Tatort München vor wenigen Wochen: Der Stadtrat beschließt, sich von Microsoft Windows zu verabschieden und die 16.000 PCs der Verwaltung in Zukunft mit dem offenen Betriebssystem Linux auszurüsten. Vordergründig handelt es sich um einen weiteren Meilenstein auf dem Weg von der Hackerspielerei zu einer Software, die auch Investmentbanker ernst nehmen. "Fear the Penguin" rät, an die Unternehmen der Informationstechnik (IT) gerichtet, der Titel einer Studie, die Goldman Sachs, eines der führenden Häuser an der Wall Street, dem Außenseiter-Betriebssystem widmete, dessen Anhänger einen Pinguin namens Tux als Maskottchen in Ehren halten.
Dass eine Software, deren programmiersprachliche Urfassung, der Quellcode, offen liegt und frei kopierbar ist, die also nicht in Warenform auftritt, soviel Erfolg hat und Aufmerksamkeit findet, ruft die Gesellschaftstheoretiker auf den Plan, von denen einige die These vertreten, dass darin sich eine "andere Ökonomie" jenseits des Kapitalismus abzeichne. So etwa kürzlich André Gorz in einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung WoZ. Auch wenn angesichts des heutigen Weltzustandes die Suche nach Hoffnungsschimmern verständlich ist, sollten linke Theoretiker nicht auf nüchterne Analysen verzichten. Wenn profitorientierte Unternehmen Allmenden, also freie, jedermann verfügbare Güter, nutzen, dann ist das zunächst nichts Spektakuläres. Das geschieht seit Jahrhunderten mit Wasser, Luft und Boden sowie heute auch mit dem Straßennetz, das seinen kommerziellen Nutzern zu Kosten weit unter denen seiner Reproduktion verfügbar ist. Spannend ist dagegen ein anderer Aspekt: Im Fall Linux hat weder die Natur noch eine gesetzlichen Direktiven und Qualitätsstandards unterliegende öffentliche Verwaltung, sondern eine spontane Vereinigung von Individuen ohne vordergründige wirtschaftliche Interessen ein Produkt hervorgebracht, das auch anspruchsvolle Nutzer zufrieden stellt.
Wie ist das möglich? Die Antwort, die man darauf von vielen Seiten erhält, lautet: Weil hier eine ganz andere Ökonomie wirke, in der Kategorien wie Ware, Wert und Profit keine Gültigkeit mehr hätten. André Gorz und andere sprechen von einer "Wissensökonomie", die den Kapitalismus in eine Krise stürze. Das grundlegende technische Faktum, auf das sich ihre Argumentation stützt, besteht darin, dass es heute mittels breit verfügbarer Technik möglich ist, digital codierte und auf geeigneten Medien vorliegende Daten praktisch kostenfrei zu vervielfältigen und zu versenden. Kosten sind in der digitalen Sphäre vor allem Fixkosten: Einerseits muss die gesamte Produktions-, Vervielfältigungs- und Transportmaschinerie bereit gestellt werden und andererseits entstehen Fixkosten dann, wenn Texte, Musik oder Software erstmalig hervorgebracht werden. Die Auflage ist von untergeordneter Bedeutung. Unter diesen Bedingungen lässt sich der einzelnen Kopie kein begründbarer Preis mehr zuordnen. Die Modelle, die dem herkömmlichen Geschäft mit Büchern und Platten zugrunde liegen, sind in diese Sphäre nicht übertragbar - es sei denn, es gelänge den Anbietern, auch in der digitalen Welt das Kopieren zu behindern oder gar zu verhindern. Entsprechende Versuche gibt es, etwa durch intensivierte Überwachung sowie durch technische Hürden, die allerdings tief in Freiheitsrechte eingreifen, da sie die Anwender transparent machen und ihnen die Verfügungsgewalt über ihre Rechner nehmen.
Gegenüber solchen Versuchen, private Eigentumsrechte geltend zu machen, gibt es eine nahe liegende Alternative. Das, was seinem Charakter nach ein öffentliches Gut ist, sollte auch als solches behandelt werden. Öffentliche Güter zeichnen sich dadurch aus, dass es unverhältnismäßig aufwendig oder gar sinnlos ist, sie exklusiv zugänglich zu machen. Im Falle digitaler Daten sprechen die Freiheitskosten einer effektiven Privatisierung ebenso dafür, sie als öffentliche Güter zu behandeln, wie der Umstand, dass ihr Wert, sofern sie Verfahren oder Wissen von allgemeinem Interesse repräsentieren, durch ihre Verbreitung steigt.
Die Logik, der ein öffentliches Bildungswesen folgt, stimmt auch für die Standardsoftware: eine einheitliche Systemplattform, einheitliche Formate und Protokolle für den Datenaustausch, einheitliche Text- und Rechenblattsoftware sind etwas Ähnliches wie eine einheitliche Sprache und ein einheitliches Maßsystem. Zeitgenossen wie Bill Gates sind deshalb vor allem Rentiers: Sie kassieren eine Gebühr für die nahezu kostenfrei erstellte Kopie ihrer Version der digitalen Grammatik. Was liegt da näher, als diese Version durch eine öffentliche zu ersetzen? Ganz nebenbei sägen nicht allein die deutschen öffentlichen Hände auch ein wenig an der Position der US-Wirtschaft: Die ökonomische Basis des Empire wird löchriger.
