Mittendrin ist voll daneben

In der Sackgasse Die kurze Geschichte der jüngsten Berlin-Literatur

Wer über die deutsche Literatur der letzten Jahre redet, darf vom Berlin-Roman nicht schweigen. Seine beispiellose Konjunktur verweist auf die Bedeutung des Topos nicht nur für eine junge Generation von Schreibenden, die ihr vielfältiges, oft recht diffuses Begehren auf die Stadt projiziert. Das literarische Berlin hat sich dabei längst von der faktischen Realität abgekoppelt, ist zu einer rein medialen Chiffre der Suche nach neuen Selbstversicherungen in der Postmoderne geworden. Die immer noch andauernde - literarische, politische wie gesellschaftliche - Mythisierung Berlins, die in der "neuen Mitte" ihr vermeintliches Sinnzentrum gefunden zu haben glaubt, behauptet die Stadt als ultimativen Ort des gegenwärtigen Lebens in Deutschland.

So scheint es sich bei der aktuellen Geschichte des literarischen Topos Berlin um eine Erfolgsstory zu handeln: Die Anziehungskraft der Stadt ist ungebrochen, das medial vermittelte Bild von Berlin boomt weiterhin, auch Berlin-Romane werden wohl noch geschrieben. Und doch muss diese Entwicklung als Geschichte eines Scheiterns erzählt werden, möchte man nicht auf die Selbstbeschreibung des Labels Berlin hereinfallen: Zu erinnern ist an die Utopie einer anderen Politik, die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes notwendig geworden war und sich an Berlin als exemplarischem Ort der Wende festmachen konnte. Hatte sich die "Berliner Republik" anfangs noch als eben dieser utopische Handlungsraum verstehen können, so avancierte gerade der literarische Berlin-Diskurs als privilegierter Ort, wo neue Visionen und Ideen geschaffen werden, zu einem bloßen Nachvollzug des ökonomischen Diskurses: Unpolitisch, gesellschaftskonform und marktgerecht vollzog er die Wendung zum pseudopostmodernen Ort eines anything goes. Man muss diese Geschichte des Politikverlustes in der Literatur nachvollziehen, um die verpassten Möglichkeiten jener kurzen Episode der Berlin-Literatur nach 1989/90 ermessen zu können.

An eines sollte vorab erinnert werden: Der literarische Berlin-Diskurs der neunziger Jahre bezeichnet einen Neuanfang. Der Glaube, der Berlin-Roman sei fester Bestandteil der deutschen Literatur seit jeher, ist Resultat der jüngsten Berlin-Euphorie selbst. Berlin war nicht immer das zentrale literarische Thema, das es heute ist. In den Jahrzehnten nach Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) sind - trotz der politischen Bedeutung Berlins als geteilte Stadt - nur vereinzelt und kaum bedeutende Berlin-Romane geschrieben worden. Erst die Ereignisse von 1989/90 und der "Hauptstadtbeschluss" von 1991, der Berlin als symbolischen (aber leeren) Ort deutscher Politik bestimmte, brachte den Anstoß für die konzentrierte Einschreibung neuer politischer Bedeutungen durch die Literatur. Es war dabei vor allem die ältere Generation von AutorInnen (wie Christa Wolf, Monika Maron und Günter Grass), die eine geschichtliche und politische Aufladung des Ortes in Szene gesetzt und so maßgeblich dem politischen Diskurs der "Berliner Republik" den Weg bereitet hat. 1995 war hierfür das zentrale Datum: Die politische Bezugnahme der älteren Generation fand mit der Übernahme des Topos Berlin in den politischen Diskurs ein Ende, während eine junge Generation (allen voran: Thomas Brussig) die literarische Bühne betrat und sich von diesen politischen und historischen Sinnzuschreibungen absetzte. Damit ist die Geschichte des Scheiterns einer politischen Idee von Berlin in zwei Kapiteln zu erzählen: Dem Bemühen um politische Signifikanz durch die ältere Generation, der eine zukunftsweisende politische Vision nicht gelang, folgte nach 1995 dessen Negation durch eine jüngere, die sich um die Möglichkeit von Politik kaum mehr Gedanken zu machen scheint.

