Herbst oder Sommer? Die Antwort auf diese Frage ist in Polen inzwischen zu einem brisanten Bekenntnis geworden. Auf Juni vorverlegen möchte die Opposition die 2005 fälligen Sejm-Wahl - beim turnusmäßigen Herbsttermin bleiben will das regierende Bündnis der Demokratischen Linken SLD. Die Motive beider Seiten liegen auf der Hand: Den sicheren Gang in die Opposition noch etwas hinauszögern will die Linke, die Neuwahl schnell durchziehen, bevor ihre Werte wieder fallen, möchte die Rechte. Beides trifft zu und ist doch nur die halbe Wahrheit.
Seit die SLD ihre Spaltung in die Kern-Partei und die Reformer um Marek Borowski verkraften und bei den Wahlen zum Europaparlament eine verheerende Niederlage hinnehmen musste, steht eines außer Zweifel: Der Sejm repräsentiert mit seiner linken Mehrheit weder das aktuelle Kräfteverhältnis im Land noch den Willen der Bürger. Ursprünglich wollte die SLD-Regierung vorgezogenen Wahlen zustimmen, um zu ermöglichen, dass ein neues Kabinett das Budget für 2006 selbst entwerfen kann, denn bei einem Wahlgang erst im Herbst müsste ein Budgetprovisorium her.
Seit Ende Januar jedoch gilt, die SLD hält es für ratsam, das Votum über den nächsten Sejm mit den Präsidentenwahlen zusammenzulegen, die erst im Herbst fällig sind. "Das ist billiger", sagt Parteichef Oleksy. "Außerdem werden wir der Rechten nicht auch noch helfen, die Macht zu übernehmen und ihre verrückten Ideen durchzusetzen." Wie sein Parteivorstand wirft er den Rechtsparteien Recht und Gerechtigkeit (PiS) sowie Bürgerplattform (PO) vor, sie würden nach ihrem Sieg einen antidemokratisch-autoritären Kurs einschlagen und das Land in einen "kalten Bürgerkrieg" hinein ziehen, wie es der Chefredakteur des linken Wochenmagazins Przeglad, Robert Walenciak, formuliert.
Tatsächlich haben die Brüder Lech und Jaroslaw Kaczynski, die Führer von Recht und Gerechtigkeit, zuletzt mit abstrusen Ideen zur "Entkommunisierung" Polens für Aufsehen gesorgt. 15 Jahre nach der Systemwende wollen sie das ganze Land noch einmal nach mutmaßlichen Mitarbeitern des polnischen Staatssicherheitsdienstes SB durchkämmen und die SLD zum Schutz des Staatsinteresses "delegalisieren", sprich: verbieten. Auch wenn Letzteres unrealistisch sein dürfte, die politische Rhetorik hat sich mit diesem Ansinnen ungemein verschärft. So spuckt die in Meinungsumfragen führende Bürgerplattform (PO), die bislang als moderat rechts galt, inzwischen ebenfalls immer radikalere Töne und beteiligt sich an der - vorläufig noch medial geführten - Hexenjagd auf vermutete SB-Agenten. Die jähe Hinwendung der PO zum unerbittlichen Rechtspopulismus hat angesehene, größtenteils konservative Akademiker und Publizisten zur "Krakauer Deklaration" veranlasst: einem Protestbrief, in dem es heißt, die Bürgerplattform werfe ihre Prinzipien von Liberalismus, Toleranz und maßvoller Politik über Bord.
Doch bewirkt hat diese Intervention wenig. Umfragen bieten ein ernüchterndes Bild: die drei Stärksten im Rechtsblock - die Bürgerplattform, Recht und Gerechtigkeit sowie die Liga der Polnischen Familien (LPR) - dürfen auf etwa 50 Prozent der Stimmen hoffen und scheinen wild entschlossen, den Wahlkampf als rabiate Form der Vergangenheitsbewältigung zu bestreiten. Einmal mehr soll Polen getrennt werden in jene, die der kommunistischen Versuchung widerstanden und deshalb rechts zu wählen haben, und in die Linken, die als Kollaborateure des "ancien regime" denunziert werden. Für eine Vorahnung dessen, was da herauf zieht, sorgte in der ersten Februarwoche der militant antikommunistische Journalist Bronislaw Wildstein, der im Internet eine Liste von 240.000 "potentiellen" SB-Mitarbeitern veröffentlichte - ein Dokument aus dem polnischen Gegenstück der Gauck-Behörde, dem Institut für Nationale Erinnerung. Wildstein macht für sein Vorgehen persönliche Motive geltend: unter seinen Freunden sei zum einen der Oppositionelle Stanislaw Pyjas gewesen, der von der Staatssicherheit ermordet wurde, zum anderen ein gleichfalls langjähriger Widerständler, der in den neunziger Jahren als Agent und Zuträger des SB enttarnt wurde.
Die "Wildstein-Liste" hat nur einen Haken: sie enthält die Namen vieler Polen, die - ohne es zu wissen - als informelle Mitarbeiter geführt wurden oder als Agenten angeworben werden sollten, was aber nie gelang. Inzwischen beschäftigt das brisante Dokument die Staatsanwaltschaft, und die konservative Rzeczpospolita, bei der Wildstein als Redakteur angestellt war, sprach ihm wegen des Vorfalls die Kündigung aus. "Wir besaßen dieses Material schon länger, hatten aber entschieden, es nicht zu veröffentlichen. Wildstein verstieß gegen diese Abmachung", kommentiert Rzeczpospolita-Chef Grzegorz Gauden. Seine Absage an eine vom Tagesgeschäft diktierte Veröffentlichung polnischer Stasi-Akten hat auch ein Mann formuliert, der kaum unter dem Verdacht steht, ein Freund der SLD zu sein. "Es wundert mich schon", so Lech Walesa, "dass gerade diejenigen heute unsere Gesellschaft entkommunisieren wollen, die damals, als es gefährlich war, ganz still waren."
Unrecht hat er nicht, so war etwa der vehementer Fürsprecher einer radikalen "Entkommunisierung" Maciej Giertych von der Liga der Polnischen Familien während des Kriegsrechts ein glühender Anhänger von General Jaruzelski und arbeitete in dessen "Konsultationsrat" mit, der einen Dialog zwischen Staat und Opposition befördern sollte. Ryszard Bender, ein anderer Agentenjäger, war während der Ära Jaruzelski Deputierter des Sejm.
Dass die Rechte nach ihrem wahrscheinlichen Wahlsieg den "Krieg der Akten" noch intensiviert, ist freilich nicht der einzige Grund, weshalb die postkommunistische Linke erst im Herbst zur Wahl bitten will. Es gehe auch um die EU-Verfassung, meint Verteidigungsminister Szmajdzinski. "Nur eine Zusammenlegung des Referendums mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ermöglicht die nötige Wahlbeteiligung, damit das EU-Votum gültig ist. Die Rechte ist gegen die Europäische Verfassung und will ein gültiges Referendum verhindern." Über ein weiteres Motiv redet die SLD nicht, sie hofft, über die Sommerpause hinweg mit der Gewerkschaft OPZZ und dem nationalen Lehrerverband eine Wahlliste zustande zu bringen, die unter dem Namen Geeinte Linke wenigstens die Fünf-Prozent-Hürde überspringt.
Sejm-Wahl 2001 - Europawahl 2004
(Angaben in Prozent/in Klammern Zahl der Mandate)
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