Viel Treibholz schwimmt durch diese Stadt

Kaliningrad und die EU Einer befürchteten Isolation begegnet die russische Exklave mit Zuversicht und Gleichmut

Kardamom und Rosmarin leuchten in prall gefüllten Plastiktütchen aus der Vitrine. Daneben sind - fünf oder zehn Gramm schwer und luftdicht verschlossen - Kurkuma, Kümmel und roter Pfeffer übereinander geschichtet. Russische Papierfahnen in weiß-blau-rot zeichnen Preise und Namen in kyrillischen Schriftzeichen aus: 15 bis 30 Rubel (50 Cent bis ein Euro) kosten an der Kaliningrader Uliza Cerniahovskogo die Gewürztäschchen, die aussehen wie verpackte Regenbögen. Jeden Tag stehen hier die beiden Händler aus Usbekistan mit ihrem fahrbaren Glaskasten am Ausgang der überdachten Markthalle, in der es Hack und Rind, Lachs und Hering zu kaufen gibt. "Wer da heraus kommt, braucht uns immer", lacht Boris Kurakin und entblößt ein vergoldetes Raubtiergebiss. An guten Tagen verdienen die Brüder bis zu 300 Rubel, etwa neun Euro.

Bruchstücke von Königsberg

Ein bescheidener Gewinn, der bezeugt, wie es um die Kaufkraft im Kaliningrader Gebiet bestellt ist. Mehr als zwölf Jahre nach Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 liegt die regionale Wirtschaft hier noch immer brach. Daran haben auch die "Ökonomische Sonderzone" Jantar (seit 1996) und die damit verbundene Öffnung für den Westen nicht viel geändert. Etwa die Hälfte der einmal vorhandenen Industrieanlagen ist stillgelegt, 80 Prozent aller Konsumgüter und fast der gesamte Energiebedarf werden importiert. In manchen Dörfern hat nur jeder fünfte Einwohner Arbeit, die Zahl obdach- und elternloser Kinder wächst bedrohlich. Das Durchschnittseinkommen liegt in Kaliningrad offiziell bei 4.450 Rubel (rund 120 Euro) - zumeist wird weit weniger verdient. Nach 35 Jahren Arbeit erhält beispielsweise die 67jährige Akademikerin Kira Dscheljadikowa eine Pension von 1.800 Rubel (52 Euro) - allein die Miete für ihre Ein-Zimmer-Wohnung an der Peripherie der Stadt, Telefon und Elektrizität verbrauchen ein Drittel davon.

Mit dem Eintritt der beiden Nachbarstaaten Polen und Litauen in die Europäische Union wird sich das Wohlstandsgefälle zwischen den beiden Ostseeländern und Kaliningrad eher noch vergrößern. Dennoch sorgt die EU auch für Hoffnung: "Sie wird eine politische und wirtschaftliche Öffnung unserer Region auslösen", glaubt André Malaschenko aus der Stadtverwaltung. Zwar werde man immer ein Teil der Russischen Förderation bleiben, meint der in Karelien geborene Sohn finnisch-russischer Eltern und erteilt damit diversen Separationsbestrebungen eine deutliche Absage, dennoch denkt er vorsichtig über eine "ausgewogenere Selbstverwaltung" nach. Die EU könne doch helfen, glaubt er, Kaliningrad als souveräne Region innerhalb der Russischen Föderation zu etablieren. "Wir Kaliningrader sind Europäer. Wir gehören zwar nicht zur EU, aber zu Europa."

Im Kaliningrader Gebiet, das vom Territorium her etwa der Größe Schleswig-Holsteins entspricht, leben derzeit 950.000 Menschen - Russen, Weißrussen, Usbeken, Kasachen, Aserbaidschaner, Ukrainer, Armenier, 97 Nationalitäten insgesamt. Ein klares Indiz für den Wandel in der Identität der Stadt, wie er in den vergangenen 60 Jahren stattgefunden hat. Rund 2,5 Millionen Deutsche lebten 1944 in ganz Ostpreußen - in der Kaliningrader Oblast, einem Drittel des Topos von einst, sind es heute noch 5.700.

"Im Ergebnis der Kriegskämpfe", schrieb der 1964 in Kaliningrad geborene Autor Alexander Papadin, "blieben von der Stadt nur der verkohlte Rumpf und die umfangreiche Geschichte übrig. Einige Bruchstücke von Königsberg schwimmen im Körper Kaliningrads, manche wachsen hinein, andere bleiben fremd wie ein Kugelstück im Menschenkörper."

