Dieser Weg wird kein leichter sein

Aufsteiger Immer weniger Menschen kommen heute in Deutschland nach oben. Eine Reportage über drei, die es geschafft haben – gegen jede Wahrscheinlichkeit
Klassische Aufsteiger wie Schröder, Wulff und Winterkorn werden immer seltener. Warum ist das so?
Klassische Aufsteiger wie Schröder, Wulff und Winterkorn werden immer seltener. Warum ist das so?

Illustration: Francesco Bongiorni für den Freitag

"Wir waren die Asozialen", wird Gerhard Schröder sich später an seine Kindheit erinnern. Da sitzt er bereits im Kanzleramt. Ein Mann, der das Idealbild einer Gesellschaft zu verkörpern schien, die selbst den abgehängtesten Unterschichtskindern den Aufstieg in höchste Ämter ermöglichte. Eine Karriere, deren Grundstein in der Ära der Bildungsexpansion der sechziger und siebziger Jahre gelegt worden ist – ermutigt von einer Aufbruchstimmung, die in den Reformen der sozialliberalen Koalition Willy Brandts ihren Höhepunkt fand: Mit der Öffnung von Gymnasien für die breite Bevölkerung und der flächendeckenden Gründung neuer Hochschulen.

Schröders Bildungsbiografie gleicht einem Berganstieg bei der Tour de France: Volksschüler, kaufmännischer Lehrling, Abendschüler, Abiturient, Jurastudent, schließlich Rechtsanwalt und Politiker. Seine Alterskohorte wurde in einem Land groß, dessen Bildungssystem weitgehend gerecht war und ehrgeizigen Nachwuchs aus dem Arbeitermilieu belohnte. Die Folgen dieser Ära sind noch jetzt in den Führungsetagen von Großkonzernen zu sehen: Porsche-Chef Martin Winterkorn, geboren 1947, ist der Sohn eines Arbeiters, Adidas-Chef Herbert Hainer, geboren 1954, der eines Metzgers.

Mittlerweile sind solche Karrieren sehr viel unwahrscheinlicher geworden. In der Studie „Kaum Bewegung, viel Ungleichheit“ resümiert Reinhard Pollak vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, dass die Durchlässigkeit nachgelassen habe. Wenn in den Geburtenjahrgängen 1940 bis 1959 noch etwa 40 Prozent der westdeutschen Männer einen Aufstieg in eine höhere Schicht erlebten, ist der Wert in den Jahrgängen 1970 bis 1978 um etwa fünf Prozent gesunken. Das sind jene Männer, die heute zwischen 30 und 40 Jahre alt sind, die Kinder der Generation Schröder also, die in einer blockierten Gesellschaft um die Plätze in den vorderen Reihen kämpfen, als kreisten sie bei der Reise nach Jerusalem um die freien Stühle. Die Verlierer in diesem Spiel sind die Aufsteiger aus bildungsfernen Schichten. Sie werden immer seltener.

Ein Klima der Abschottung

Ausgerechnet Gerhard Schröders Hartz IV-Reformen haben ihnen am meisten geschadet. Diese „politischen Maßnahmen“ nennt der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann als wesentliche Ursachen für die wachsende Chancenungleichheit: Statt Aufstiegshoffnung grassiert nun die Angst vor dem Absturz. Da sind auch noch Steuergesetze, die das besser verdienende Bürgertum bevorteilen. Sie vertiefen den sozialen Graben nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf den Bildungserfolg. Wohlhabende Akademikereltern greifen tief ins Portemonnaie, um den Kindern einen Vorteil im Rennen um die beste Ausbildung zu verschaffen. Durch Nachhilfestunden, Sprachreisen oder Privatschulen. So entsteht ein Abschottungsklima, das Wissenschaftler „Segregation“ nennen: der desillusionierte Rückzug benachteiligter Milieus ins eigene Revier, räumlich und soziokulturell. Am besten zu beobachten in Großstädten, wo man in den Brennpunkten unter sich bleibt. In Vierteln zumal, in denen die öffentliche Infrastruktur nicht selten abstirbt, worunter Freizeitangebote, Bibliotheken und kulturelle Einrichtungen leiden.

