Den ersten Hinweis auf den Angriff gab mir der Mann vom Paketdienst. Er klingelte so um 9.15 und während ich die Quittung unterschrieb, fragte er mich aufgeregt, ob ich es schon gehört hätte, ein Flugzeug sei ins World Trade Center gestürzt. Meine erste Antwort darauf war "Na und? Flugzeuge stürzen nun mal ab." Gleich danach rief meine Schwiegermutter an, um mir zu sagen, ich solle den Fernseher anschalten. Meine Schwiegermutter ist ohnehin fernsehsüchtig, und eigentlich wollte ich den Tag zum Schreiben nutzen, jetzt, da meine Tochter wieder zur Schule ging. Aber etwas Dringliches in der Stimme meiner Schwiegermutter hatte mich in Unruhe versetzt und ganz gegen meine Gewohnheit schaltete ich ein und sah das zweite Flugzeug in den Turm stürzen. Jetzt war ich gepackt, geschockt, angeschlagen und begriff, dass etwas Beispielloses passiert war.
Trotzdem ging ich wie aus Gewohnheit getrieben zum Schreibtisch und versuchte, ein paar Sätze für mein Buch über den New Yorker Hafen zu tippen. Vielleicht weil ich selbst so auf das Thema festgelegt war, kam mir der Gedanke, dass die schrecklichen Ereignisse mit der Geografie des New Yorker Ufers unmittelbar zu tun hatten: Manhattans schmale, rautenförmige Gestalt, von Flüssen umrahmt, hatte es den Entführern leicht gemacht, der Uferlinie zu folgen und die Türme zu treffen. Natürlich fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, aber ich wollte mich einfach nicht dem öffentlichen Ereignis (als das es noch erschien) ergeben. Außerdem gehöre ich zu den Menschen, die das Schreiben beruhigt.
Um 10.30 rief meine Frau aus der Schule meiner Tochter an und sagte, sie wolle dort bleiben für den Fall, dass sie früher schließen. Ich antwortete - das hatte ich plötzlich beschlossen -, dass ich raus ans Ufer wolle, um zu schauen. "Komm doch dann bei uns vorbei", bat sie mich. "Eher nicht", antwortete ich und verschwieg, dass mich das plötzliche Bedürfnis, allein zu sein, befallen hatte. Die Tragödie zeigte bei mir dieselbe Wirkung wie der Tod meiner Mutter: Bauchschmerzen, den Drang, endlos durch die Stadt zu laufen und ein Rühr-mich-nicht-an-Reflex.
Ich ging die Columbia Avenue hinunter und je näher ich dem Ufer kam, desto schwerer wurde das Atmen. Die wenigen, die mir entgegen kamen, trugen Atemmasken, da ich keine hatte, musste ich schwer husten. Giftig-riechender Rauch füllte die Luft und in einem fort fiel Asche schneegleich auf die parkenden Autos und meine Kleidung. Genau so hatte ich mir immer den Krieg vorgestellt.
Zwei Stunden waren seit den Anschlägen vergangen, und die Skyline von Manhattan war in der schwarzen Wolke nicht mehr auszumachen. Tage später fühlte ich Neid auf diejenigen, die die Türme hatten brennen und einstürzen sehen. Bei der Atlantic Avenue wandte ich mich nach links, weg vom Wasser und traf auf Trauben von Büroangestellten, die früher Schluss machten. Nicht alle sahen gleichermaßen bestürzt aus; es herrschte streckenweise eine Art Ferienstimmung, Freude über die unerwartete Freizeit. Zwei Männer und eine Frau, alle drei in ihren Zwanzigern, lachten sogar, während sie sich gegenseitig von den morgendlichen Ereignissen erzählten. Die Älteren jedoch schienen zutiefst verstört. Sie hatten nicht erwartet, im letzten Lebensviertel noch etwas so Schreckliches wie einen Angriff auf Amerika zu erleben. Ähnlich wie beim Tod eines jungen Menschen scheint die Weltordnung aus den Fugen, wenn die Alten, gefasst auf das eigene Ableben, auf Krankheit und Tod, die bittere, schockierende Erfahrung hinnehmen müssen, dass ihre Gesellschaft verletzlich und vergänglich ist, die Welt, von der sie erwartet hatten, dass sie sie überdauern wird. Ich selbst, mit 58, empfand den Angriff als persönlichen Affront gegen die eigene Lebenskurve, so als werde ein konfuser und unnötig komplizierter Subplot zu spät in eine Erzählung eingeführt.
Ich ging an den arabischen Läden und Cafés auf der Atlantic Avenue vorbei und überlegte - törichterweise - ob ich Feierstimmung entdecken könnte. Viele Läden waren geschlossen, und in den offenen hatten sich die Menschen in die Hinterräume zurückgezogen. Wo ich Reaktionen erkennen konnte, sah ich ernste Gesichter; niemand lachte, aber ich schloss nicht aus, dass jemand im Innern frohlockte.
