Entfremdung sei "nur ein undeutlicher Begriff, dem man nicht trauen sollte". Das ist das Fazit, das der entsprechende Eintrag im Kritischen Wörterbuch des Marxismus aus der umstrittenen Stellung zieht, die das Motiv der Entfremdung in der Marxschen Theorie innehat. Und tatsächlich ist der Begriff der Entfremdung - das teilt er mit Begriffen wie "Ideologie" oder "Ausbeutung" - kein spezifisch marxistischer Begriff, sondern ein Begriff, den Marx aufgenommen, umgedeutet und auf charakteristische Weise produktiv gemacht hat. Ob man ihm allerdings "trauen" möchte oder nicht: Es lässt sich schwer bestreiten, dass "Entfremdung" zu Zeiten seiner Hochkonjunktur zu den populärsten und wirkmächtigsten Begriffen des Marxismus gehört hat. Wenn heute "Entfremdung" aus dem gesellschaftskritischen Vokabular nahezu verschwunden ist, so sind doch viele der mit dem Begriff einstmals assoziierten Motive nach wie vor virulent.
Strangers in the world
Entfremdung bedeutet Indifferenz und Entzweiung, Machtlosigkeit und Beziehungslosigkeit sich selbst und einer als gleichgültig und fremd erfahrenen Welt gegenüber. Entfremdung ist das Unvermögen, sich zu anderen Menschen, zu Dingen, zu gesellschaftlichen Institutionen und damit auch - so eine Grundintuition des Entfremdungsmotivs - zu sich selbst in Beziehung zu setzen. Eine entfremdete Welt präsentiert sich dem Individuum als sinn- und bedeutungslos, erstarrt oder verarmt, als eine Welt, die nicht "die seine" ist. Das entfremdete Subjekt erfährt sich nicht mehr als "aktiv wirksames Subjekt", sondern als "passives Objekt" (Joachim Israel), das Mächten ausgeliefert ist, die es nicht beeinflussen kann. Der Entfremdete ist, so der frühe Alasdair MacIntyre, "a stranger in the world that he himself has made".
Nun gibt es viele Gründe dafür, dem Begriff der Entfremdung Undeutlichkeit zu attestieren. Nicht nur deshalb, weil es immer umstritten geblieben ist, wie sich die Entfremdungsdiskussion der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte zum Werk des "reifen" Marx verhält.
Auch an den Kernstellen der Marxschen Entfremdungsdiskussion ist die Sache alles andere als klar. Schon in den berühmten Passagen über die "entfremdete Arbeit" bleibt es ja diskussionsbedürftig, wie genau die vier Dimensionen der Entfremdung - von der eigenen Tätigkeit, dem Produkt dieser Tätigkeit, dem Gattungswesen und den anderen Menschen - zusammenhängen. Entscheidender aber ist, dass auch innerhalb dieser Dimensionen als "entfremdend" Verhältnisse ganz unterschiedlicher Art firmieren. Von den Produkten seiner Tätigkeit wie auch von der Tätigkeit selber ist der entfremdet Arbeitende einerseits entfremdet, sofern diese ihm nicht gehören beziehungsweise er nicht über sie verfügt; andererseits ist er von ihnen entfremdet, sofern er sie als fragmentiert, beschränkt und sinnlos erfährt.
Marx´ Sozialphilosophie
Gerade in der damit angedeuteten Komplexität liegt nun aber auch das Potenzial des Entfremdungsbegriffs, seine Reichhaltigkeit und Anschlussfähigkeit. So ist es seine Pointe, einen Zusammenhang zu behaupten zwischen Enteignung, Machtlosigkeit und Kontrollverlust und dem, was man als Sinnverlust oder Verarmung bezeichnen könnte. Und gerade weil der Begriff gewissermaßen "unscharfe Ränder" hat, an denen Alltagsgebrauch und philosophische Verwendung sich wechselseitig durchdringen, konnte Marx mit ihm die Entzweiungsproblematik der Moderne einfangen und kapitalismuskritisch wenden. Ähnlich hat später Georg Lukács in seinen Begriff der Verdinglichung - ein enger Verwandter des Entfremdungsbegriffs - die Rationalisierungs- und Versachlichungsproblematik des zur Lebensform gewordenen Kapitalismus integriert.
Entfremdungskritik ist damit - und das macht sie in der heutigen Diskussionslage interessant - eine Kritik des Kapitalismus als Lebensform, Entfremdung einer der Schlüsselbegriffe dessen, was man die - wie auch immer skizzenhaft gebliebene - Marxsche Sozialphilosophie nennen könnte. Selbst- und Weltverhältnis sind im Entfremdungsbegriff verschränkt. Das gelingende Selbstverhältnis (als Verhältnis zu den eigenen Tätigkeiten) hängt ab von der gelingenden Bezugnahme auf Andere und Anderes, von der Möglichkeit, sich diese Verhältnisse "zu eigen" machen, sich als ihr Urheber, der in ihnen und durch sie wirksam ist, verstehen zu können. Entfremdung ist, was dieses Aneignungsverhältnis, diese Bezugnahme verhindert oder "in sich verkehrt". So jedenfalls könnte man die Grundintuition der Marxschen Entfremdungsdiagnose verstehen. Gegenüber geschichtsphilosophisch oder funktionalistisch motivierten Argumenten und gegenüber den heute dominanten gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen wäre die entfremdungstheoretische diejenige Argumentationslinie, die den Kapitalismus als eine Lebensform kritisiert, die eben diese Voraussetzungen für gelingendes Leben untergräbt.
