Die verlorene Bundestagswahl lag für die SPD gerade ein paar Monate zurück, da kündigte sich plötzlich eine strategische Wende bei den Sozialdemokraten an. Der Parteichef sprach plötzlich von „rechnerischen Mehrheiten diesseits der Union“. Er hatte den Beginn eines grundlegenden Umbruchs des deutschen Parteiensystems ausgemacht. Es war aber nicht Sigmar Gabriel, der seine Partei im Jahr 2010 zum Umdenken aufforderte, sondern Willy Brandt 1982. Brandt machte damals die Beobachtung, dass Rot-Grün mehr Stimmen erreichen konnte als Schwarz-Gelb. Während auch Sozialdemokraten mit der Rede vom „demokratischen Lager“ dabei waren, die neue Partei abzukanzeln, hatte Brandt als einer von ganz wenigen die strategische Option erkannt, die die
ie Grünen für die SPD bedeutete. Ihr sollten die Sozialdemokraten in den folgenden Jahren auf Landes- und schließlich auch auf Bundesebene die Regierungsverantwortung verdanken.Nun, wenige Monate nach der verlorenen Bundestagswahl 2009, steht die SPD vor einer vergleichbaren strategischen Entscheidung. Soll sie es wagen, auf eine neue Mehrheit diesseits der Union zu setzten? Auf eine rot-rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen? Es wird politischer Mut notwendig sein, um so ein Bündnis durchzusetzen. Aber die Zeit ist reif für eine neue politische Konstellation.Denkverbot für neue KonstellationenDer Ausgang der kleinen Bundestagswahl im größten Bundesland zeigt das Dilemma, in dem die SPD steckt, seit es der Linken gelungen ist, sich von einer ost- zu einer gesamtdeutschen Partei zu entwickeln. Ohne die Linke bleibt der SPD in diesem Fünf-Parteiensystem nur die Rolle als Mehrheitsbeschaffer für die CDU. Andere Optionen hat sie nicht. Das war so bei der vergangenen Bundestagswahl. Und es ist jetzt wieder so in Nordrhein-Westfalen. An diesen trüben Aussichten hat sich auch nach dem vermeintlichen Comeback der SPD nichts geändert. Zwar hat es die Partei geschickt verstanden, den Wahlausgang in Bezug auf das jüngste miserable Bundestagswahl-Ergebnis zu setzen und also als großen Erfolg zu verkaufen. Aber den Abwärtstrend konnte auch Hannelore Kraft nicht beenden. Im Vergleich zur Desaster-Wahl 2005 hat die SPD in NRW erneut Wähler verloren.Und dennoch: Die Wähler haben sich für eine klare linke Mehrheit im Düsseldorfer Landtag entschieden. Sie haben für Rot-Rot-Grün gestimmt. Es ist ein Ergebnis, das vielen nicht passt. FDP-Landeschef Andreas Pinkwart verhängte sogleich ein Kontaktverbot. Mit Parteien, die auch mit der Linken kooperieren wollten, sei ein Zusammengehen nicht möglich, sagte er an die Adresse der SPD. Er schloss damit eine Ampelkoalition aus. Es ist ein Denkverbot für neue politische Konstellationen. Es grenzt an Realitätsverweigerung. Und es ist ein Armutszeugnis für die demokratische Kultur, auch wenn Parteichef Westerwelle diese kategorische Absage später wieder abschwächte.Die Stigmatisierung der Linkspartei als extremistische Schmuddelkinder der Demokratie durch die etablierten Parteien zeugt nur noch von deren Verzweifelung. Und sie führt in die Sackgasse. Denn der Erfolg der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen ist ja kein Einzelfall. Im Saarland lag sie knapp hinter der SPD, in Thüringen weit vor ihr und in Hessen wäre sie fast Regierungspartei geworden. Das ist keine Kleinigkeit. Die Linkspartei ist längst im Parteiensystem der