Meinung Ist Israels Song zu politisch, um beim ESC zugelassen zu werden? Peter Rehberg erläutert, was es mit dem Neutralitätsgebot der European Broadcasting Association auf sich hat und warum „October Rain“ in Malmö eine Bühne bekommen sollte
Eden Golans Song „October Rain“ steht beim Eurovision Song Contest (ESC) zur Debatte
Foto: Okras/Wiki Commons
Der Song ist noch nicht einmal veröffentlicht, bisher gibt es nur den Titel October Rain und die Textzeilen dazu. Die 20jährige Sängerin Eden Golan sollte Israel im Mai mit diesem Lied beim Eurovision Song Contest (ESC) in Malmö vertreten. Aber schon jetzt ist der israelische Beitrag zum Gegenstand heftiger Diskussionen geworden. Nach den Regeln der EBU (European Broadcasting Union), dem Veranstalter des Song Contest, darf ein Lied, das ins Rennen geschickt wird, keine politische Botschaft enthalten.
Was heißt hier „politische Botschaft“? Hatte Nicoles Ein bisschen Frieden 1982, zu Hochzeiten der westdeutschen Friedensbewegung mit ihrem Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss, eine politische Botschaft oder griff es eher diffus eine Stimmung auf? Gemeint
#8220;? Hatte Nicoles Ein bisschen Frieden 1982, zu Hochzeiten der westdeutschen Friedensbewegung mit ihrem Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss, eine politische Botschaft oder griff es eher diffus eine Stimmung auf? Gemeint ist wahrscheinlich vor allem, dass in den ESC-Beiträgen kein nachweislich politisches Interesse zum Ausdruck kommen darf, das sich möglicherweise auch noch gegen eines der anderen teilnehmenden Länder richten würde. Schließlich wurde der ESC in den 1950er Jahren als ein europäisches Friedensprojekt ins Leben gerufen, das dabei helfen sollte, aus den ehemaligen Feinden nun Partner zu machen. Dem ESC-Pop, oftmals belächelt für seine musikalische Dürftigkeit, sollte politische Neutralität verordnet werden. Diese Forderung der EBU ist genauso notwendig wie auch unmöglich zu erfüllen.Der ESC, die EBU und das fragile Gebäude EuropaWie die Europäische Union würde der ESC in Schwierigkeiten geraten, wenn Mitglieder über ihre Song-Botschaften aufeinander losgingen, insofern ist die Forderung „unpolitisch“ zu sein nicht ganz falsch. In einer politischen Gemeinschaft wie der EU stehen ja auch Instrumente zur Verfügung, um Interessenskonflikte zwischen den Mitgliedsstaaten zu schlichten oder im Fall der Missachtung von Regeln Sanktionen auszusprechen. In der Geschichte der EU wie auch in der Geschichte des ESC gibt es nun allerdings Konflikte, die man sich bei ihrer Gründung noch nicht vorstellen konnte. Auch deshalb zögern EU wie EBU oftmals mit härteren Sanktionen und wollen das fragile Gebäude Europa nicht schwächen.Eine Reaktion auf einen politischen oder militärischen Konflikt erfolgt beim ESC deswegen seltener von oben, sondern hauptsächlich über das Abstimmungsverhalten der Zuschauenden. Auch wenn hier keine belastbaren Daten zur Verfügung stehen, lässt sich spekulieren, dass Großbritannien zum Beispiel in den frühen 2000ern für seine aktive Teilnahme am Irak-Krieg – Europa war damals mehrheitlich dagegen – abgestraft worden ist. Allerdings war der UK-Song von 2003, Jeminis Cry Baby, der damals mit 0 Punkten auf dem letzten Platz landete, auch wirklich schlecht. Am deutlichsten hat sich das politische Voting bisher gegenüber der Ukraine gezeigt. Die Solidaritätsbekundungen des europäischen Fernsehpublikums haben im Mai 2022, drei Monate nach Kriegsausbruch, dem ukrainischen Beitrag Stefania von Kalush Orchestra den Sieg beim ESC beschert. Sonst hätte höchstwahrscheinlich der zweitplatzierte Sam Ryder für UK gewonnen.Es braucht also gar keinen expliziten Hinweis auf politische Ereignisse, damit ein Beitrag beim ESC eine politische Bedeutung gewinnt. Nationalstaaten, die beim Wettbewerb durch einen Popsong vertreten werden, sind nun einmal politische Gebilde und in ein aktuelles Zeitgeschehen involviert. Insofern ist der ESC immer politisch. Nicht zuletzt wird das bestätigt, wenn ganz unabhängig von einem einzelnen Beitrag ein Land vom Wettbewerb ausgeschlossen wird. Nach kurzem Zögern waren sich die Vertreter der EBU vor zwei Jahren einig, dass Russland nach dem Überfall auf die Ukraine nicht länger am Wettbewerb teilnehmen darf, und verwiesen auf die Werte der EBU. Eine Entscheidung, die immer noch gilt.Ist es Ausdruck einen Doppelmoral, dass Russland sanktioniert wird?Israels Selbstverteidigung, der militärische Einsatz in Gaza nach dem Überfall der Hamas-Terroristen am 7. Oktober, der