Großbritannien Anfang der 80er. It was the best of times, it was the worst of times, könnte man Charles Dickens zitieren. Das Jahrzehnt beginnt mit einer tiefen Rezession, aus der das Land nur langsam emporklettert; der Patriotismus hingegen blüht. The Specials singen in Ghost Town von einer schaurigen urbanen Dystopie, während ein neues Automodell von British Leyland Begeisterungsstürme auslöst. In Liverpool und Südlondon kommt es zu schweren Krawallen zwischen der Polizei und der afrokaribischen Minderheit. Und während die Geldhäuser in der City of London zu einem exemplarischen Boom ansetzen, driftet die Schwerindustrie in einen Zustand der Agonie.
Es sind Jahre, die das Land bis heute prägen. Wer nach den tieferen Gründen sucht, weshalb am 23. Juni 2016 über 17 Millionen Briten für den Ausstieg aus der EU stimmten, wird in dieser Zeit fündig, als das Misstrauen gegenüber dem Londoner Establishment zu wachsen beginnt und die Deindustrialisierung unumkehrbar wird.
Kevin Horne blickt über das Feld, durch das er vor über 30 Jahren lief. „Das sah damals so anders aus.“ Der flache Hügel, ein paar Kilometer östlich der nordenglischen Stadt Sheffield gelegen, liegt nass und trist vor ihm, tief hängen die Regenwolken am Himmel. Wir gehen den Schotterweg entlang, der die Wiese durchquert. Horne ist 67, seine kurz geschorenen Haare sind an der Seite grau. Er ist groß und kräftig, spricht aber mit leiser Stimme. An jenem Tag vor 33 Jahren war er wie jeden Morgen mit Freunden zur Kokerei von Orgreave gefahren, um sich Tausenden von Bergleuten anzuschließen. Sie wollten Zechen zum Stillstand bringen, um deren Überleben zu sichern und damit den Lebensunterhalt so vieler Familien.
South Yorkshire war damals eines der bedeutendsten Zentren der britischen Schwerindustrie. Im Don Valley zwischen Sheffield und Rotherham reihten sich die Fabriken aneinander, in denen Walzstahl, Waggons und Schienen hergestellt wurden. Noch in den 60er Jahren lebte die Region vom Stahl und von den umliegenden Bergwerken, mit deren Koks die Hochöfen auf 1.500 Grad erhitzt wurden, um Eisenerz zum Schmelzen zu bringen.
Horne verlässt die Schule mit 15 und fährt in den Schacht wie sein Vater. Harte Arbeit, enge Communities, unbedingte Solidarität, so beschreibt Horne das Leben der Miners. Im fernen Westminster hat Margaret Thatcher mit harter Arbeit kein Problem, aber Solidarität ist der Premierministerin fremd. Nach ihrem Wahlsieg 1979 gibt sie zu verstehen, der Sozialstaat sei ein nicht mehr zeitgemäßer Luxus. Auf die Bergarbeiter hat Thatcher ein besonders scharfes Auge gerichtet, sie bilden mit ihrer Gewerkschaft, der National Union of Mineworkers (NUM), das Rückgrat der britischen Arbeiterschaft. 1984 fühlt sich die Regierung stark genug für eine Konfrontation.
Im März kündigt das National Coal Board an, ein paar Dutzend Bergwerke schließen zu wollen. 20.000 Männer würden ihren Job verlieren. Die Bergarbeiter der Cortonwood Colliery in Yorkshire legen als Erste die Arbeit nieder, Kumpels anderswo schließen sich an, bald ruft NUM-Präsident Arthur Scargill einen landesweiten Streik aus. So beginnt ein Arbeitskampf, der das Land für Monate in Atem hält.
Kevin Horne ist dabei, als Bergarbeiter die Kokerei von Orgreave blockieren. Der Koks wird normalerweise auf der Schiene in die Stahlwerke von Scunthorpe befördert, aber da die Zugführer aus Solidarität mit den Bergleuten die Arbeit verweigern, organisiert das National Coal Board Lkw-Fahrer als Streikbrecher. Jeden Morgen stellen sich tausende Streikposten vor die Kokerei und verbarrikadieren die Eingänge, während die Polizei versucht, den Weg für die Trucks frei zu machen. Tag für Tag wiederholt sich das Gerangel – bis zum 18. Juni 1984.