Für den literarischen Berlin-Diskurs der älteren Generation ist bezeichnend, dass er mit einem Text anhob, der weitgehend vor der Wende geschrieben worden war. Christa Wolfs Was bleibt (1990), die den Bericht über die alltägliche Beobachtung und Verfolgung einer kritischen DDR-Intellektuellen in Szene setzte, forderte vehement einen literarischen Erinnerungsdiskurs als Grundlage für künftiges politisches Handeln. Die dem Text nachgestellte Datierung "Juni-Juli 1979/November 1989" machte diese Intention deutlich. Der Abschluss des Textes im Jahr 1989 beantwortete die auf der Textebene (1979) aufgeworfene Frage, wie Schreibende auf die Zukunft einer Gesellschaft Einfluss nehmen können: Wolfs Position der politisch engagierten Intellektuellen stellte sich gerade durch die Möglichkeit der nachträglichen Veröffentlichung als richtig heraus. Der Text wurde zum Teil jener "neuen Sprache", welche die Erzählerin einforderte, während die Inhalte dieses Erinnerungsdiskurses - das also, was bleibt - noch unbestimmt blieben.

Diese wurden in den folgenden Jahren zahlreich und auf unterschiedliche Weise realisiert. Was so unterschiedliche Autorinnen wie Monika Maron (Stille Zeile Sechs, 1991), Brigitte Burmeister (Unter dem Namen Norma, 1994) und Irina Liebmann (In Berlin; 1994) verband, war eine historisch-politische Sicht auf die Gegenwart um und nach 1989/90: Sie riefen die geschichtlichen Ereignishorizonte des Nationalsozialismus, der DDR und vor allem der Wende auf, um Perspektiven für gegenwärtiges Handeln unter neuen politischen Bedingungen zu entwickeln. Gerade durch die Wiedervereinigung traten Fragen historischer Kontinuität und nationaler Identität scharf ins Bewusstsein. Diese Autoren bezogen sich auf Berlin als Erinnerungsort, weil sie nach Maßstäben für die Umbruchssituation der frühen neunziger Jahre suchten. Genau an dieser Stelle trafen sich die ost- und westdeutschen AutorInnen. Die historische und politische Bezugnahme war paradigmatisch für eine Generation, der das "Dritte Reich" und der Zweite Weltkrieg als unmittelbare Vergangenheit präsent waren. Dass dabei lediglich die geschichtlichen Anknüpfungspunkte variierten, macht Günter Grass´ Wenderoman Ein weites Feld (1995) deutlich. Er stellte einen Bezug zum Kaiserreich her und suggerierte dadurch über den Bruch der NS-Zeit hinweg Kontinuität. Damit generierte er eine neue nationale Kollektivsymbolik nach 1989/90. Das Bemühen um historische Anbindung wurde als Strategie erkennbar, nach dem Verlust des bis dato gültigen ideologischen Rahmens die politische Signifikanz des Schreibens weiter aufrechterhalten zu können.

Damit setzte die Literatur der frühen neunziger Jahre bereits die Koordinaten der späteren Debatte um die "Berliner Republik". 1995 publizierten Jürgen Habermas und Johannes Gross ihre unterschiedlichen nationalstaatlichen Entwürfe. Gleichzeitig bezogen sie dabei Positionen, die gerade hinsichtlich der Bedeutung der NS-Zeit dem laufenden literarischen Diskurs verwandt waren: Für die - nach der Wiedervereinigung - neue Realität namens Deutschland postulierten sie eine geschichtliche Dimension politischen Handelns. Im Unterschied zu den Ost-AutorInnen unterblieb aber der Rekurs auf die Erfahrungen der Revolution von 1989, die ein neues politisches Handlungsparadigma hätten begründen können. Damit verlief der politische Diskurs der "Berliner Republik" in traditionellen, der neuen Realität kaum angemessenen Reflexen der 68er-Generation und erwies sich als ausschließlich westdeutscher Diskurszusammenhang.

Eine Beobachtung ist dabei zentral: In dem Maße, in dem der historisch-politische Berlin-Diskurses von der Literatur in das geeignetere Medium der politischen Debatte überführt wurde, verlor die Literatur ihre politische Aufgabe. Für eine Generation, die mit der NS- und Nachkriegszeit befasst war und ihr Schreiben in einem politischem Kontext gesehen hat, war dies höchst problematisch. Es gelang ihr zudem nicht, die aus dem Diskurs ausgeschlossenen Aspekte der Wende als gesellschaftlich relevante Positionen zu behaupten. In der Folge schien eine weitere historisch-politische Bezugnahme auf Berlin unmöglich - in den Jahren nach 1995 verstummte die ältere Generation zunehmend. Am Ende der neunziger Jahre führte ein Weiterschreiben in dieser Richtung geradewegs in den Kitsch, wofür Peter Schneiders mit historischem Ballast beladene und doch nur auf sexuelle Wunscherfüllung abzielende Berlin-Soap Eduards Heimkehr (1999) beispielhaft war. Selbst hochkomplexe und selbstreflexive Texte wie Friedrich Christian Delius´ Erzählung Die Flatterzunge (1999), die den Nationalsozialismus als zentrales Ereignis deutscher Geschichte in das Berlin der Gegenwart hineinholte, vermochten es nicht mehr, politisches Handeln aus der Historie abzuleiten. Das Scheitern des literarischen Berlin-Diskurses der älteren Generation nach 1995 wurde hier besonders deutlich.