Ermordung von über 1.200 Israelis, den noch immer mehr als 130 israelischen Geiseln in der Gewalt der Hamas und die mehr als 30.000 Todesopfern auf palästinensischer Seite – von einigen Vertretern der europäischen Popmusik-Szene ist das ähnlich bewertet worden wie Russlands Überfall auf die Ukraine – trotz der Komplexität der Situation und meist unter Ausblendung der israelischen Opfer. Schwedische Popstars, darunter die Sängerin Robyn, haben in einem Brief Israel der Kriegsverbrechen beschuldigt. In Norwegen und Dänemark, wo der ESC ebenfalls ausgesprochen populär ist, haben MusikerInnen ähnliche Briefe verfasst. In Finnland haben über 1.400 MusikerInnen gegen die Fernsehanstalt ihres Landes protestiert, die bisher kein Problem in der diesjährigen Teilnahme Israels sieht. Es wäre Ausdruck einer Doppelmoral, wenn Russland wegen des Überfalls auf die Ukraine sanktioniert würde und Israel mit seiner Kriegsführung in Gaza mit keinen Konsequenzen zu rechnen hätte.Auf der anderen Seite gibt es inzwischen einen Brief der Israels ESC-Teilnahme unterstützt, zu den über 400 UnterzeichnerInnen gehören Oscar-Preisträgerin Helen Mirren und Sänger Boy George. Bashar Murad, palästinensischer Singer-Songwriter und Teilnehmer des diesjährigen Vorentscheids in Island mit guten Chancen das Land in Malmö zu vertreten, hat wiederum bekannt gegeben, im Falle einer israelischen Teilnahme den Contest zu boykottieren. Obwohl sein diesjähriger Beitrag Wild West noch gar nicht ausgewählt wurde, hat die Aussicht darauf Island bereits sehr gute Wettquoten für den diesjährigen Contest in Malmö beschert.Die Entscheidung muss in wenigen Tagen fallenDen Stimmen, die aufgrund des Kriegs im Nahen Osten in BDS-Manier einen Boykott Israels fordern, schließt sich die European Broadcasting Union nicht an, wie sie in einem Statement Mitte Februar verlautbaren ließ. Sie beruft sich weiterhin darauf, dass der Songtext selbst der Anhaltspunkt sein soll, um über eine Teilnahme zu entscheiden – wohlwissend, dass das in dem aufgeheizten Klima auch eine Stellvertreter-Diskussion ist. Tatsächlich ist die EBU eben gerade dabei, den Songtext des israelischen Beitrags einer Prüfung zu unterziehen. So hat der Eurovision-Blog WiWiBlogs mit Berufung auf die israelische Tageszeitung ynet gemeldet, dass die EBU eine Disqualifizierung von October Rain ernsthaft in Betracht zieht oder sogar schon darüber entschieden habe. Anscheinend wurde auch ein alternatives Lied für Eden Golan, Dancing Forever, bereits abgelehnt, so hieß es jetzt am Mittwoch. Eine offizielle Stellungnahme dazu blieb bisher jedoch sowohl von Seiten Israels als auch der EBU aus – vielleicht hofft man noch beiderseitig eine Einigung zu finden. Bis Anfang März müssen die Songs für den diesjährigen Wettbewerb eingereicht werden, in wenigen Tagen muss also die Entscheidung fallen.Sollte „October Rain“ also zum ESC geschickt werden?Was die Deutlichkeit der politischen Botschaft angeht, könnte man October Rain auch mit dem Song 1944 vergleichen, mit dem die Sängerin Jamala – kurz nach der russischen Besetzung der Krim-Halbinsel – 2016 die Ukraine vertrat. Jamala singt darin über die Vertreibung der Krim-Tataren durch Stalins Truppen und das, durch die Jahreszahl im Titel, ziemlich explizit. Russland nahm damals noch am ESC teil und die Ukraine gewann den Contest. Die EBU hatte damals kein Problem damit.Wie immer die EBU letzten Endes entscheidet, es bleibt die Frage, ob der Song October Rain zum ESC geschickt werden sollte. Es lohnt sich die Frage nach der „politischen Message“ noch einmal genauer zu stellen: Gehen wir davon aus, dass mit October Rain die von der Hamas ermordeten Menschen betrauert werden sollen. In eine politische Diskussion über die Ursachen und Mittel zur Bekämpfung des Hamas-Terrors ist man damit noch nicht eingestiegen.Im Mittelpunkt von October Rain steht die Trauer, die Stimmung im Land. Sollte diese Affektlage der Israeli beim Song Contest tabuisiert werden, weil sie sich in einem politischen Kontext ereignet? Und dieses Ereignis wiederum zwangsläufig im Rahmen des ESC politisiert wird? Politische Reaktionen werden dieses Jahr ohnehin den Contest bestimmen, egal ob Israel mitmacht und mit welchem Lied. Israel will die europäische Bühne des ESC dieses Jahr dafür nutzen, die Opfer des Hamas-Angriffs zu betrauern. Eine Möglichkeit, die bei vielen Kulturveranstaltungen zu kurz kommt. Der ESC in Malmö sollte ihnen diese Möglichkeit geben.
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