Wer heute von unten nach oben will, findet also Bedingungen vor, die zur Blütezeit der Bildungsexpansion noch nicht existierten. Zugleich fehlt das Zutrauen, dass Schule und Universitäten, die institutionellen Schleusen für Aufsteiger, in der Lage sind, die ungünstigen Startvoraussetzungen wieder auszugleichen – etwa durch besondere Rücksichtnahme auf Kinder aus einfachen Verhältnissen. "Bildung wird nicht mehr als Weg zum Ziel erkannt", sagt der Bochumer Soziologe Aladin El-Mafaalani. Der "Eurostudent"-Report von 2011 stellt fest, dass gerade einmal zwei Prozent aller deutschen Hochschüler aus bildungsfernen Familien stammen – einer der niedrigsten Werte in Europa.

So wollen wir eine Reise zu jenen Unverwüstlichen unternehmen, die all diesen statistischen Trends dennoch trotzen, deren Leben auch weiterhin vom Aufstieg und dessen Rezeptur erzählen: von gewaltigem Aufwand und ziemlich viel Glück. Talent sowieso. Wir wollen uns fragen: Wer steigt in Deutschland eigentlich noch auf?

Aus dem Arbeiterblock in die Kanzlei

Diese Menschen erzählen von Schulen, die Arbeiterkinder in ein Lernumfeld zwingen, das sie unterfordert und ins Abseits bugsiert. Von Hochschulen und öffentlichen Einrichtungen, in denen Distinktionsdünkel jene ausschließt, deren Eltern kein Theater-Abonnement haben. Es geht um eine Gesellschaft, in der es kaum mehr Förderer gibt. Und es geht um Versuche, diese Hindernisse zu überwinden. Es sind Erfolgsgeschichten. Mal mehr, mal weniger wackelig. Aber gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Die Reise beginnt in Duisburg. Hier ist der Rechtsanwalt Ali Aydin als Sohn eines Stahlkochers und einer Hausfrau in einer rußgeschwärzten Werkssiedlung von Thyssen-Krupp aufgewachsen. Wenn er heute in seinem 7er-BMW, 58.000 Euro teuer, durch die Straßen seiner Kindheit fährt, sieht er nur noch Unkraut. Die Mietshäuser aus Backstein sind abgerissen worden. Der Schmutz, der Staub und die Enge, das war keinem Menschen mehr zumutbar.

Die Erinnerungen kommen wieder, während seine Hände das Lenkrad halten. Aydin, 36, optisch ein Double des Schauspielers Nicolas Cage, dunkle Augen, hohe Stirn, denkt an die Nachbarjungen, die meisten türkischstämmig wie er, mit denen er durch Beeck und Bruckhausen streifte, Duisburgs graue Arbeiterblocks. Und er zählt auf, was aus einigen wurde und auch aus ihm, wer weiß das schon, mit ein bisschen Pech hätte werden können: Drogenhändler oder Zuhälter. Es ist der Blick in den Abgrund seiner Herkunft, der ihn manchmal auch am Schreibtisch seiner Kanzlei einholt – wenn die abgedrifteten Desperados von einst anrufen, weil ihre krummen Geschäfte mit einer Festnahme geendet sind. Sie wollen dann, dass Ali ihnen aus der Patsche hilft. Er muss sie enttäuschen, er kann es sich nicht leisten, wenn es auf einmal heißt, er sei ein Pate der städtischen Halbwelt.

Dabei ist ihm stets bewusst, dass es nur eine kleine Episode war, die entschied, warum aus ihm ein seriöser Freiberufler mit doppeltem Staatsexamen geworden ist, der heute 5.000 bis 8.000 Euro im Monat verdient. Es hat mit einem Sommertag in den frühen achtziger Jahren zu tun. Damals fand die Einschulungsfeier an der Grundschule in seinem Stadtteil statt. Zwei Klassen habe es gegeben, eine für die Ausländer, eine für die Deutschen, darunter ein paar wenige Migranten, deren Deutschkenntnisse die Lehrer für akzeptabel hielten. Eigentlich erübrigte sich die Frage, dass Ali als Kind türkischer Gastarbeiter in die Ausländerklasse gehörte. Wäre da nicht seine 18-jährige Schwester gewesen: Sie überredete die Schulleitung, dass ihr kleiner Bruder, 1975 in Duisburg geboren, der deutschen Sprache einigermaßen mächtig, auch in einer Klasse unterrichtet werden müsse, die das Alphabet gleich im ersten Schuljahr durchnehmen würde.

