Letzte Woche habe ich eine Nacht auf unserem Balkon verbracht. Nicht freiwillig, denn es ist noch Winter, und die Temperatur beträgt abends um zehn nur drei Grad, aber mir blieb nichts anderes übrig, als auf unserem Balkon zu übernachten.
Wir haben einen schönen Balkon. Er gehört zu einer schönen Dachgeschosswohnung in einem ruhigen Bezirk, luftig und hell, und unser Balkon ist durch eine große Glastür von unserem Wohnzimmer getrennt. An dieser Glastür befindet sich ein Griff, der nur von innen zu öffnen ist, eine merkwürdige Konstruktion, und manchmal kam mir der Gedanke, dass mich eines meiner Kinder aussperren könnte, wenn ich zum Rauchen hinausgehe auf den Balkon. Hinterher sagte mir meine Tochter, dass Grenzsituationen wichtige Lebenserfahrungen sind, und sie hat Recht. Bis zu jenem Abend, an dem ich meine Söhne ins Bett gebracht hatte, auf unseren Balkon trat, mir wohlig eine Zigarette anzündete und den Sternenhimmel betrachtete über unserem stillen Hof, habe ich nicht geahnt, welche Gefahren unser zivilisiertes Leben in sich birgt, welche Überlebensängste man durchleiden kann und welche Kräfte man mobilisiert, um die Katastrophe glücklich zu überstehen.
Meine 17-jährige Tochter kam auf den Balkon hinaus, obwohl sie weiß, dass ich auf dem Balkon nicht gestört werden will. Es ging um ihren Freund, irgendwas, sie hatte gerade eine Beziehungskrise, doch in jenem Moment, in dem sie mit ihrer Erzählung beginnen wollte, klingelte das Telefon und ihr Freund war am Apparat. Hastig griff sie zum Hörer und schloss gedankenlos von innen die Tür, von mir unbemerkt, und zog sich zu einem langen Gespräch in ihr Zimmer zurück. Ich dachte mir nichts dabei. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und malte mir aus, was ich an diesem Abend noch anfangen könnte, die Küche aufräumen und hinterher gemütlich einen Film im Fernsehen sehen, doch als ich mich umwandte, um ins Wohnzimmer zu gehen, war die Tür versperrt. Es ist eine solide Tür. Stabil, aus doppeltem Glas, mit einem Rahmen aus Metall, keine Chance, von außen an den Griff heranzukommen, und fassungslos strich ich mit der Hand über das glatte kühle Glas und schaute von draußen ins hell erleuchtete Wohnzimmer hinein, das mir mit einem Mal unglaublich gemütlich erschien. Doch dann beschloss ich, ruhig zu bleiben und setzte mich wieder hin. So ein Telefonat kann ja nicht ewig dauern, dachte ich, blätterte in einem langweiligen Neckermann-Katalog, der einzigen Lektüre, die sich auf dem Balkon befand, und zündete mir eine zweite Zigarette an. Allmählich wurde es kalt.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Es können 10 Minuten oder auch drei Stunden gewesen sein, die ich auf dem Balkon hockte, ich wusste es nicht, ich hatte keine Uhr, kein Handy, doch kam es mir wie ewig vor, und allmählich wurde ich nervös. Dunkle Gedanken stiegen in mir auf, vielleicht war meine Tochter nach dem Telefonat verweint und erschöpft auf ihr Kissen gesunken und eingeschlafen, vielleicht fanden sie und ihr Freund keine Einigung und telefonierten bis zum Morgengrauen, während ich hier auf dem Balkon zitterte, mir die Knöchel an der Scheibe wund klopfte und verzweifelt ihren Namen rief, aber wenn sie ihre Zimmertür geschlossen hatte, konnte sie mich sowieso nicht hören, zumal ihr Zimmer am anderen Ende der Wohnung lag. Ich spürte, wie die Verzweiflung in mir wuchs, doch ich versuchte, nüchtern zu bleiben und das Beste zu machen aus dieser Situation, und plötzlich musste ich an ein Buch denken, das ich vor kurzem gelesen hatte, die Geschichte von einem schiffbrüchigen Jungen, der gemeinsam mit einem Tiger in einem kleinen Rettungsboot 200 Tage auf dem weiten Ozean überstand, er hat unter den unglaublichsten Bedingungen Fische gefangen, Blut und sogar Augen von Schildkröten ausgeschlürft, um seinen Durst zu besänftigen, Haie vertrieben, sich bei einem Sturm mit letzter Kraft an das Boot geklammert und den Tiger in Schach gehalten, während meine Situation dagegen vergleichsweise paradiesisch war - ich befand mich lediglich auf einem Balkon, mitten in Berlin, inmitten der Zivilisation!