Horne erzählt, als er an diesem Tag in Orgreave ankam, den Hügel hinaufstieg und auf das Feld unter ihm blickte, verschlug es ihm den Atem. „Ich sah tausende Polizisten, die auf und ab marschierten. Es sah aus wie eine Armee. Ich war nah dran umzukehren, ging aber weiter.“ Kurz darauf kommt es zur ersten Konfrontation mit der Polizei. Horne steht in der ersten Reihe. Jemand schubst ihn von hinten – er glaubt, es sei ein Polizist in Zivil gewesen, der sich unter die Bergarbeiter gemischt hat. Er fällt nach vorn, direkt in die Hände der Polizei, die ihn prompt verhaftet. Er hat Glück, einen ganzen Tag verbringt er in einem Polizeiwagen, wo es zwar heiß und unbequem ist, aber viel ungefährlicher als rings um die Kokerei.
Tony Munday, Polizist aus der Grafschaft Heartfordshire, erinnert sich. „Auf einmal prasselten Steine und Flaschen wie ein Sperrfeuer auf unsere Einheit. Es war verdammt gefährlich, ich fühlte mich wie in einer Kegelbahn und dachte: Wieso tut niemand was? In diesem Moment wurde befohlen: Zur Seite! Durch die offenen Reihen der Polizisten preschten zwei Dutzend berittene Beamte mit langen Knüppeln. Wir jubelten alle, auch ich, weil wir dadurch außer Gefahr waren.“
Wie ein hoffnungslos unterlegener Haufen Fußsoldaten versuchen die Bergleute, dieser Kavallerie zu entkommen. Wer es nicht schafft, spürt die Härte der Schlagstöcke: an Armen, Schultern, am Kopf, im Gesicht. Manche stürzen und werden von der Polizei traktiert, als sie am Boden liegen. Andere werden weggeschleppt, indem man ihnen den Gummiknüppel wie einen Schraubstock um den Hals legt. Am Nachmittag hat sich die Zahl der Protestierenden stark gelichtet, nicht aber die Kampfeslust der Polizei, die mit ihren Knüppeln im Takt auf die Schutzschilde zu trommeln beginnt, als stehe ein mittelalterliches Heer vor der belagerten Stadt.
Als Kevin Horne am Abend in die Polizeiwache von Rotherham gebracht wird, trifft er verletzte Kollegen. „Einige hatten gebrochene Glieder, andere Wunden am Kopf. Erste Hilfe gab es erst nach Stunden. Wir nahmen unsere T-Shirts, um die Verletzten zu verbinden.“ Und die Polizei ist lange nicht fertig: Die Führungsriege der South Yorkshire Brigade will den Bergarbeitern nun auch noch die Schuld am Gewaltausbruch geben. Als der Beamte Tony Munday am Abend seinen Bericht verfasst, wird er aufgefordert, gewisse Formulierungen zu verwenden. „Mir wurde gesagt, das sei keine Bitte, sondern ein Befehl.“ Zu den Termini, die zu gebrauchen sind, zählt etwa: „Die Polizei traf auf Gruppen von Menschen, die gemeinsam gewalttätige Akte planten.“ Damit ist eine Straftat beschrieben, die damals in Großbritannien mit langer Haft geahndet wurde. Munday: „Das war das einzige Mal in meiner 34-jährigen Laufbahn, dass mir eine Aussage diktiert worden ist. Das war ungesetzlich.“ 95 Bergleute werden als Gewalttäter angeklagt. Während der Prozesse ein Jahr später verwickelt sich die Polizei aber in derartige Widersprüche, dass die Verfahren eingestellt werden, und die South Yorkshire Police sogar 425.000 Pfund Schadenersatz zu zahlen hat.
Tatsächlich zeigen im Jahr 2014 veröffentlichte Dokumente der Thatcher-Regierung, dass diese eng mit den Geheimdiensten kooperierte, um nach Möglichkeiten zu suchen, die Streiks von 1984 zu unterminieren. Es wurde gar erwogen, die Armee einzusetzen und den Notstand auszurufen.
Für die Bergleute war Orgreave der Anfang vom Ende. Auch wenn niemand ins Gefängnis musste – die Überlegenheit der Polizei und damit des Staates war für alle ersichtlich. Der Arbeitskampf dauerte zwar noch Monate, aber die Niederlage der Miners schien zunehmend unausweichlich. Sie wurde zum bestimmenden Ereignis und beschleunigte den Niedergang der englischen Industrie. Nach 1984 schloss ein Bergwerk nach dem anderen, Zehntausende verloren ihre Stelle und mussten sich in die Schlangen vor der Arbeitsvermittlung stellen. Thatchers Monetarismus beglückte die Geldhändler in London, die aus der Stärke des Pfunds Kapital schlagen konnten. Für die Industrie aber war dieser Kurs vernichtend. Die Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe gingen von 7,1 Millionen 1979 auf 4,4 Millionen Mitte der 90er zurück.
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