"Wenn meine Schwester damals keinen Einspruch erhoben hätte, wüsste ich nicht, was aus mir geworden wäre", sagt Aydin. Sie hatte wahrscheinlich geahnt, was später Wirklichkeit werden sollte: Aus der Ausländerklasse ist niemandem der Sprung aufs Gymnasium gelungen. Sie schöpfte dabei aus eigener Erfahrung: Sie selbst war an einer benachbarten Grundschule in eine solche Ausländerklasse eingegliedert worden und anschließend auf die Hauptschule gewechselt. Heute arbeitet Aydins Schwester als Putzfrau in jener Grundschule, an der sie einst vorübergehend die Logik einer integrationsschädlichen Spaltungspädagogik ausgehebelt hatte.

Aydin, in der deutschen Klasse schnell einer der Besten, wechselte dagegen aufs Gymnasium. Dort blätterte er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Lexikon und beginnt sich für Politik und Geschichte zu interessieren. Doch er bleibt ein Außenseiter: "Ich gehörte als Türke aus der Werkssiedlung nie richtig dazu." Aydins Freunde blieben die Kumpels aus den Blocks seines Wohnviertels, die unterdessen auf die Hauptschule gekommen waren. Die "Anständigen" unter ihnen arbeiten heute als Stahlarbeiter, Supermarktkassierer, Verkäufer im Handy-Shop. Er hätte ihnen mehr zugetraut, wenn sie damals in der Grundschule nicht aufs Abstellgleis gedrängt worden wären. "Diese Ungerechtigkeit macht mich wütend", sagt er heute.

Am Gymnasium ging Aydin selbst zu den Elternsprechstunden, weil seine Eltern mit dem pädagogischen Vokabular der Lehrer nichts anfangen konnten – außerdem waren sie nicht so erpicht darauf, dass aus ihrem Sohn "einmal etwas Besseres wird".

Während seines Studiums wohnte Aydin in Bochum, wo er an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Uni eingeschrieben war. Sein Freundeskreis bestand auch hier aus türkischstämmigen Kommilitonen, allesamt Arbeiterkinder wie er. Die Semesterferien verbrachte er an Fließbändern von Fabriken, weil das Bafög nicht genügte. Als Volljurist kehrte er schließlich in den Stadtteil seiner Jugend zurück, wo er heute mit seiner Frau und den drei Kindern in einem Haus wohnt, das gerade mal ein paar Hundert Meter von der ehemaligen Werkssiedlung entfernt ist.

Hier sitzt Aydin in seiner blitzsauberen Küche, Lahmacun auf dem Tisch, und denkt laut über die ungeschriebene Gesetze im deutschen Justizwesen nach, die Karrieren wie seine eher einschränken. Das habe weniger mit Abschlüssen und Kompetenzen zu tun. Mehr mit dem richtigen Musikgeschmack (Klassik), dem richtigen Sprachcode (gehoben) und dem richtigen Urlaub (Segelreisen). "In diesem Kulturkreis fühle ich mich unsicher", sagt Aydin, der türkischen Pop hört, einfach daherredet und seine Ferien in Istanbul verbringt.

Nicht in Frage kam deshalb eine höhere Beamtenlaufbahn an einem Gericht, an dem deutsche Staatsanwälte und Richter den Ton angeben und er während einer Verhandlung einmal angeherrscht wurde, man sei "nicht auf dem türkischen Basar". Als Thilo Sarrazin vor zwei Jahren sein Pamphlet Deutschland schafft sich ab veröffentlichte, dachte Aydin ernsthaft ans Auswandern – das Buch habe ihn "tief verletzt". Er erzählt von seinen Mandanten, die "zu 99 Prozent aus der türkischen Community" stammen. Die Deutschen haben einfach kein Vertrauen zu einem, dessen Vater aus Trabzon stammt und dessen Mutter aus Ardahan. Es sind bittere Gedanken, die er besonnen vorträgt, in der Tonalität einer Bestandsaufnahme. Seine türkischstämmige Klientel ist auch der Grund, warum er einen 7er-BMW fährt: Von einem Anwalt würden die einfach ein so stattliches Auto erwarten, als Beleg für Professionalität. Aydin, der zum angesehenen Anwalt aufgestiegen ist und im Übrigen sogar zum Vorsitzenden des Vereins Türkischer Geschäftsleute wurde, steht immer noch am Rand.

