Kein Futter mehr für das Arbeitstier

Polen Schlesiens Bergleute fühlen sich als ökonomischer Störfall und vom Rest des Landes verlassen

Polens Regierung will 2004 die Kohleförderung in Schlesien drastisch einschränken. Die Bergarbeiter fühlen sich im Stich gelassen und drohen mit einem Sturm des Protestes, den sie bis nach Warschau tragen wollen. Und damit nur teilweise den richtigen Adressaten treffen werden. Das flächendeckende Verschwinden der polnischen Kohle- und Stahlindustrie ist auch der Preis für die bevorstehende EU-Mitgliedschaft.

Sollte sich da etwas bewegt haben? Polens Wirtschaftsminister Jerzy Hausner hat angedeutet, dass die geplante Schließung der schlesischen Bergwerke Boleslaw Smialy, Bytom II, Centrum und Polska-Wirek vielleicht doch abgeblasen wird. Die Gewerkschaften müssten allerdings im Gegenzug einer Senkung der Fördermengen um 9,2 Millionen Tonnen jährlich zustimmen - eine neue Facette in einem inzwischen Jahre dauernden und zermürbenden Spiel.

Die sozialdemokratische SLD-Regierung von Premier Leszek Miller steht in Schlesien vor einem Problem, vor dem schon ihre Vorgänger kapitulierten. Sie mag tatsächlich - wie Jerzy Hausner betont - das sozialverträglichste aller bisherigen Reformprogramme haben, doch "denen aus Warschau" wird in Schlesien aus Prinzip misstraut. Aus leidvoller Erfahrung: 300.000 Menschen in der Region sind schon jetzt ohne Arbeit, 400.000 dürften es nach der Restrukturierung des Bergbaus sein. Hausner verspricht zwar, dass niemand ohne Garantie einer neuen Beschäftigung oder zumindest einer Frührente entlassen werde, doch Erinnerungen an frühere Versprechen dieser Art lassen die Bergleute skeptisch bleiben.

1998 wollte die rechte AWS-Regierung von Ministerpräsident Jerzy Buzek mit durchaus üppigen Abfindungen den Abschied von den Zechen schmackhaft machen. Wer ging, bekam umgerechnet rund 11.000 Euro bar auf die Hand. Heute ist offensichtlich: Die viel beschworenen Kleinbetriebe, die von den Entlassenen mit Hilfe dieser Gelder gegründet werden sollten, blieben eine Chimäre. Das meiste wurde für den Konsum verbraucht: Satellitenschüssel, Kühlschrank, Fernsehgerät. Die Sparte, die am meisten von den damaligen Zahlungen profitierte, war die der Elektrohändler.

Kein schlesisches Himmelreich

Tristesse beherrscht den schlesischen Alltag - und das nicht nur im Bytomer Stadtteil Bobrek, der in keiner Reportage polnischer Journalisten fehlt, die das Leben der ausgesonderten Bergleute porträtiert: Verfallende Plattenbauten, Geschäfte, in denen die Arbeiterfrauen auf Pump kaufen, Arbeitslose, die in Grüppchen vor einer Bar stehen. "Früher tranken wir, weil wir Geld hatten, heute trinken wir, weil wir verzweifelt sind", sagt ein Fünfzigjähriger, der am frühen Vormittag gerade sein drittes Bier konsumiert. Zur Schicht muss er schon lange nicht mehr.

"Die Gefahr, dass die Armut in Schlesien pathologisch wird, war noch nie so groß wie heute", urteilt Kazimierz Kutz, bekannter schlesischer Filmemacher und Vizemarschall des Senats, der zweiten Kammer des Sejm. "Der Konflikt zwischen der regierenden Schicht und den Arbeitern ist in Schlesien ein dauerhaftes Phänomen. Zur Zeit allerdings erleben wir eine unwahrscheinliche Zuspitzung."