Entscheidend ist dabei die spezifisch moderne Wendung, die Marx dem Entfremdungsbegriff gibt. Der Skandal der von ihm beschriebenen Entfremdung liegt ja darin, dass hier die eigenen zu fremden Mächten werden, dass es - analog zur religiösen Projektion auf den Fetisch - die Produkte der eigenen Tätigkeit sind, die, statt als "Spiegel der eigenen Gattungstätigkeit" zu fungieren, sich gegen ihren Urheber kehren. Ohne in die Debatte über Kontinuität und Nicht-Kontinuität des Marxschen Werks einsteigen zu wollen, lässt sich doch leicht sehen, dass das Motiv der "fremden Gestalt des Eigenen" sich in der späteren Kritik der politischen Ökonomie durchhält. Entfremdungskritik enthüllt den gesellschaftlichen Charakter dessen, was sich als Naturverhältnis ausgibt.
Standard-Kritik
Ist der Entfremdungsbegriff unzeitgemäß? Wenn heute der sex appeal der Entfremdungskritik so offenkundig nachgelassen hat - was ist es, das an ihr problematisch geworden ist?
Louis Althussers Kritik des Marxschen "Humanismus" war gewissermaßen die Vorhut eines generalisierten "Antiessentialismus", der die (Nach-)Foucaultianische Linke bei allen internen Differenzen eint. Entfremdung, so der Standardeinwand, scheint immer Entfremdung von einem vorausgesetzten "Wesen" oder einer "Bestimmung" des Menschen zu sein. Wo uns dieser Bezugspunkt aber abhanden gekommen ist, kann er als Grundlage der Kritik nicht mehr taugen. Nun lässt sich gegen diese Kritik wiederum einiges einwenden, denn das "gesellschaftliche Wesen" des Menschen ist gerade nicht das metaphysische "Wesen" im Sinne einer unveränderlichen Substanz. Dass aber die Entfremdungsthematik immer so etwas wie eine "Selbstmächtigkeit" von Subjekten einfordert und eine "Transparenz" der von ihnen geschaffenen Verhältnisse, lässt sich schwer leugnen. Im Motiv der Entfremdung als verhinderter Wiederaneignung der eigenen Arbeit ist nicht bedacht, dass es vielleicht auch eine unaufhebbar notwendige Fremdheit und Eigengesetzlichkeit von Handlungsfolgen geben könnte.
Das "antipaternalistische" Credo des zeitgenössischen politischen Liberalismus trägt ebenfalls zum Eindruck bei, die Entfremdungskritik sei veraltet. War in ihrem Zusammenhang nicht auch die Rede von "objektiv falschen Bedürfnissen"? Und führt die Bezugnahme auf vorgeblich wahre Bedürfnisse nicht unweigerlich zu einer Position, die es von einer übergeordneten Warte aus paternalistisch "besser weiß" und damit die moderne Freiheit des Individuums, "sein eigenes Leben zu leben" in Frage stellt? Auch hier lässt sich einwenden, dass Marx alles andere als einen "festgestellten" Bedürfnisbegriff hat. Und entgegen der "ethischen Sparsamkeit" des Liberalismus: Es müssen sich Lebensformen kritisieren lassen - das bleibt der Kern einer Bezugnahme auf die Entfremdungskritik. Hier stellt sich dann allerdings die Frage nach dem dieser Kritik zugrundeliegenden Maßstab.
Eine weitere zeitdiagnostische Dimension der möglichen "Unzeitgemäßheit" des Entfremdungsbegriffs drängt sich auf: Lebt der "neue Geist des Kapitalismus" (wie Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem gleichnamigen Buch zeigen) nicht gerade von der Entfremdungskritik? Setzen die zeitgemäßen Ich-AGs nicht auf authentisch motivierte "allseitig entwickelte" Persönlichkeiten, für die es zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen beruflichen Netzwerken und Freundeskreisen gar keine Grenze mehr gibt? Ist also in den vielfältigen Anforderungen an Flexibilität und Kreativität der modernen "Arbeitskraftunternehmer" die Marxsche Utopie des "morgens fischen, mittags jagen, abends kritisieren" nicht auf zynische Weise aufgehoben? Der Ansatzpunkt für eine Kritik der Entfremdung jedenfalls scheint damit obsolet zu werden.
Gibt es also keine Entfremdung mehr - oder nur nicht mehr ihren Begriff? Mit der Entfremdungsdiskussion könnten Fragen auf dem Spiel stehen, die man so leicht nicht loswird. Die große Beachtung, die Richard Senetts Buch The Erosion of Character (dt.: Der flexible Mensch) gefunden hat mit seiner These, der "flexible Kapitalismus" bedrohe Grundvoraussetzungen der Identität des Einzelnen und den sozialen Zusammenhang der Gesellschaft, oder auch die zunehmend geäußerten Bedenken gegenüber Tendenzen einer Vermarktlichung oder "Kommodifizierung" immer größerer Lebensbereiche, sind Anzeichen für eine wiedererwachenden Sensibilität gegenüber Phänomenen, die man mit Begriffen wie "Entfremdung" oder "Verdinglichung" in Verbindung bringen kann.
Unbefangen allerdings lässt sich an den Begriff der Entfremdung nicht anknüpfen. Wer seinen Gehalt wiedergewinnen möchte, muss dies in Form einer kritischen Rekonstruktion der in ihm versammelten Motive tun.
Rahel Jaeggi ist Wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Institut der GoetheUniversität Frankfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, politische Philosophie und Ethik. Im kommenden Jahr wird von ihr ein Buch zum Thema erscheinen: Entfremdung - Zur Rekonstruktion eines sozialphilosophischen Begriffs.
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