Auf einmal wollte ich bei meiner Familie sein. Mein braunes T-Shirt war mit weißer Asche bedeckt, als ich zur Schule kam. Der Flur stand voller Eltern, die ihre Kinder vorzeitig abholten. Dafür sah ich keinen Grund, schien doch die Schule so sicher zu sein wie unser Haus. Lily war freudig überrascht, mich so früh zu sehen, umarmte mich kurz, um dann zur nächsten Stunde zu gehen. Meine Frau unterhielt sich mit den anderen Müttern und Vätern, von denen einige aus dem Finanzdistrikt gekommen waren. Sie glichen ihre Berichte ab, führten diese zwanghaft sich wiederholenden Dialoge, durch die ein monströses Ereignis real gemacht wird.
Einige Tage später warf mir meine Frau vor, dass ich von Asche bedeckt dort aufgetaucht war, ich hätte die Kinder erschreckt. In gewisser Hinsicht war ihr Vorwurf berechtigt: ich hatte der Fantasie gefrönt, unsichtbar zu sein, nicht dazu zu gehören. Es fand nämlich eine Art Verbrüderung statt, die mir fremd war, die etwas Schönes, aber auch Beängstigendes hatte. Meine Frau und ich verbrachten die ganze Woche in quälender Anspannung, aber es war eine Spannung, die wir nicht teilen konnten. Das war mein Fehler: Selbstsüchtig pflegte ich meine ganz eigene Trauer über das, was man meiner Stadt angetan hatte.
Später an jenem Tag ging ich mit zwei Freunden zum Blut spenden. Der eine, James, ist über 70, Weltkriegsveteran, ich erwartete von ihm besondere Einsichten, zum Beispiel den Vergleich mit Pearl Harbor, aber nein, er schüttelte den Kopf und sagte: "Das hier ist etwas ganz anderes." Bei der Blutspendestation wies man uns zurück, es hatten sich wohl so viele Menschen gemeldet, dass die Blutbeutel ausgegangen waren. Wir gingen in ein Café, das ungewohnt voll war. Der Fernseher lief so laut, dass es schwer war, sich zu unterhalten. Wenn ich mich mit diesen Freunden treffe, haben wir uns normalerweise endlos viel zu sagen. Aber dieses Mal konnten wir uns gegenseitig nichts geben. Alle drei Schriftsteller, fürchteten wir uns wohl, das allzu naheliegende auszusprechen, und so redeten wir wenig. Kent überprüfte ständig sein Handy, James hielt sich den Kopf und starrte zu Boden. Ich drehte mich zum Fernseher, angewidert und hypnotisiert zugleich.
Zuhause fand ich meine Frau ebenfalls vor dem Fernseher. Mit dem Gefühl, keine Wahl zu haben, setzte ich mich dazu. Meine Tochter klagte: "Warum schaut ihr euch das noch an? Sie wiederholen doch nur, was wir eh schon wissen." Blasiert, kein bisschen traumatisiert, ärgerte sich Lily, normalerweise der Mittelpunkt unseres Universums, darüber, dass ihre Eltern ihr keine Aufmerksamkeit schenkten. Sie hatte Recht, es hatte etwas quälendes, dieselben Bilder und Informationen wieder und wieder zu sehen. Aber mir wurde klar, dass das unsere moderne Katastrophentherapie ist: die Hoffnung, dass die Medien mit ihren nachdenklichen Moderatoren und Experten-Interviews vielleicht schon allein durch die betäubende Wirkung der Wiederholungen uns dabei helfen, den Schmerz zu verarbeiten. Bei mir versagt diese Therapie allerdings, wie nach zuviel Süßem wird mir hinterher übel.
Am ersten Tag schien das Amateurhafte der Aufnahmen noch für deren Authentizität zu stehen. Aber in den folgenden Tagen erfasste mich ein Ekel vor den glatten, nicht enden wollenden Interviews mit Verwandten der Vermissten und den Hintergrundgeschichten über die Opfer; es war die gleiche Technik wie für eine Berichterstattung über olympische Spiele, nur dass es sich hier um die Olympiade des Thanatos handelte. Nicht zu vergessen die Parade der Politiker, deren Eloquenz und Kompetenz sich umgekehrt proportional zu ihrem Amt verhielt: am beeindruckendsten Bürgermeister Rudolph Giuliani, der stets zu wissen schien, worüber er redete, dann Gouverneur Pataki, der sich dankbar Giuliani anschloss, Senatorin Hillary Clinton, die wenig überzeugend herumdrohte, bis hinauf zu Präsident Bush, dessen Kriegslust und syntaktisches Ungeschick allen gebildeten liberals wie mir sehr peinlich war. Am unglaubwürdigsten waren die Bemühungen des Präsidenten, etwas Nettes über New York zu sagen, eine Stadt, die er und das ganze Land nicht mochten und der sie immer misstraut haben.
Dass dies in erster Linie ein Angriff auf New York war, daran hatte ich keinen Zweifel. Ich identifiziere mich so sehr mit meiner Geburtsstadt, dass ich Mühe hatte zu begreifen, dass sich ganz Amerika zur Zielscheibe gemacht sah. Zwar wusste ich, dass auch das Pentagon getroffen worden war, aber der Angriff auf einen verhältnismäßig niedrigen, vorstädtischen Militärkomplex schien weniger bedeutsam oder in menschlicher Hinsicht interessant. Der Urbanismus, die Verdichtung, die Vertikalität, der säkulare Humanismus, der Skeptizismus, die Populärkultur, der Massenverkehr, der Kommerz, das waren meiner Ansicht nach die angegriffenen Werte. Die amerikanischen Flaggen, die überall auftauchten, schienen mir dort passend, wo sie zu Ehren von Feuerwehrmännern und Polizisten hingen, wo sie der nationalistischen Selbstbestätigung Amerikas als "größter Nation" dienten, konnte ich nicht mitfühlen. Die einzige Flagge, die ich heraushängen wollte, war die orange-grün-weiße Flagge New Yorks.
Das Gerede in den Medien darüber, dass wir attackiert worden waren, weil wir frei waren und die Terroristen die Freiheit hassten, ekelte mich an. Warum konnten wir nicht einfach akzeptieren, dass uns etwas Schreckliches zugestoßen war - ohne uns sofort wieder selbst auf die Schulter zu klopfen zur Versicherung dessen, dass die Schrecklichkeit der Tat nur ein Zeichen unserer Überlegenheit darstelle.
Schnell legte man sich darauf fest, dass hinter den Anschlägen Osama bin Laden stecke und dass sie zum Teil ein Protest gegen die Unterstützung der USA für Israel darstellten. Als Jude fühlte ich mich ertappt, exponiert, verstrickt und hatte vor einem neuen Antisemitismus Angst. Ich war wütend auf die fundamentalistischen Terroristen, obwohl die Mehrheit der Muslime das Attentat verurteilten; ich war wütend auf die israelische Regierung wegen ihrer sturen Haltung und den verpassten Chancen, vor allem auf die Sharon-Netanyahu-Fraktion mit ihrer dreisten Häme des "Nun kennt ihr den Schmerz, mit dem wir leben"; ich war wütend auf Arafat und die Palästinenser, weil sie die Bedingungen von Ehud Barak, so unzureichend diese auch gewesen waren, nicht angenommen und das Beste daraus gemacht hatten, wütend auf die USA, die bin Laden, die Taleban und Saddam Hussein als antikommunistische Kräfte unterstützt hatten. Verwirrt und betrübt, wie mein Denken war, wusste ich aber eines ganz genau, nämlich dass ich das alte Argument meiner radikalen linken Freunde nicht hören wollte: "Die unterdrückten Völker, die gegen eine Hegemonialmacht wie die USA kämpfen, müssen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel verwenden, Terrorismus ist lediglich ein Etikett, das das amerikanische Imperium seinen Widersachern anhängt." Ich habe es nicht gehört, lediglich einer meiner Freunde zitierte selbstgefällig Malcolm X: "Die Tat fällt auf den Urheber zurück".
Die Menschen behaupten, dass New York durch den Angriff für immer verändert worden sei. Es ist leicht, das zu sagen, weniger leicht ist es, zu sagen wie. Einige Tage nach dem 11. September bemerkte ich, wie auffallend höflich die Menschen in der U-Bahn zueinander sind, ob aus größerer Gemeinde-Solidarität und Respekt vor Menschenleben oder aus Vorsicht gegenüber der potentiellen Wut des Anderen, kann ich nicht sagen. Kein New Yorker glaubt daran, dass die warmherzigen Gefühle des restlichen Amerika anhalten werden; es ist, als würde man von einem riesigen, vergesslichen Bernhardiner abgeleckt.
Die Türme, die Lower Manhatten verankert hielten, sind weg. Ich frage mich, wie ich mich persönlich verändert habe. Am Morgen des 12. wachte ich auf und erinnerte mich sofort an das, was passiert war, wie ein Mörder, dem der Horror seiner veränderten Moral bewusst wird. Ich habe nie daran geglaubt, dass Leiden die Menschen verbessert; ich glaube eher, dass diese furchtbare Erfahrung sich anfügen wird an jenes Narbengewebe, das andere Schrecknisse wie der Tod der Eltern, die Krankheit der Kinder oder die Scham einer Nation (My Lai) hinterlassen haben - Leid, über das man keine Kontrolle hat, das aber gerade deshalb das tiefste Bedauern auslöst.
Übersetzt von Barbara Schweizerhof
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