Noch immer an das Buch denkend inspizierte ich den Balkon und das Inventar. Ich musste die Tür doch irgendwie aufbekommen, aber es gab keinerlei Werkzeug, noch nicht einmal ein rostiger Nagel, nur ein paar Steingut-Töpfe standen herum, mit verwelkten Pflanzen darin, ein halbvoller Aschenbecher, ein paar Kieselsteine und zwei Säcke mit Erde, halb gefüllt. Ich selbst war bekleidet mit einem Wintermantel, ein paar dünnen Jeans, einem Pullover und löchrigen Pantoffeln, ich hatte kein Essen dabei, kein Getränk, nur ein Feuerzeug und zwei Zigaretten - angesichts einer langen ungewissen Nacht für einen Raucher nicht viel. Ich beschloss, mir die Zigaretten einzuteilen und darüber nachzudenken, welche Möglichkeit mir noch blieb.
Ich könnte die Tür mit einem Topf einschlagen - nein! Wahrscheinlich ging eher ein Steingut-Topf kaputt als diese Tür, schon gar nicht half ein Kieselstein, und selbst, wenn es mir gelänge, kostete eine neue Tür mindestens 200 Euro - dann wollte ich doch lieber diese Nacht überstehen!
Ich könnte um Hilfe schreien, aber ich schreie nicht gern, außerdem ist unser Hof sehr groß. Mindestens 80 Meter sind es bis zum gegenüberliegenden Haus, dazwischen liegen Schrebergärten, jetzt still und verlassen, mitten in der Nacht - es ist also unwahrscheinlich, dass mich jemand hört. Und wenn - was sollte ich sagen?: "Rufen Sie bitte die Feuerwehr! Meine Tochter hat mich auf den Balkon gesperrt?" Wahrscheinlich würde die Feuerwehr die Sache als groben Unfug abtun, wenn sie überhaupt käme, und eine Rechnung für die Verunglimpfung der Feuerwehr wäre wahrscheinlich ebenso hoch wie die für eine kaputte Tür.
Ich könnte zum Fenster meiner Tochter klettern, quer über das Dach, aber das Dach ist sehr steil und ich bin kein sportlicher Mensch. Wahrscheinlich würde ich mit den Pantoffeln irgendwo hängen bleiben, abstürzen, im letzten Moment nach der Regenrinne greifen und sie mit mir in die Tiefe reißen, wie in einem schlechten Action-Film, nur dass mich kein Super-Man retten würde, und das wäre das Ganze irgendwie auch nicht wert!
Ich könnte Kieselsteine werfen, zehn Meter bis zum Fenster meiner Tochter, und das tat ich auch sofort. Meine Tochter sagte mir hinterher, sie habe gedacht, es sei ihr Herz, das so pochte, aber weil es irgendwie störte, machte sie ihr Fenster zu. Als ich das Geräusch des schließenden Fensters vernahm, begriff ich, dass es keine Rettung mehr gab. Ich ließ mich in die Knie sinken, mit dem Rücken an der glatten Tür hinab und begriff, dass ich nur noch eine Chance hatte: ich musste mich so gut wie möglich einrichten auf dem Balkon. Ich könnte mich zusammenkauern, an angenehme Dinge denken, um mich abzulenken, ich könnte meine letzten Zigaretten rauchen, eine, wenn die letzten Lichter in den Häusern ringsum verlöschen, eine im Morgengrauen, wenn wieder Hoffnung naht, ich könnte mich mit den Sandsäcken bedecken, um die Kälte zu mildern, oder einen Wall um mich bauen, gegen den Wind, ich könnte mir meine Arme um die Schultern legen oder zwischendurch hüpfen, weil das gegen die Kälte hilft, und irgendwann am Morgen würden meine Söhne schlaftrunken ins Wohnzimmer torkeln, mich verständnislos hinter der Scheibe hocken sehen, langsam die Tür öffnen und mich retten von diesem verfluchten Balkon. Ich glaube, ich habe mir noch nie zuvor gewünscht, meine Söhne würden am nächsten Morgen aufwachen, möglichst früh.
Nachsatz:
Ich habe insgesamt zwei Stunden auf dem Balkon verbracht, mehr nicht. Irgendwann erschien im Haus gegenüber eine Frau am Fenster, von meinem Klopfen und den scheppernden Kieselsteinen auf dem Dach aufgeschreckt, und ich war inzwischen so verzweifelt, dass ich schrie. "Könnten Sie meine Tochter anrufen, sie hat mich ausgesperrt!" Es dauerte eine Weile, bis die Frau begriff. Wahrscheinlich schüttelte sie den Kopf über diese Verrückten gegenüber, aber sie griff zum Telefon, ich musste ihr meine Nummer diktieren, schreiend, quer über den Hof, fünfmal schrie ich unsere Nummer, fünfmal verkündete sie: "Es ist besetzt!", und beim sechsten Mal hatten wir endlich Glück. Endlich kam meine Tochter zurück, ganz erschrocken, aber immer noch befangen in ihrem Gespräch, "Es ist vorbei!" sagte sie, und öffnete die Tür.
Rahel von Wroblewsky, geboren 1964, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie erhielt mehrere Literaturpreise und veröffentlicht in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien.
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