Aus der Hauptschule ins Rathaus

Jörg Albrecht ist ein paar Jahre älter als Aydin, und mit 43 in der badischen Kleinstadt Sinsheim schon ein mächtiger Mann. Der Sohn eines Streifenpolizisten und einer Schneiderin beugt sich über den Esstisch in seinem rustikalen Wohnzimmer. "Die soziale Durchlässigkeit in unserem Land funktioniert", verkündet er in seinem teigigen Heimatdialekt. Wer nach oben wolle, schaffe das auch, man müsse nur "was bringen", "was leisten". Auf die Frage, ob Bildung eine Art survival of the fittest sei, antwortet er: "Ja".

Albrecht, ein braungebrannter, sportlicher Kerl, zweifacher Familienvater, ist offenbar stark genug für diesen Überlebenskampf. Er hat es in Sinsheim zum Oberbürgermeister gebracht und damit zum Chef von über 200 Mitarbeitern der Stadtverwaltung. Sein Monatsgehalt beträgt 9.000 Euro.

Als Kind schien es wahrscheinlicher, Heizungsinstallateur oder Elektriker zu werden, Berufe, die später seine Klassenkameraden ergreifen sollten. Zu diesem Zeitpunkt besuchte Albrecht jene Hauptschule, die ihm seine Grundschullehrerin empfohlen hatte. Diese Fehleinschätzung versetzte ihn in einen Rückstand, den er nur mit einer Ochsentour über den zweiten Bildungsweg wettmachen konnte: mittlere Reife an der Berufsfachschule, Azubi im mittleren Verwaltungsdienst, Fachhochschulreife am Berufskolleg, Student für Verwaltungswirtschaft an der FH. Eine zeitversetzte Provinzversion der Biographie Gerhard Schröders.

Ein paar Jahre nach seinem Studiun wird er in einer Nachbargemeinde mit 31 Jahren zum Kämmerer ernannt. Im Februar 2012 wählten die Sinsheimer Jörg Albrecht, den parteilosen Kandidaten, dann mit 77 Prozent der Stimmen zum OB.

Er behauptet, seine Karriere könnten auch andere Ex-Hauptschüler schaffen. Etwas später räumt er aber ein, dass in ihm ein "ungewöhnlicher Ehrgeiz" brenne. Sein Werdegang: wohl doch eher ein Kraftakt, nicht beliebig kopierbar. "Woher ich diese Energie nehme, das ist ein Rätsel, das ich bis jetzt nicht lösen konnte", raunt er und schweigt.

In seinem Rathausbüro kramt er ein vergilbtes Fremdwörterbuch hervor, das half ihm, als er sich an der Fachhochschule so verloren vorkam wie im alten Babylon: "Bilateral, ambivalent, dogmatisch – es fielen lauter Ausdrücke, die ich nicht kannte." Albrecht notierte alles und schlug es abends nach. Er belegte Rhetorikseminare – um nicht mehr der begriffsstutzige Tölpel unter lauter Akademikerkindern zu sein. Falls diese Bedürftigkeit ihn erniedrigt haben sollte, heute überdeckt er die Narben gekonnt. Rückblickend spricht Albrecht nie von "Ausgrenzung" und "Einsamkeit", sondern von "Fleiß" und "Beharrlichkeit". Es ist die Erzählung des American Dream, die er in den heimatlichen Kraichgau verlagert hat, um die Brüche in seiner Biografie zu kitten.

Seine Herkunft, die an der Hochschule noch eine Schwäche war, wird in der Politik nun zu seiner Stärke. Das hat mit der typisch deutschen Projektion nach volksnahen und bodenständigen Berufspolitikern zu tun. Bis heute zählt er seine alten Hauptschulkumpel, Arbeiter und Handwerker, zu seinen Freunden – diese Treue teilt er mit Ali Aydin, den türkischstämmigen Anwalt. Albrechts Lieblingsbekenntnis lautet: "Ich bin auf dem Teppich geblieben." Auf eine Dienstlimousine hat er verzichtet, und in den Regalen seines Büros türmen sich Souvenirs örtlicher Vereine, etwa ein Helm der Freiwilligen Feuerwehr. Seine Loyalität ist das Gegenteil vom Habitus des Aufsteigers Gerhard Schröder, der alles dafür tat, die Spuren seiner Abstammung unkenntlich zu machen – mit Brioni-Anzügen, Cohiba-Zigarren und engen Verbindungen zu Wirtschaftsbossen.