In der Tat ist Schlesien in den Augen seiner Bevölkerung seit über 150 Jahren eine hemmungslos ausgebeutete Region. Zunächst - so heißt es - galten die Schlesier den Preußen als billige slawische Arbeitskraft, dann wurden trotz gewisser Autonomierechte die Hoffnungen, die sie mit dem Zwischenkriegspolen verbanden, bitter enttäuscht. Und nach dem Krieg bestimmten die Parteieliten über ihr Schicksal. Der blutige Streik in der Grube Wujek, mit dem Schlesien 1981/82 gegen die Einführung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski protestierte, ist Teil des kollektiven polnischen Geschichtsbewusstseins.

Inzwischen fühlen sich die Bergleute vom Rest Polens vollends verlassen. Keine überregionale Zeitung versäumte es in den vergangenen Monaten, wenigstens ab und zu die Gefeierten von einst auf ihre "ungeheuren Privilegien" hinzuweisen - sprich: das Recht auf einen zusätzlichen Monatslohn und einige weitere Zulagen.

Für Kazimierz Kutz eine bodenlose Übertreibung: "Wenn man ein Arbeitstier gnadenlos ausnützt, ist es das Mindeste, ihm wenigstens etwas mehr Futter zu geben." Den Widerstand der Arbeiter gegen die Schließungspläne der Regierung sieht Kutz daher als "Konflikt zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, einen Konflikt, wie ihn der Kapitalismus gebiert, ein wilder ungezügelter Kapitalismus". Kazimierz Kutz ist übrigens kein fahnenschwingender Sozialist. Für den Senat kandidierte er im Rahmen der biederen bürgerlichen Plattform Blok 2001.

Straßen und Plätze nach Gierek benannt

Immer öfter berichten Zeitungen von Kindern aus Schlesien, die auf fahrende Güterzüge aufspringen, um Kohle zu beschaffen und sie dann zu verkaufen - für viele Familien ein fast unverzichtbares Zusatzeinkommen. Die Waggons fahren normalerweise langsam. Wer einige Kilo auf die Gleise geworfen hat, kann hinterher ohne größere Probleme abspringen. Die große Gefahr sind entgegenkommende Schnellzüge - immer wieder gibt es tödliche Unfälle.

Die Armut hat auch skurrile Folgen: Nach dem kommunistischen Parteichef Edward Gierek, den die Solidarnosc 1980 mit den Streiks an der Ostsee-Küste aus dem Amt zwang, werden heute in Schlesien Straßen und Schulen benannt. In seiner Heimatstadt Sosnowiec stimmte sogar die Rechte dafür, einen Platz nach ihm zu benennen. Immer mehr Schlesier erinnern sich vor allem an eines: Als Gierek fast 20 Jahre Erster Sekretär der Wojewodschaft Katowice war, gab es in Schlesien Arbeit für alle, gemessen an den damaligen Verhältnissen sogar gut bezahlte Arbeit. Dass es eine Rückkehr zur Gierek-Ära nicht gibt, wissen freilich alle. Und dass die Kohle-Branche, so wie sie jetzt existiert, nicht überleben kann, ebenfalls. Doch während die Regierung Gruben zusperren und Fördermengen limitieren will, sehen Gewerkschafter andere Sanierungsmöglichkeiten. "Im operativen Geschäft machen die Bergwerke keine Verluste, was sie umbringt ist die Schuldenlast", sagt Daniel Podrzycki, Chef der Gewerkschaft Solidarnosc 80, und fordert die Regierung auf, die Altlasten der Gruben zu kappen. Notwendig sei aber auch eine Änderung der Finanzpolitik gegenüber der Branche: "Auf Kohle werden in Polen derzeit 21 verschiedene Steuern eingehoben! Zugleich beziehen Energieversorger von uns diesen Brennstoff zu Vorzugspreisen, während wir für Energielieferungen voll bezahlen. Wären die Chancen gerecht verteilt, könnte man in Schlesien Kohle sehr wohl gewinnbringend fördern. Und es ist verrückt, jetzt da die Wirtschaft wieder wächst, Fördermengen beschränken zu wollen."

Für den Fall, dass die Regierung bei ihren Reformplänen bleibt, glaubt Podrzycki an ein unvermeidliches Eskalationsszenario: "Ich hoffe es gibt eine Einigung, ansonsten könnten demnächst 100.000 Leute in Warschau sein. Danach wird es dort so aussehen, dass die Regierung die Hauptstadt gleich nach Krakau verlegen sollte."

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