Es ist keine Kleinigkeit, wenn man einem Land vorwirft, dass es über seine Verhältnisse gelebt hat. Und es ist erst recht keine Kleinigkeit, wenn man dies nicht auf ein paar Jahre, sondern gleich auf die vergangenen vier Jahrzehnte bezieht. Insofern hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihren Worten endlich einmal Mut zur Klarheit gezeigt. Zweifellos richtig ist, dass verschiedene Bundesregierungen eigentlich immer den Weg des geringeren Widerstands gegangen sind. Sie haben sich regelmäßig für mehr Schulden und gegen eine unpopuläre Sparmaßnahme entschieden. Falsch ist allerdings, dass das Land dabei über seine Verhältnisse gelebt hat. Das Gegenteil ist richtig: Der Staat hat durch seine aktive Rolle erst den Wohlstand und den sozialen Zusammenh
enhalt ermöglicht, der dieses Land seit vielen Jahrzehnten prägt. Die Schulden waren beherrschbar, ihr Abbau zumindest möglich.Erst Merkel hat die deutschen Verhältnisse überstrapaziert. Sie war es, die seit 2009 immer neue Kredite und Bürgschaften über den Tresen geschoben hat. Wenn diese Wechsel fällig werden, wird Deutschland an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit geraten. Vielleicht darüber hinaus.Ein Probelauf für diese Herausforderung ist derzeit zu betrachten. Sein Ausgang wird schon jetzt über die politische Zukunft der zerrütteten schwarz-gelbe Zweckgemeinschaft entscheiden. Finanzminister Wolfgang Schäuble muss für den Etat 2011 harte Einschnitte vornehmen. Die Rede ist von bis zu 15 Milliarden Euro. Im Krisenjahr 2009 war Keynes für Schäuble der wichtigste Ratgeber. Im Krisenjahr 2010 ist es die schwäbische Hausfrau.Zeit der WahrheitFür Merkel kommt nun die Zeit der Wahrheit. Seit Beginn ihrer Kanzlerschaft hat sie nicht zu erkennen gegeben, für welche Überzeugungen sie steht. Sie war ein Chamäleon, das sich der Umgebung anpasst. Die politische Mimikry ist nun vorbei. Es geht nicht nur darum, weniger zu verteilen. Sondern den Menschen etwas wegzunehmen. Das heißt, es geht um politische Überzeugungen und Prioritäten.Schäuble hat schon gesagt, wo er Spielraum sieht: im Sozialetat. Die mächtigen Unions-Ministerpräsidenten haben bereits die Erhöhung des Bafög gestoppt. Und sie wollen weitere Kürzungen in der Bildungs- und in der Familienpolitik. In der Koalition denkt man über die Erhöhung der Mehrwertsteuer nach. Alle diese Vorschläge gehen zu Lasten von Chancengleichheit und gesellschaftlichem Ausgleich. Sie werden die Kluft zwischen Arm und Reich verschärfen. Und sie sind ein Konjunkturprogramm für die Opposition.Noch hält sich die Kanzlerin bedeckt. Aber durch den überraschenden Rückzug ihres mächtigsten konservativen Gegenspielers Roland Koch ist sie zusätzlich unter Druck geraten. Denn vom konservativen Profil der Union ist ohne Koch, Oettinger und Merz wenig übrig. Unter Merkel ist ein wichtiger Unions-Flügel praktisch erlahmt. Das können die Konservativen in der CDU nicht hinnehmen.Von der FDP hat Merkel ebenfalls nicht mehr viel zu erwarten. Die Partei befindet sich in den Umfragen im freien Fall, ihr steht eine Führungsdebatte um den überforderten Außenminister bevor. Das wird das schwarz-gelbe Bündnis weiter auseinandertreiben. Es steht nicht zu erwarten, dass Merkel die Kraft aufbringt, die zentrifugalen Kräfte ihrer Koalition in den Griff zu bekommen. Die Kanzlerin steht wenige Monate nach der Wahl politisch mit dem Rücken zur Wand.Verlockungen der MachtEs ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie in den vergangenen Wochen mehrfach versucht hat, die Große Koalition wiederzubeleben. Genützt hat es bisher nichts. Die Sozialdemokraten zeigten ihr die kalte Schulter und ließen sich weder bei der Griechenland-Hilfe noch bei dem Nothilfe-Paket für den Euro einbinden. Warum sollten sie auch? Die Verlockungen der Macht sind zweifellos groß. Aber viele Sozialdemokraten fragen sich, warum die Partei in der Öffentlichkeit zwar als Garant einer ebenso pragmatischen wie professionellen Krisenkoalition gilt, bei der Bundestagswahl jedoch mit einem der schlechtesten Wahlergebnisse aller Zeiten abgestraft worden ist. Dennoch ist Merkel nach der Abwahl von Schwarz-Gelb in NRW bei sämtlichen Entscheidungen im Bundesrat auf die Sozialdemokraten angewiesen. Diese Chance sollte die SPD nicht ungenutzt lassen. Als unsichtbarer Dritter am Berliner Kabinettstisch können Gabriel und Steinmeier zusätzlich an politischer Statur gewinnen. Dem Genossen-Duo ist in relativ kurzer Zeit gelungen, was nach der verlorenen Bundestagswahl niemand erwartet hätte: Sie haben der Partei neue Kampfkraft verschafft. Beide haben schnell begriffen, dass das nur miteinander geht, nicht gegeneinander. Wer nicht mitspielt beim Poker um die Macht, wird vom Wähler nicht ernst genommen.Merkels Krise kommt für die SPD fast zu früh. Die Große Koalition hat ihr geschadet, die lange Zeit an der Regierung hat sie programmatisch entleert zurückgelassen. Dieses Vakuum kann auch die Aussicht auf mehr Einfluss nicht füllen. Die Sozialdemokraten sollten erst wieder zu sich selbst finden, bevor sie sich auf andere einlassen. Wenn die SPD ein Interesse an der eigenen Zukunft hat, darf sie sich jetzt nicht zum Mehrheitsbeschaffer einer angeschlagenen Kanzlerin machen.