In Albrechts Sätzen über die Sinsheimer High Society dagegen klingt eher Demut durch. Offenbar hat das Stadtoberhaupt noch immer das Gefühl, die Oberschicht und ihn trenne eine Mauer. Über Dietmar Hopp, dem Mäzen der TSG Hoffenheim, jenem Bundesligaklub, der seine Stadt deutschlandweit bekannt gemacht hat, sagt er: "Ein beeindruckender Mensch mit einem großen Charisma." Der stolze Aufsteiger Jörg Albrecht, er schrumpft wieder zum schüchternen Hauptschulabsolventen, wenn er über den Milliardär und mythosbeladenen SAP-Gründer spricht. Auch sein Kampfgeist erlischt, wenn es um Hierarchien geht, deren Unverrückbarkeit über alle Zweifel erhaben sind.

Gesetz der Dorfgemeinschaft

Als Albrecht auf die Berufsschule ging, hatte er nur ein paar Mark, die er sich mit kleinen Jobs verdiente, ein Taschengeld bekam er nicht. Inzwischen hält er es für möglich, dass ihn das heute befähigt, die kommunalen Ausgaben zu reduzieren. Ziemlich genau das, was auch seine Wähler von ihm erwarten – 80 Millionen Euro Schulden belasten die Stadt. Die Sparsamkeit seiner Jugendjahre, sie ist zum Vehikel seines Erfolgs geworden. Die Schatten der Vergangenheit als Trumpf.

Etwa 200 Kilometer Luftlinie nördlich sitzt Carina Geldhauser, 28, in einer Bonner Altbauwohnung, braune lange Haare, fröhliche Augen, violettes T-Shirt. Sie ist Doktorandin am Institut für Angewandte Mathematik der benachbarten Universität, der Inhalt ihrer Promotion ist eine einzige geistige Überforderung, zumindest für jeden, der nicht dort eingeschrieben ist. Das Thema lautet "Stochastische partielle Differentialgleichungen und Metastabilität". Es geht, stark vereinfacht, um Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Die Wissenschaft ist ihr Fluchtprogramm aus dem erzkonservativen Dorf ihrer Kindheit. Das heißt Ried und ist ein kleines Nest in Bayerisch-Schwaben. "So jemand wie ich fühlte sich dort wie im Gefängnis", sagt sie. In Ried gibt es eine katholische Kirche, jede Menge Bauernhöfe und ein paar Vereine, von den Schützen bis zu den Rosenkranzbrüdern. Dort jung zu sein, kann eine Qual bedeuten. Als Mädchen zumal. Dann rennt man dort mit 14, 15 gegen lauter Verbote an: Weder kann man sonntags Messdiener sein, noch in den Tagen davor auf den Traktor steigen.

"Ich wusste, dass es extrem schwer wird, von hier wegzuziehen", erinnert sich Carina Geldhauser. Dann schmiedete sie einen Ausbruchsplan, so kühn wie ein Anglizismus in einer CSU-Rede: Die Tochter eines Werkzeugmachers und einer Versicherungsfachangestellten, die nebenher einen kleinen Bauernhof bewirtschaften, wollte studieren. Sie hielt diesen Plan weitestgehend geheim. Da waren die Zweifel der Eltern, die wollten, dass ihre Tochter früh eigenes Geld verdient, und die ungeschriebenen Gesetze in der Dorfgemeinschaft, die in etwa dasselbe besagten: ein Mädchen soll zum Beispiel Bürokauffrau werden. Dabei hatte sie am Gymnasium Einser und Zweier geschrieben, in ihrer Freizeit die Pfarrbücherei betreut, in den Ferien einen Sprachurlaub in England gemacht, bezahlt mit Ersparnissen aus einem Kellnerjob.

Es gab keinen Lehrer, keinen Pfarrer, keinen Freund, der ihr Mut gemacht hätte. Aber als Vorbild eine Nobelpreisträgerin: Eine polnische Naturwissenschaftlerin, die Ende des 19. Jahrhunderts in einer patriarchalischen Gesellschaft zur bewunderten Galionsfigur der Akademien wurde, mit kühlem Kopf und sehr viel Chuzpe. Marie Curie wurde zu ihrem role model.

