Der Raum der Einsiedler

US-Mythos Alec Soth gehört zu den wichtigsten Fotokünstlern der Gegenwart. In seiner Serie „Broken Manual“ widmet er sich einem uramerikanischen Mythos – den Aussteigern

Respekt vor den Menschen, alte Kameratechnik, klassischer Bildaufbau: Alec Soths Fotografien kommen vielschichtig und alles andere als aufgesetzt daher. Der 1969 in Minneapolis am Mississippi geborene Künstler sucht nicht nach dem einen perfekten Bild, sondern nach Träumen, Stimmungen und Widersprüchen. Er versucht, die Zerrissenheit der Gesellschaft zu verstehen, indem er Bilder macht.

Soth selbst scheint als Mitglied der legendären Fotokooperative Magnum und Künstler der einflussreichen Galerie Larry Gagosian zwei widersprüchliche Welten in sich zu vereinen: die sozialkritische Bildreportage und den glamourösen Kunstmarkt. Bereits kurz nach seinem Malerei-Studium wusste er, dass sein eigentlicher Arbeitsplatz die Welt und nicht so sehr das Studio sein würde. Seitdem fotografiert er.

Präziser Blick für Details

Seine Bilder faszinieren aufgrund ihres präzisen Blicks für Details. Statt den Augenblick einzufrieren, konfrontieren sie uns mit Situationen, denen jede Inszenierung fremd zu sein scheint. Nur sehr selten lässt Soth die Menschen auf seinen Fotografien Posen einnehmen. Besonders spannend wird seine Arbeitsweise genau dann, wenn die Art der Betrachtung selbst zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung wird. Seit der Foto-Serie Sleeping by the Mississippi, die ihn 2004 auf einen Schlag berühmt machte, sind seine Bilder häufig Resultate von Langzeitstudien und mehrfacher Recherche-Reisen. Das gilt auch für seine neueste Serie Broken Manual (2006–10), die sich dem Aussteigertum in den Weiten der amerikanischen Wälder zuwendet.

Seine Motivation diese Serie zu beginnen, wurde durch einfache Fragen ausgelöst: Was könnte der Motor sein, die Zivilisation hinter sich zu lassen? Können eigene Regeln aufgestellt werden, die sich im Alltag bewähren? Zusammen mit dem Autor Lester B. Morrison gibt Soth im Steidl Verlag und im Selbstverlag Little Brown Mushroom Books Publikationen zu diesem Thema heraus: Morrison schrieb eine Art Anleitung für Aussteiger-Kandidaten, Soth brachte die Bilder ein: Wälder, Straßenzüge, Trucks. Einige Prints in Schwarzweiß, andere in Farbe.

Diese beinahe unwirklich erscheinende Serie wurde zum ersten Mal in Soths Museumsausstellung From Here to There im Walker Art Center seiner Heimatstadt Minneapolis gezeigt. Für das begleitende Buch wurden Fotografien aus seinem bisherigen Werk ausgewählt, ergänzt durch ein längeres Interview, einige Essays und eingestreute Blog-Einträge. Beigelegt ist auch eines seiner Künstlerhefte: Soth auf der Suche nach "dem einsamsten Mann Missouris". Die Aussteiger findet der Fotograf entweder über das Internet oder während langer Autofahrten in den Wäldern. Um selbstbestimmt leben zu können, nehmen viele dieser Einsiedler das Alleinsein abseits der Zivilisation gern in Kauf. Einige tun es aus Protest gegen den Konsum, andere aus persönlich-biografischen oder auch religiösen Gründen. Um sich von den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, geben sie alles auf, was vorher ihr Leben bestimmte: Beruf, Familie und Freunde. Selbstbestimmung und grenzenlose Freiheit, so scheint es, sind nur um den Preis der Einsamkeit zu haben. Einsiedler sind nämlich vor allem eins: allein.

Ein uramerikanischer Mythos

Es ist ein uramerikanischer Mythos, den Soth hier beschwört. Und auf einem seiner Fotografien wird er ganz konkret: Das Innere einer abgerockten Behausung ist darauf zu sehen, sie steht mitten in der Wildnis. Sie wirkt wie eine zeitgenössische Adaption der Blockhütte, die sich der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau 1845 in Massachusetts bauen ließ. Während er an seinem Schreibtisch seinen Klassiker Walden oder Das Leben in den Wäldern schrieb, konnte er zwischen den Bäumen hindurch die sich bewegende Oberfläche des angrenzenden Sees glitzern sehen. Kurze Zeit später wurde Thoreau dann ins Gefängnis gesteckt. Der schreibende Einsiedler hatte sich geweigert, Steuern zu bezahlen.

Soth ist fasziniert von den Motivationen, die einen Menschen zum Ausstieg bewegen können und von den damit einhergehenden Widersprüchen – vor allem aber auch von der Umgebung, in der ihr Rückzug stattfindet. Für Broken Manual entstanden daher viele Landschaftsaufnahmen und etliche Stillleben. Nur manchmal nahm Soth eine Person, meist einen bärtigen Mann mittleren Alters, von der Ferne aus auf.

Die Bedeutung des Raums zwischen Fotograf und Porträtiertem rückt hier noch mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit als in Soths früheren Serien. Die fahlen Farben unterstreichen die Distanz. Soth hat die Gabe, das Fragmentarische und das Detail genau zu zeigen. Und doch verlieren seine Bilder nie das große Ganze aus dem Auge. Soth gelingt es, auch die subtile Absurdität der Weltflucht ins Bewusstsein zu bringen – in einer bizarren Mischung aus Schönheit der Natur, Macht der Einsamkeit, Größenwahn und den Resten von Zivilisationsmüll. Diese Bilder zeigen jenen kleinen Raum, der Einsiedlern und Aussteigern eingeräumt wird. Und sie zeigen deren ärmliche Behausungen in amerikanischen Wäldern. Dabei zeichnen die Fotografien sich durch eine empathische Haltung gegenüber der Natur aus, gegenüber den einfachen Dingen – und vor allem gegenüber den Menschen.

Petra Reichensperger ist Autorin, Dozentin an Hochschulen und künstlerische Leiterin des Kunsthauses Dresden.

Die Bilder stammen aus dem Band . Hatje Cantz, 256 Seiten, ca. 50 Euro.


Bilder von Alec Soth sind ab 11. März auch in der Ausstellung Traummänner in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden