Aufstand der Anstelligen

Polen Die Amerikanisierung des Wirtschaftslebens unterläuft elementares Arbeitsrecht

Dass Polen seit jeher zwei große Brüder hatte, einen ungeliebten, namens Russland, und einen angebeteten, namens USA, ist Teil des kollektiven nationalen Selbstverständnisses. Klar, dass man den bösen Bruder ärgert, wo immer es geht. Klar, dass man für den guten Bruder alles tut, was er von einem verlangt, zur Not sogar in Kriege zieht. Klar auch, dass man den verehrten Großen zu imitieren sucht - schließlich liefert er das Vorbild. Wohl deshalb haben die Polen die schleichende Amerikanisierung ihrer Heimat bislang mehr oder minder willig akzeptiert: bei unzähligen Fast-Food-Ketten angefangen bis hin zu deregulierten Arbeitsverhältnissen en masse. Doch zumindest im Handel, der auch Sonntagsarbeit verlangt, rührt sich nun Widerstand.

Als selbst am 11. November, dem Tag der Unabhängigkeit, die Supermärkte offen blieben, gingen die Gewerkschaften auf Konfrontation. In seltener Eintracht stiegen Solidarnosc und der Gewerkschaftsverband OPZZ auf die Barrikaden. "Keine Arbeit an Sonn- und Feiertagen", stand auf den Transparenten, die vor der Polen-Zentrale der französischen Supermarktkette Geant aufgebaut waren. Nun wird landesweit protestiert.

Seit der polnische Staat das Arbeitsrecht der neuen kapitalistischen Ära angepasst hat, ist bei Dienstleistungen Sonntags- und Feiertagsarbeit ohne Einschränkungen erlaubt. Noch vor sieben Jahren gaben zwei Drittel der Polen an, niemals am Sonntag einzukaufen. Heute ist die Proportion genau umgekehrt: 68 Prozent nutzen die Möglichkeit. Ob Warschau, Krakau oder die gemeine Bezirksstadt auf dem flachen Land, überall das gleiche Bild: Der Einkaufstempel als Sonntagsvergnügen - früher ging man ins Kino oder las ein Buch, heute geht man einkaufen.

Nicht, dass derartige Bräuche anderswo ausblieben, doch die Freude, mit der die Polen sonntags die Supermärkte stürmen, ist beeindruckend und bedrückend zugleich. Janki, rund 15 Kilometer außerhalb von Warschau, ist ein solcher Ort ungehemmten Konsums: von Geant über H bis Saturn unterhalten hier alle Großen ihre Megastores. Und jeden Sonntag wiederholt sich das Spiel: ab Mittag wird das Areal immer voller.

Der Glaube, Sonntagseinkauf als Freizeitbeschäftigung sei ein Vergnügen der unteren Klassen, erweist sich in Polen als vollkommen realitätsfremd. Es ist eher die gehobene Mittelschicht, die sich hier durch die Geschäfte wälzt, bei Kentucky Fried Chicken die unvermeidlichen Hühnerkeulen verschlingt und sich dabei amerikanisch chic vorkommt. Für wirklich Arme wäre schon die Autobuskarte von Warschau nach Janki zu teuer.

In Polens überdimensionierten Einkaufstempeln trifft man daher vorzugsweise die wirtschaftlich Erfolgreichen, doch nicht übermäßig Betuchten, denen die erlauchten Innenstadtlokale und Boutiquen in Warschau zu teuer sind. "Ich arbeite von halb acht am Morgen, bis spät am Abend. Wann soll ich mir denn etwas zum Anziehen kaufen außer am Sonntag?", rechtfertigt eine etwa Dreißigjährige ihr Wochenend-Vergnügen.

Weil Polens Arbeitsrecht zwischenzeitlich löchriger ist als Emmentaler Käse, existiert der Achtstundentag für die meisten Arbeitnehmer nur auf dem Papier. Zehn, zwölf und mehr Stunden sind die Regel. Wer in der Woche kaum Zeit hat, ist auf den Sonntag als Einkaufstag angewiesen. Und das trifft nicht nur ausgebeutete Minderqualifizierte. Auch in gehobenen Jobs und erst recht bei jungen Universitätsabgängern, die ganz unten auf der Karriereleiter stehen, gilt: Das Leben ist hart, auf deinen Platz warten schon zehn andere. Ganz wie in Amerika. Schikanen, wie die in vielen Unternehmen geltende Dienstanweisung, jeden Toilettengang im Arbeitszeitprogramm minuziös zu dokumentieren, werden stillschweigend akzeptiert. Unbezahlte Übersunden sowieso.

Für die Angestellten im Handel ist die Lage allerdings besonders prekär: "Einerseits sind Überschreitungen der Tagesarbeitszeit üblich, andererseits werden die Leute im Handel auch noch zur Arbeit am Sonntag gezwungen. Man kommt zu gar nichts mehr", sagt Bozena Lopacka, ehemals bei der Supermarktkette Biedronka beschäftigt - heute eine Gewerkschaftsikone, weil sie als erste einen Prozess um unbezahlte Überstunden, bei dem es um umgerechnet 8.700 Euro Lohnnachzahlung ging, wagte und gewann.

Auch wenn Polens Zeitungen bereits von einem "Aufstand der Supermarkt-Sklaven" sprechen: Soviel Mut ist selten. Bei den meisten Discountern gibt es keine gewerkschaftliche Vertretung. Und wo es sie gibt, bleiben die Mitglieder aus Angst vor Repressionen im Untergrund und geben ihre Namen nicht preis. "Offiziell darf natürlich niemand wegen seiner Gewerkschaftszugehörigkeit gekündigt werden, in der Praxis lässt sich oft genug ein Vorwand finden", erzählt der Gewerkschafter Kacper Stachowski. Damit werde gewerkschaftliche Kampfkraft gebrochen und die Sonntagsarbeit bleibe unangetastet.

Vor vier Jahren schien eine Wende bereits in greifbarer Nähe. Die rechte Regierung von Jerzy Buzek hatte seinerzeit ein Gesetz platziert, das dem Handel Zügeln anlegen sollte, es trat jedoch nie in Kraft: Der postkommunistische Präsident Kwasniewski verweigerte seine Unterschrift.

Die verkehrte Welt, in der die Linke Interessen der Großkonzerne vertritt - und die Rechte aus Chauvinismus, weil die meisten dieser Unternehmen aus dem Ausland kommen, die Arbeiter verteidigt. Es passt in dieses Bild, dass nach dem Machtwechsel vom linken SLD-Bündnis zur rechtsnationalen Recht-und-Gerechtigkeit-Partei (PiS) die Regierung von Premier Marcinkiewicz nun den Einfluss von Supermärkten und Handelsketten einschränken will. Zur Begründung ist von der debütierenden Finanzministerin Teresa Lubinska zu hören, das Überleben polnischer Händler und Produzenten sei akut gefährdet.


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