Carina Geldhauser zog nach Tübingen, um dort Mathematik zu studieren, gefördert durch ein Stipendium. Die "abstrakte Schönheit" ihres Fachs, die Erklärung der Welt mithilfe von Formeln, erschien ihr als ein Befreiungsschlag aus der intellektuellen Ödnis der Heimat. Die Mathematik lässt auch die Unsicherheiten verblassen, die von ihrer Herkunft geblieben sind. Ein bürgerlicher Bildungskanon ist, anders als etwa in geisteswissenschaftlichen Disziplinen, eher unbedeutend. In der Mathematik ist es egal, ob man Hegel kennt.

Die Doktorandin hat ihre Welt gefunden – eine Wissenschaft, die ohne eitle Gesten auskommt und in der man Nerds gegenüber tolerant ist. Eine Atmosphäre also, bei der keine Angst aufkommt, gegen schnöselige Verhaltenscodes zu verstoßen. Sie trägt Jeans und Turnschuhe, pflegt eine Vorliebe für christlich-orthodoxe Ikonenbilder und ist alles in allem der lebende Gegenentwurf zur Neon-beeinflussten Bürgerstochterdiva. Eine Professur ist ihr Ziel. "Dieses Fach ist das Beste für mich", sagt sie. Es spielt keine Rolle, dass sie wohl die einzige Doktorandin an ihrem Institut ist, die zwischen Mastbullenzucht und Madonnenprozession groß wurde.

Ganz untypisch sind solche weiblichen Erfolgsgeschichten übrigens nicht. Der Sozialwissenschaftler Reinhard Pollak hat in seiner Studie gezeigt, dass die Aufstiegschancen für Frauen aus den alten Bundesländern zuletzt gestiegen sind: Etwa 35 Prozent aus den Jahrgängen 1970 bis 1978 kletterten höher. In den Jahrgängen 1940 bis 1949 betrug die Aufsteigerquote noch knapp 30 Prozent. Sicher ein Verdienst des Feminismus.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum Geldhauser eher unbesorgt reagiert, wenn sie auf die Chancen von Bildungsaufsteigern angesprochen wird. Sie sagt, die Strukturen seien im Grunde nicht verkehrt, fügt aber hinzu, dass sie "mit Leben gefüllt werden müssen". Sie meint die Lehrer und Dozenten, aber vermutlich auch, obwohl das unausgesprochen bleibt, die Kommilitonen und Arbeitskollegen. Von denen fordert sie "mehr Sensibilität, mehr Unterstützung".

Letztlich geht es darum, die bürgerliche Festung abzutragen, die Eindringlinge aus bildungsfernen Schichten abwehrt wie ein Bollwerk. Errichtet ist diese Festung mit dem Mörtel ererbter Privilegien: Geld, Habitus, Selbstbewusstsein. Doch dazu sind Reformen nötig, vom Ausbau vorschulischer Förderung über die Stärkung der Gesamtschulen bis hin zum Verbot von Studiengebühren. Sie zielen darauf ab, etwas zu verhindern, das wir eigentlich längst überwunden wähnten: eine Ständegesellschaft.

Philipp Wurm schrieb zuletzt über das Dorf Insel, in das zwei Sexualstraftäter nach Verbüßung der Haft gezogen sind

Herkunft: Bestimmt (Teil 1)

Noch nie war die soziale Mobilität hierzulande so gering wie heute. Nie gelang es weniger Menschen, ihr Milieu zu verlassen und aufzusteigen. Warum ist das so? Wer ist schuld an dieser Entwicklung? Und: Können wir das ändern? Auf diese und andere Fragen werden wir in den nächsten Wochen Antworten suchen. Die neue Freitag-Serie

In der nächsten Ausgabe beschäftigt sich Autor Stefan Wellgraf mit den Zukunftsaussichten von Hauptschülern

Aufsteiger

Jörg Albrechts Vater war Streifenpolizist, seine Mutter Schneiderin. Heute ist er Oberbürgermeister von Sinsheim, einer Stadt, in der es sogar einen Erstligaverein gibt

Carina Geldhauser stammt aus einem Dorf, in dem es eine Kirche, einen Schützenverein und die Rosenkranzbrüder gab. Mehr nicht. Heute promoviert sie in Mathematik

Ali Aydins große Schwester sorgte in den Achtzigern dafür, dass er in eine Schulklasse mit überwiegend deutschen Schülern kam. Heute ist sie Putzfrau und er Rechtsanwalt

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