An diesem Punkt setzte eine jüngere Generation von AutorInnen ein, die ihr an Berlin orientiertes Schreiben mit der scharfen und polemischen Abgrenzung gegen jede politische Indienstnahme von Literatur begann. Dass Thomas Brussigs Berlin-Roman Helden wie wir 1995 erschien und sich die heftige Polemik gerade gegen Christa Wolf - explizit auch Was bleibt - richtete, war sicherlich kein Zufall. Es machte den Ablösungsprozess von einem Schreibparadigma deutlich, das durch Einschreibung von Sinn in die Geschichte politisch folgenreich sein wollte. So inszenierte Brussig den Mauerfalls als obszön-absurdes Spektakel und führte jeden Versuch der Sinneinschreibung ad absurdum: Wenn ohne den multiperversen Klaus Uhltzscht die gesamte jüngste deutsche Geschichte erklärtermaßen keinen Sinn ergab, dann war es die Funktionalisierung von Historie für politisches Handeln an sich, die hier negiert werden sollte. Jenseits der medialen Konstruktion von Wirklichkeit und Geschichte war die Suche nach authentischer Faktizität vergebens, der Literatur konnte für Brussig keine Erinnerungsaufgabe im Sinne Christa Wolfs mehr zukommen.

Was Brussig aus Ost-Perspektive thematisierte, lässt sich auch bei westdeutschen AutorInnen nachweisen. In Thomas Hettches bezeichnenderweise ebenfalls 1995 erschienenem Roman Nox ging die Nacht des Mauerfalls, das geschichtsträchtige Datum Deutschlands par excellence, in einer sadomasochistischen Gewaltinszenierung auf. Das Bemühen um nationale Sinnstiftung durch die Wiedervereinigung erschien trotz exakter Datierungen und vielfältiger geschichtlicher Fakten unmöglich. Denn hinter der computergleichen (also interesselosen) Aufzeichnung der Geschichte offenbarte sich der Sinn des Aufgezeichneten als kontingent und beliebig. Sexualisierung der Ereignisse, Betonung der Medialität von Welt und Dekonstruktion von historischer Sinnstiftung auch hier.

Diese explizite Absetzung gegen eine ältere Generation und ihr geschichtsbeladenes, politisiertes Schreiben nahm die Möglichkeit von Geschichte in ihrer Negation noch auf. Sie verwies auf die Notwendigkeit eines veränderten Umgangs unter den Bedingungen der Postmoderne, der zu einem anderen politischen Handeln hätte führen können. Es bot, gerade durch die Fokussierung auf Berlin, die Chance zu einem Perspektivenwechsel: Jenseits des Nationaldiskurses hätte mit dem Topos Berlin die Mikropolitik der Großstadt in den Blick geraten können und politisches als soziales Handeln zu Arbeit, Armut und Anonymität bestimmen können. Das jedoch ist, wie die Entwicklung der Popliteratur in den späten neunziger Jahren deutlich macht, nicht geschehen.