Trotz der nahezu vollständigen Zerstörung der alten Königsberger Stadtkerns gegen Ende des Zweiten Weltkrieges schimmern noch Reste deutscher Geschichte durch das heutige Stadtbild. Rund um den Oberteich, in verwilderten Vorgärten erheben sich windschiefe Stadtvillen mit schrundigen Mauern und blätterndem Putz. Vor dem alten Mietshaus am Mira Prospekt im Zentrum ragt ein Hydrant empor, deutsches Fabrikat, hergestellt von der Vereinigten Armaturenfabrik Mannheim GmbH. Auf einem zugigen Plattenareal, von breiten Fahrbahnen umlärmt und von fahlgelben Wohnblöcken ummauert, verharrt klein und verloren die alte Stadthalle an ihrem Platz.

Auch wenn diese Baukultur keine russische sei, so sei sie doch in ihm russisch geworden, meint der Architekt und überzeugte Kaliningrader Jurij Sabuga. "Ich bin zwischen diesen alten Häusern aufgewachsen, sie sind Teil meiner Kindheit und gehören zu meiner Geschichte." Seine Vorstellung von einer mit sich und der eigenen Geschichte versöhnten Stadt zielt darauf, aus den überlieferten urbanen Mustern ein neues Straßenbild zu entwerfen. "Königsberg ist tot, Kaliningrad aber lebt."

Niemand hat Geld, alle überleben

Fragt man junge Leute, wo sie zu Hause seien, antworten sie: "Im König", Ausdruck der ironischen Distanz sowohl zu Lenins Wegbegleiter Michail Kalinin, nachdem die Stadt benannt wurde, als auch zum deutschen Königsberg. Viele von ihnen haben bereits Litauen und Polen bereist, noch nie jedoch das russische Mutterland. In den Cafés und Bars laufen europäische Filme, werden italienische Espressi und amerikanische Cocktails gereicht. Im Dolce Vita am Wassilja-Platz, Kaliningrads bekanntestem Edelrestaurant mit Kronleuchtern, Ledersesseln und vergoldeten Waschschüsseln, trifft sich die Haute Volée. Hier speisen Herren wie David Polowoj, Chefarzt des Kaliningrader Gebietskrankenhauses, der Reederei-Inhaber Alexander Dazyschin oder der Geschäftsführer der größten Baugesellschaft Megapolis, Jewgeni Morosow. Es gibt Baron Rothschild mit Pasta Sepia und wildgeschminkte Damen in blond. Ein Abendessen zu zweit kostet 2.000 Rubel und damit das monatliche Durchschnittseinkommen einer examinierten Krankenschwester.

Die wiederum muss zwei oder drei Jobs gleichzeitig versehen, um über die Runden zu kommen, erzählt Sergej Belantschuk, früher Chirurg, heute Dolmetscher und Reiseführer für Heimweh-Touristen aus Deutschland. "Das ist das russische Paradox: Niemand hat Geld, alle überleben."

Klaglos arbeitet Tatjana Jengevalowa aus dem Kreisstädtchen Njeman an der litauischen Grenze 16 Stunden am Tag: Morgens als Buchhalterin, abends als Ausbilderin für angehende Verkäuferrinnen mit 60 Rubel (knapp zwei Euro) pro Stunde. Wann sie leben würde? "Am Wochenende", sagt die junge Frau und verzieht dabei keine Miene.

Seit 1999 montieren die Bayerischen Motorenwerke (BMW) im Hafengebiet Limousinen für den russischen Markt. Etwa 300 Kaliningrader sind dort beschäftigt. "Wir produzieren die besten Autos, und darauf sind wir stolz", sagt Inspektor Oleg Babuschkin (29), studierter Schiffbauingenieur und im Kaliningrader Werk für das Qualitätsmanagement zuständig. Auch wenn es sich um ein deutsches Fabrikat handele, "so steht doch am Motor: Made in Russia." Für ähnliche Genugtuung sorgt auch der Windpark in Kulikowa: Seit Sommer 2002 drehen sich im Norden der Stadt nahe des Ostseebades Swetlogorsk 21 Windkrafträder. Mit den erzeugten 5,1 Megawatt wird ein Prozent des Kaliningrader Energiebedarfs bestritten, doch ist diese Energie dem größten Windpark Russlands zu verdanken.

Und in Rybachy (Rossitten), in der ältesten Vogelstation der Welt auf der Kurischen Nehrung, versuchen sich die Ornithologen seit Neuestem an modernen Touristikkonzepten, motiviert durch die im Vorgriff auf die EU-Mitgliedschaft Polens erleichterten Visa-Bestimmungen, die seit Oktober 2003 dazu führen, dass man die polnisch-russische Grenze bei Mamanowo nunmehr in einer statt zwölf Stunden passiert.


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