Spektakel oft seit der Kindheit eine utopische Gegenwelt zur heteronormativen Einöde des familiären Alltags war. Heute sind viele von ihnen professionell mit dem ESC verbunden: als Organisatoren, Journalisten oder ESC-Forscher. Man muss nur einmal während des Events das Pressezentrum betreten: gefühlte 90 Prozent schwule Männer. Und seit den Nullerjahren treten auch regelmäßig Acts auf, die deutlich auf ein queeres Publikum zugeschnitten sind. Vom zynisch-kalkulierten Pseudo-Lesben-Duo t.A.T.u. bis zur glamourösen Transgender-Ikone Conchita Wurst. Aber wie auch sonst in der Mainstreamkultur überblendet die mediale Aufmerksamkeit für die queeren Momente der Show dabei eine andere Realität. Denn gleichzeitig ist der ESC mit seinem männlich-weiblichen Moderatorenpaar und seinen rund 200 Millionen Zuschauern vor den Fernsehern auch eine sehr heterosexuelle Massenveranstaltung.

4. Wo ist die sagenhafte Balkan-Mafia geblieben?

Vor allem im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dominierte Osteuropa den ESC. Estland, Lettland, die Ukraine, Serbien und Russland gehörten zu den Siegern. Beim ESC 2007 in Helsinki schaffte es kein einziges westeuropäisches Land mehr in die Top Ten. Es war von der „Balkan-Mafia“ die Rede: Punkte würden sich aufgrund politischer Sympathien und nicht etwa wegen der Qualität der Songs zugeschustert. Westeuropa wäre über solche niederen Beweggründe natürlich erhaben. Mit dieser Interpretation werden zwei entscheidende Aspekte übersehen: Osteuropäische Nachbarstaaten haben auch musikalische Gemeinsamkeiten. Nur weil ein Song für westeuropäische Ohren fremd klingen mag, heißt das noch lange nicht, dass andere hier trotz der Musik für ein Land gestimmt haben. Außerdem: Nachbarschaftsvoting hat es beim ESC immer schon gegeben - Irland und Großbritannien oder die skandinavischen Länder stimmen traditionell füreinander. Um gegen solche „Wettbewerbsverzerrungen“ anzugehen, hat die EBU 2009 die Regeln geändert: Die dem Televoting unterstellten Tendenzen sollten durch weniger parteiische Jurys neutralisiert werden, die jetzt 50 Prozent der Stimmen eines jeden Landes ausmachen. Die Osteuropa-Dominanz ist seitdem durchbrochen. Aber liegt das wirklich an den Jurys? Vielleicht hat nach den ersten Jahren auch die Eurovisions-euphorie unserer Nachbarn im Osten nachgelassen, und sie schicken nicht mehr so gute Lieder ins Rennen.

5. Warum haben es heute größere Länder schwerer?

Frankreich gehörte zu den Ländern, die den ESC in den 60er und 70er Jahren beherrschten, Großbritannien war bis in in die 90er sehr erfolgreich. Auch Westdeutschland zählte zu den Ländern, die oft gut abschnitten. Doch die alten großen Grand-Prix-Nationen haben es heute schwerer. Großbritannien siegte zuletzt 1997, Frankreich sogar 1977. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens die Osterweiterung des ESC mit mehr Teilnehmern, anderen musikalischen Vorlieben und anderen Sympathien beim Voting. Zweitens dürfen nun alle auf Englisch singen, so hat Großbritannien seinen Sprachvorteil verloren. Drittens ist es umgekehrt so, dass wer sich weigert, auf Englisch zu singen, weil die eigene Nationalsprache noch für bedeutend gehalten wird, so wie in Frankreich oder Spanien, dafür meist abgestraft wird. Deutschland zeigt sich hier anpassungsfähiger. Damit die größeren Länder nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wurde die sogenannte Big-Five-Regel erfunden. Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Großbritannien – und damit auch die größten Geldgeber des ESC – sind automatisch fürs Finale qualifiziert. Ob das beim Abstimmungsverhalten der Zuschauer ein Vor- oder ein Nachteil ist, bleibt unklar.

6. Schweden ist das neue Irland, stimmt das?

Mit insgesamt sieben Siegen, zwei von Johnny Logan (What’s another year 1980, Hold me now 1987) und ein dritter Siegertitel von ihm geschrieben (Linda Martins Why Me? 1992), führt Irland noch immer die Hitliste der erfolgreichsten Länder beim ESC an. Aber seit den späten Nullerjahren tun sich die Iren schwer. Die besseren Balladen kommen heute aus Aserbaidschan oder Norwegen (gesungen auf Englisch). Rückblickend lässt sich sagen, dass Skandinavien als Gewinner aus diesem Ost-West-Konflikt hervorging. Nirgendwo sonst wird der Song Contest so vorbehaltlos gefeiert wie in Norwegen, Dänemark und Schweden. Das macht sich in der Qualität der Songs bemerkbar. Als erstklassige europäische Pop-Nation hat sich vor allem Schweden etabliert. Mit bisher insgesamt fünf Siegen, dem letzten 2012, und mit Måns Zelmerlöw in diesem Jahr schon wieder als Favoriten der Wettbüros sind die Schweden dabei, kräftig aufzuholen. Der Erfolg des Schweden-Pops spiegelt den Musikmarkt außerhalb des ESC wider. Auch Lady Gaga und Madonna bestellen ihre Lieder bei schwedischen Produzenten.

7. Gewinnt Deutschland nur, wenn eine Frau singt?

Deutschland gewann bisher tatsächlich nur, wenn eine Frau unter 20 als Interpretin antrat: die 17-jährige Nicole 1982 und die 19-jährige Lena 2010. Nur wenn Deutschland von einem Bild weiblicher Unschuld repräsentiert wurde, war Europa offenbar bisher bereit, Sympathien zu bekunden.

8. Warum der ESC nicht überflüssig ist

Nein, allem Medienhype zum Trotz: Der Eurovision Song Contest ist einer der wenigen Anlässe, an denen Europa, das oft für die Abstraktheit seiner Administration in Brüssel und Straßburg kritisiert wird, für einen Abend lang die Gemüter bewegt und die Bürger affektiv erreicht: Beim ESC können wir erleben, wie Europa aussieht und wie es sich anfühlt.

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