Des-Informationstechnik

MARKTPSYCHOLOGIE Mit dem Ruf nach der Greencard versuchen die Unternehmen, ihre Einstellungs- und Lohnpolitik gegenüber anspruchsvolleren Experten zu retten

Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus: Hieß es gestern noch »das Boot ist voll«, gilt heute als ausgemacht, dass Zigtausende von ausländischen IT-Experten ins Land müssten - damit die Internet-Wirtschaft in Schwung komme. Die das fordern, sind Vertreter einer Branche, die vor kurzem noch via Werbespot und Modedenker verkündete, dass das Internet den Raum vernichte: Weltweite Kooperation ohne die Notwendigkeit, sich noch körperlich durch den Raum zu bewegen - das sei alles greifbare Realität. Die Arbeit wandere heute schon mit der Sonne um die Erde. Weshalb die Osteuropäer und Asiaten sich jetzt doch auf den Weg machen sollen, bleibt ihr Geheimnis. Oder haben damals ein paar Leute einfach den Mund zu voll genommen?

Natürlich wissen diejenigen, die jetzt die Greencard loben, auch genau, wer schuld an der Malaise auf dem IT-Arbeitsmarkt ist: die Technikfeindschaft und das Bildungssystem, das versäumt habe, die angemessen qualifizierten Absolventen in hinreichender Zahl zu produzieren. Dass sie es vor ein paar Jahren selbst nicht besser wussten, scheint sie so wenig zu scheren wie die Inkongruenz dieses Erklärungsmusters mit ihrer sonstigen Weltsicht. Die relative Knappheit an IT-Fachleuten heute ist die Folge eines marktkonformen Verhaltens der Studienanfänger während des vergangenen Jahrzehnts. Anscheinend regelt der Markt doch nicht alles zur Zufriedenheit seiner Anhänger.

Jedenfalls hielten die Signale, die er aussandte - hohe Arbeitslosigkeit bei Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Informatikern, Einstellungsstopp und rabiater Belegschaftsabbau bei den Großunternehmen der High-Tech-Branchen - genügend junge Leute vom Studium der betreffenden Fächer ab. Mit den bekannten Folgen: Einbruch der Studenten- und schließlich auch der Absolventenzahlen. Dass sich viele Unternehmen damals mit den älteren Mitarbeitern auch der Fähigkeit entledigten, Wissen und Know-how kontinuierlich weiterzugeben, ist eine gern verdrängte Tatsache. Denn bis aus einem Absolventen ein Ingenieur wird, bedarf es einiger Zeit und vor allem der Anleitung durch erfahrene Kollegen.

Für die heute in der Öffentlichkeit gehandelten Bedarfszahlen - seien es nun 30.000, 70.000 oder gar 100.000 - gibt es keine seriöse Grundlage. Offensichtlich hat man hier einfach die Zahl der ausgeschriebenen Stellen addiert und mehr oder weniger großzügig in die Zukunft extrapoliert. Die Großen der Branche sind durchaus in der Lage, freie Stellen zu besetzen. Schwierigkeiten haben vor allem die Kleinen; und zwar deshalb, weil sie sich den Aufwand, den die Großen betreiben, nicht leisten können. Eine - durchaus wünschenswerte - fundierte und nach Qualifikationen aufgeschlüsselte Auskunft über ihren Fachkräftebedarf ist die Branche bisher schuldig geblieben. Dazu müsste sie erst ihre Hausaufgaben machen und dabei auch überlegen, wie manche boomende Segmente nach ihrer fälligen Konsolidierung aussehen werden.

Hinter der Greencard-Initiative scheint eine doppelte Furcht zu stehen: erstens könnte die Position der IT-Fachleute, ihre knappheitsbedingte Verhandlungsmacht zu stark werden, und zweitens wollen die Unternehmen unbedingt an ihrer Einstellungspolitik festhalten, die über 35-Jährige zunehmend aus der Branche verdrängt. Dabei scheint man es mehr auf die psychologische Wirkung abgesehen zu haben als auf die reale: Den am schwersten wiegenden Mangel werden die osteuropäischen und asiatischen Experten nicht oder zumindest nicht kurzfristig beheben können. Denn gefragt ist nicht der rein fachliche Experte. Wenn es nur darum ginge, ließe sich das Problem tatsächlich weitgehend via Internet lösen. Ein sich ausweitender IT-Einsatz erfordert darüber hinaus vor allem Fachleute, die beraten, unterstützen, dokumentieren und unterrichten, die also über eine Mischung analytischer, konzeptioneller sowie kommunikativer, das heißt vor allem sprachlicher Fähigkeiten verfügen und zudem mit dem jeweiligen Anwendungsgebiet vertraut sind.

Importierte IT-Experten mit unzureichenden Kenntnissen der deutschen Sprache, der Verhältnisse und Gepflogenheiten am Einsatzort sind also nur von beschränktem Nutzen. Sie müssten erst eine Menge lernen und das heißt besonders: sich auf ihr Gastland einlassen. Dabei entpuppt sich die immer wieder hervorgehobene Befristung der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis nicht nur als entscheidendes Hindernis, in ihr setzt sich auch die inhumane Tradition der deutschen Ausländerpolitik fort, die glaubt, man könne Arbeitskräfte hereinholen und die Menschen draußen lassen.

Der beschränkte Nutzen importierter IT-Experten lässt auch die Rezepte zur Reform des Bildungswesens, mit denen interessierte Kreise aus dem vorliegenden Anlass die Öffentlichkeit überschwemmen, als höchst fragwürdig erscheinen. Auf bloße Akzeptanzpädagogik zielende Initiativen wie »Schulen ans Netz« helfen den Schülern nicht, die Fähigkeiten zu auszubilden, die ein bedachter und fruchtbarer Umgang mit der Informationstechnik erfordert. Wer in seiner Jugend viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt, verfügt keinesfalls zwangsläufig über die kritische Distanz, das analytische, konzeptionelle und sprachliche Vermögen oder gar die soziale Geschicklichkeit, Mittel und Zwecke in Relation zu setzen, deren eine wirkliche Beherrschung dieser Technik bedarf.

Die jetzt wieder propagierte Akzeptanzpädagogik schafft vor allem Konsumenten für das wachsende kommerzielle Medienangebot. Was für AOL und T-Online gut ist, muss nicht gut für Schüler sein. Tagespolitik ist die Kunst, mit großem propagandistischem Aufwand Scheinprobleme aufzuwerfen, um sie anschließend mit viel Getöse einer Scheinlösung zuzuführen, die in Wirklichkeit andere Zwecke verfolgt, als man öffentlich zugeben möchte. Das entlarvt kaum eine andere Debatte der letzten Zeit mehr als die über die Greencard.

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