Berlin als Pop stand am Ende eines literarischen Diskurses, der sich von jeder Thematisierung von Geschichte oder Politik losgelöst hatte und in der marktgerechten Inszenierung eines postmodern-hedonistischen Ortes gefiel. Nach Tim Staffels Aufführung Berlins als medialer Bürgerkriegsschauplatz in Terrordrom (1997), Tanja Dückers Vignetten großstädtischen Lebens in Spielzone (1999) und Alexa Hennig von Langes Szenebeschreibungen in Mai 3D (2000) gab es wohl keine Droge, keine sexuelle Praktik und keine Party-Location, die nicht en detail Gegenstand der Literatur gewesen wäre. Am Ende jedes dieser Romane wurde gleichwohl ein konservativer Ausbruchsversuch unternommen. Da jedoch die Wirklichkeit als mediale Konstruktion beschrieben wurde, konnte selbst die als Ausweg gedachte Flucht der Protagonisten aus Berlin nicht funktionieren: Die Fahrt mit dem Mustang ins Nirgendwo am Ende von Terrordrom war mehr als Hollywood-verdächtig, die Sehnsucht nach der romantischen Liebe in Spielzone ist nur durch das klassisch mediale Stereotyp von Italien denkbar und die Flucht nach Japan, die Mai 3D abschließt, erwies sich wieder nur als pure Lifestyle-Inszenierung. Hier wurde die Sackgasse des literarischen Berlin-Diskurses augenscheinlich: Er artikulierte ein Begehren nach einem Leben jenseits der permanenten Party und litt zugleich daran, dass es sich als unmöglich erwies. Ohne die Legitimierung des Handelns durch Geschichte, Politik und zwischenmenschliche Werte blieb kein anderer Bezugspunkt für die Figuren als die Konkretheit des Ortes Berlin selbst - die Clubs und die Musik, die Drogen und der Sex. Die Orte der Selbstversicherung innerhalb des ökonomischen Diskurses sind jedoch austauschbar, Ecstacy, Techno und perverser Sex mittlerweile globalisiert. So erwies sich diese junge Generation als ortlos.

Am Ende dieser Entwicklung, die von der Verabschiedung der Geschichte durch die junge Generation zur Popisierung Berlins geht, stand die reine Selbstreferenz, der Berlin-Roman als Markenartikel, der erzeugte und weitergab, was er zu beschreiben versprach, um die aktive Mythisierung Berlins bewusst am Laufen zu halten. Zwischen postmodernem Zitat und naivem Kitsch war dann nicht mehr zu unterscheiden. Der Literaturbetrieb funktionierte hier nach dem Nutella-Prinzip: Nur wo "Berlin" draufstand, war Berlin auch drin. So nannte Norman Ohler seinen Roman bedeutungsschwer Mitte und Martin Schachts Mittendrin (beide 2002) war schon anhand des Untertitels als "Berlinroman" identifizierbar. Neues - gar Kritisches - gab es bei beiden nicht zu lesen, nur Affirmation des neuesten Mythos von Berlin: Mittendrin ist eben voll daneben.

An dieser Stelle endet die kurze Geschichte der gegenwärtigen Berlin-Literatur. Auf der einen Seite führte die ältere Generation von Schreibenden Berlin als Erinnerungsort mit politischer Sinnzuschreibung auf und scheiterte, da sie ein neues Handlungsparadigma nicht in den politischen Diskurs einschreiben konnten. Auf der anderen Seite ging der literarische Berlin-Diskurs der Jüngeren in ökonomischer Selbstgefälligkeit und im Kitsch auf, da er aus dem selbstreferentiellen und inhaltslosen Mythos Berlin, den er mitgestaltet hat, keinen Ausweg fand.

Ansätze einer Fortsetzungsstory gibt es dabei durchaus. Erstens wäre die Rückkehr zur Geschichte denkbar, wie Michael Kleeberg sie in Ein Garten im Norden (1998) postmodern versucht hat, indem er die Möglichkeit einer anderen Geschichte Deutschlands ohne den Nationalsozialismus auslotete. Zweitens müsste die Re-Thematisierung von bislang ausgeschlossenen Themen wie Armut und Arbeit in Angriff genommen werden, die nach 1995 möglich gewesen war und nun etwa in Norbert Zähringers Romandebüt So (2001) wieder erfolgt ist. Schließlich könnte ein Perspektivenwechsel neue Impulse bringe, der Berlin im Kontext von Immigration und Integration bestimmt und gerade durch russische Einwanderer wie Wladimir Kaminer (Russendisko, 2000) und deutsch-türkische Literaten der jungen Generation wie Dilek Zaptçioglu (Der Mond ißt die Sterne auf, 1998) aktuelle Fragen von Identität und Zugehörigkeit aufwirft. Erst an den Rändern des Diskurses, die ihn ermöglichen, ist die Berlin-Literatur wieder dabei, Geschichte(n) zu schreiben.

Phil C. Langer, geboren 1975, ist Lehrbeauftragter an den Universitäten München und der HU-Berlin. Der Aufsatz basiert auf seiner Doktorarbeit, die unter dem Titel Kein Ort. Überall. Die Einschreibung von Berlin in die deutsche Literatur der neunziger Jahre 2002 im Berliner Weidler-Verlag erschien. Veröffentlichungen auch zu Autobiographien von Überlebenden der Shoah. Zur Zeit arbeitet Langer an einem Habilitationsprojekt zu Emanuel Geibel und der Moderne als konservatives Projekt.

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