Länder etabliert– nicht nur im Osten, sondern auch im Westen der Republik. Das lässt sich nicht einfach ausblenden – zumindest wenn man die Demokratie nicht in die Bedrouille bringen will.Inhaltliche SchnittmengenAuch die SPD tut sich schwer mit der Erkenntnis, dass es eine neue Bündnismöglichkeit gibt. Die Linkspartei in NRW ist für Hannelore Kraft immer noch „nicht regierungstauglich“. Als Haltung im Wahlkampf mag das politisch nachvollziehbar sein. Schließlich wollen alle Parteien den eigenen Stimmanteil maximieren. Nach der Wahl ist so ein Etikett aber schlicht unsinnig. Denn das Wesen eines Koalitionsvertrages ist nicht, die Programmatik der beteiligten Partner abzubilden, sondern einen politischen Kompromiss zu kondensieren. Oder anders gesagt: Es muss kein Hindernis für eine Koalition der linken Mitte sein, wenn der eine Partner für die Verstaatlichung von Energiekonzernen ist, während der andere dies für Teufelszeug hält. Man muss nicht alle Dinge gleich entscheiden. Inhaltliche Schnittmengen gibt es genügend: In der Bildungs- Umwelt- und Sozialpolitik. Der Rest ist Verhandlungssache.Für die SPD wäre Rot-Rot-Grün so etwas wie ein politischer Jungbrunnen. Denn die ausgelaugte Partei hätte endlich wieder eine realistische Machtperspektive jenseits der etablierten Pfade. Sie müsste über soziale Probleme neu nachdenken, die lange Zeit mit dem Hinweis auf Schröders Agenda 2010 einfach abgeschmettert wurden. Die Öffnung zur Linkspartei fällt den Sozialdemokraten sichtlich schwer. Schließlich haben sie seit deren Gründung durch Oskar Lafontaine vor fünf Jahren alles getan, um das Verhältnis zur Konkurrenz nicht klären zu müssen. Vor der entscheidenden Frage hat sie sich immer wieder weggeduckt, zuletzt in Thüringen und im Saarland. Doch die Wahlergebnisse sprechen eine eindeutige Sprache: Ein Projekt linke Mitte ist politisch möglich.Der Unterschied zu Rot-GrünNatürlich gibt es Unterschiede zum rot-grünen Projekt Ende der neunziger Jahre. Die Schröder/Fischer-Regierung war damals der Endpunkt einer ökologisch-liberalen Entwicklung, die sich in den Jahren zuvor in der deutschen Gesellschaft vollzogen hatte. Für Rot-Rot-Grün gilt das noch nicht. Diese Konstellation ist eher Ausdruck der sich immer weiter ausdifferenzierenden Milieus. Das muss kein Nachteil sein. Aber damit daraus ein Projekt werden kann, müssen alle drei Parteien zunächst den Nachweis erbringen, dass sie auf Landesebene gemeinsame Ziele definieren und auch umsetzen können.An dieser Erkenntnis kommen auch die Skeptiker in der SPD nicht vorbei. Wenn SPD, Grüne und Linkspartei in NRW die Chance auf eine Regierung nutzen, dann können sie dort das Fundament für einen Machtwechsel im Bund 2013 legen. Ein Blick auf das Bundestagswahlergebnis vom vergangenen Herbst zeigt, dass die Differenz zwischen dem schwarz-gelben und dem rot-rot-grünen Lager nur wenige Prozentpunkte betrug. Aber selbst wenn der Versuch einer Mitte-Links-Regierung in NRW noch vor dem Ablauf der Legislaturperiode scheitern sollte, muss das kein Schaden sein.Auch die hessische SPD, die in den achtziger Jahren als erste eine Koalition mit den Grünen schloss, machte zunächst schlechte Erfahrungen. Das Bündnis war nach nur 14 Monaten am Ende. Brandts Analyse blieb dennoch richtig. Es dauerte dann allerdings noch einige Jahre, bis sich Rot-Grün auch auf Bundesebene durchsetzen konnte.