Peter Müller muss eigentlich nichts fürchten. Er hat mit der CDU vor vier Monaten die Landtagswahl im Saarland gewonnen, ist Ministerpräsident geworden und gegenwärtig dabei, wenig bedrängt von der in der Oppositionsrolle noch ziemlich ungeübten SPD der Regierungsarbeit eigenes Profil zu geben. Müller aber schweigt weitgehend zum Spendenskandal seiner Partei - und das, obwohl er in seiner Zeit als "junger Wilder" nie die Anekdote dementierte, wegen der Flick-Affäre sei er in den 80er Jahren für einen Tag aus der CDU ausgetreten. Günther Oettinger, als Fraktionschef der Christdemokraten im CDU/FDP-regierten Baden-Württemberg ebenfalls in gesicherter Position, sagt auch nur leise, "die bedeutsamste Persönlichkeit der deutschen Zeitgeschichte" wäre nach wie vor ein wichtiger Ratgeber, "sollte aber nicht mehr - direkt oder indirekt - in der aktiven politischen Arbeit prägend sein". Oettinger hatte 1988 lauter gesprochen; damals forderte er Helmut Kohl wegen "Führungs schwäche" zum Rücktritt auf. Oder Christian Wulff, der sich erst vor drei Jahren mit dem damaligen Bundeskanzler so heftig anlegte, dass dieser ihn bezichtigte, sich "außerhalb der Kameradschaft" gestellt zu haben. Wulff, heute stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender und unangefochtener Landeschef in Niedersachsen, achtet dieser Tage sorgfältig darauf, nur ja nicht vorzupreschen, sondern exakt in den Fußstapfen von Generalsekretärin Angela Merkel zu bleiben: "Wir müssen aufklären, ohne die Person zu beschädigen."
Die "jungen Wilden" der CDU, die ihren unverdienten Ruf daraus bezogen, dass sie irgendwann einmal - und meist nur einmal - Helmut Kohl widersprochen hatten, lassen sich heute an Milde kaum übertreffen. Statt schonungsloser Offenheit und reinigender Konsequenz predigen sie Vorsicht, Ausgewogenheit, gar Solidarität. "Man kann sich von seinen Eltern nicht distanzieren!" - dieses für den inneren Zustand der CDU bemerkenswerte Wort von Jürgen Rüttgers, des seit letztem Wochenende neuen Hoffnungsträgers der "Kohlianer", ist für sie noch immer Gesetz. Kohl hatte es einst negativ ausgedrückt, als er warnte: "Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen." Wer will sich das schon nachsagen lassen?
25 Jahre hat Helmut Kohl die CDU geführt und tatsächlich geprägt wie ein Familienoberhaupt. Er hat gelobt und gestraft, Gunst gewährt und versagt, Wege geebnet und verbaut. Das Wort des Vaters, des Patrons, des Paten war Gesetz. Verstöße wurden geahndet, Einsichtigen aber gönnerhaft verziehen. Bald begriff jeder, man kam voran nur mit Kohl, nie gegen ihn. Alle, die in der CDU etwas wurden, haben dies auch dem heutigen Ehrenvorsitzenden zu verdanken. Ihre Folgsamkeit war der Preis für die Karriere. So wurde eine ganze Partei zum Gehorchen erzogen. Zum Mitmachen, auch wenn man anderer Meinung war. Zum Sich-ducken. Rita Süssmuth brachte es kürzlich auf den Punkt: "Seit dem Regierungswechsel kann ich sagen, was ich denke."
Und dennoch: Die wenigsten tun es. Die nächste Generation, die "Kinder" wohl vor allem deshalb nicht, weil sie sich selbst in das "System Kohl" so sehr verstrickt haben, dass sie kaum glaubwürdig aus ihm heraus kommen. Niemand glaubt, dass Schäuble und Rühe, Rüttgers und Teufel so wenig von den Praktiken ihres Chefs wussten, wie sie bisher vorgeben. Aber auch die "Enkel" sind schon nicht mehr im Zustand der Unschuld. Sie wissen und sagen es auch: "Wir verdanken ihm alle unsere Jobs, wir sind alle von ihm abhängig." Fast keiner kann sich eine CDU ohne Helmut Kohl vorstellen. Und fast alle fürchten weiter seine gespenstische Macht, die sie immer wieder zu spüren bekamen. Noch heute bleiben Kritiker des Ex-Kanzlers lieber anonym. Die Entmündigung einer Partei auf "demokratischem" Wege - hier kann sie besichtigt werden. Und mehr noch - auch die Manipulierung einer Anhängerschaft durch Machtpolitik, die Formierung großer Teile einer Gesellschaft ohne direkte Gewaltandrohung. Die Folgen haben nun jene zu tragen, die sich dem Regiment des Bosses allzu willig unterwarfen. Und wer sich doch anschickt, vorsichtig aus dem dunklen Schatten des Übervaters zu treten, findet bei einer zutiefst verunsicherten Basis wenig Verständnis. Nur jeder zweite Deutsche würde Kohls Rückzug aus der Politik begrüßen, von den CDU-Anhängern wollen ihn gar 60 Prozent weiter in der Politik sehen. Kohl, der so geschickt Stimmungen zu nutzen weiß, sieht darin seine Chance. "Meine Truppen stehen", soll er gesagt haben. Da ist es kein Wunder, wenn selbst eine Binsenweisheit wie die Feststellung, die Ära Kohl sei seit der Wahlniederlage im September 1998 vorbei, in der CDU ein mittleres Erdbeben auslöst.
So üben sich die "jungen Wilden" in der Echternacher Springprozession: drei Schritte vor, zwei zurück. Zu Hasenfüßen erzogen, scheuen sie nicht nur die Trennung von Kohl, sondern auch die Distanz zu dessen willigen Helfern in der alten wie neuen Parteiführung. Nützen wird das alles nur einem, der von München aus bereits aufmerksam die Szenerie betrachtet. Edmund Stoiber sieht mit verhaltener Genugtuung, wie seine Rivalen an der Spitze der CDU an den Spätfolgen des "Systems Kohl" irreversiblen Schaden nehmen; er baut zugleich längerfristig auf die "Enkel", wenn es um die Wiederaufrichtung der Schwesterpartei geht. Schon lange unterhält er zu den 30- und 40-Jährigen gute Kontakte, ist bei diesen auch wohl gelitten. Für seine Kanzlerschaftsambitionen können sie ihm noch nicht gefährlich werden, aber für die Mobilisierung der CDU in kommenden Wahlkämpfen braucht er sie; und zwar so, wie sie sind: autoritätsgläubig, pflegeleicht, anpassungsfähig. Nur den Gott müssen sie wechseln. Stoiber kann wohl optimistisch sein.
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