Alternativen zu den Microsoft-Produkten auf Schreibtischrechnern können aber erst dann über ihre Nische hinauswachsen, wenn eine kritische Masse von Anwendern da ist. Genau dafür könnten Fälle wie der von München sorgen, wo man, anders als etwa im Bundestag, sich nicht nur bei den Servern, also bei den Rechnern, die Daten-, Rechen- und Kommunikationsdienste bereitstellen, sondern auch bei den Schreibtischrechnern für Linux entschieden hat. Bei Servern ist die Position von Linux mit einem Marktanteil von 13 Prozent jetzt schon stärker und bedroht dabei weniger die hier ohnehin schwache Stellung von Microsoft, sondern Hersteller wie Sun mit ihren eigentumsrechtlich geschützten (proprietären) Unix-Systemen. Linux wächst hier, vor allem dank der Unterstützung durch IBM, wesentlich schneller als die Konkurrenz und bedroht auch die Domäne von Sun, das Segment der Hochleistungsserver. Marktforscher prophezeien bereits, dass der Linux-Anteil in diesem Bereich in wenigen Jahren auf 30 bis 50 Prozent wachsen wird.
Heißt das nun, dass die ganze IT-Industrie sich auf dem Pfad in eine alternative Ökonomie befindet? Nein, was hier geschieht, reflektiert einen ganz anderen Umbruch, den IBM wie sonst niemand wahrgenommen hat. Das Wertschöpfungspotenzial von Hardware und Standardsoftware schrumpft unaufhaltsam, zumal die Herstellung beider sich in Niedriglohnländer auslagern lässt. Und die Microsoft-Profite basieren auf einer Monopolposition, die IBM für angreifbar hält. Wenn nun, so das Kalkül von IBM, die Marktmacht von Bill Gates schrumpft, dann werden die Kundenbudgets zugunsten sinnvollerer Dinge entlastet, die IBM und ihre Verbündeten im Programm haben.
Die Theoretiker, die von Linux und ähnlichen Systemen einen Aufbruch in transkapitalistische Gefilde erwarten, haben die IT-Industrie offenbar unzureichend analysiert. Vor allem haben sie genau so wenig wie die Ideologen der New Economy verstanden, dass man Wissen nicht mit digitalen Daten verwechseln darf. Der Umfang des Wissens und der Verfahren, den man digital verbreiten und, aus der Dose aufgebrüht, instant verwenden kann, hat enge Grenzen - und diese Grenzen sind auch die des Linux-Modells. Zum größten und weiter wachsenden Teil lebt die IT-Branche davon, ihre Kunden zu beraten, auszubilden und zu unterstützen sowie Systeme zu planen, zu programmieren, zu installieren und zu betreiben. Die Programmierung macht nur einen kleinen Teil des Geschäfts aus und davon entfällt wiederum nur ein kleiner Teil auf Standardsoftware, ein weitaus größerer auf kundenspezifische Entwicklung, Anpassung und Erweiterung von Software - Software, die nur für wenige Anwender von Bedeutung ist und die niemand einfach so bereitzustellen willens oder in der Lage ist.
Diese Tätigkeiten, die immer besonderes, anwendungs- und kundenspezifisches Wissen erfordern, kann man auch nicht so leicht ins indische Bangalore oder nach St. Petersburg auslagern. Das stärkste Motiv, Linux den Vorzug zu geben, liegt auch nicht in ein paar Euro gesparter Lizenzkosten, sondern darin, dass Linux es kompetenten Fachkräften leichter macht, angepasste und Ressourcen optimierende Betriebs- und Anwendungskonzepte zu realisieren und dadurch erheblich mehr zu gewinnen als allein den Gegenwert von Lizenzen.
Trotz der notwendigen Ernüchterung ist es richtig, die Potenziale der offenen Software sorgfältig auszuloten. Sie stellt nicht den Aufbruch in eine Ökonomie jenseits des Kapitalismus dar, sondern erinnert daran, dass es innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie Bereiche gibt, in denen Warenproduktion und Markt gesellschaftliche Bedürfnisse nicht erfüllen. Auch profitorientierte Unternehmen brauchen eine funktionierende öffentliche Infrastruktur inklusive anerkannter, nicht privatisierter Softwarekomponenten.
Vielleicht kann das erneuerte Interesse an öffentlichen Gütern eine gewisse Barriere gegen neoliberale Privatisierungsideologien bilden. Aber offene Software ist keine Utopiemaschine. Sie sollte vielmehr als Stein des Anstoßes genommen werden - für eine überfällige Debatte über das Recht der Gemeinwesen, ihre vitalen Belange auch selbst zu regeln. Gegenwärtig wird offene Software nur wie ein öffentliches Gut konsumiert, jedoch nicht wie ein öffentliches Gut produziert und finanziert. Die Projekte leben vorwiegend von den Ambitionen und der Selbstausbeutung der dort Engagierten und zum Teil auch vom Sponsoring interessierter Unternehmen wie IBM. Linux-Anhänger machen sich allzu bereitwillig zum Opfer einer Legende, wenn sie behaupten, das Modell der Softwareentwicklung in freier und offener Kooperation sei unschlagbar und produziere automatisch innovative Software in Spitzenqualität. Die sogenannte Ökonomie der Anerkennung, die manche Beobachter hier vermuten, entfaltet nur eine begrenzte Antriebskraft. Der ursprüngliche Linux-Kern stellt keinesfalls innovative Spitzentechnologie dar, sondern folgt einem konventionellen Schema. Das trifft auch auf andere offene Software zu und kann als Erfolgskriterium vieler Projekte gelten. Anders könnten sie nicht als Übungsraum einer expandierenden Informatikausbildung fungieren. Andererseits lebt Linux auch von vielen qualitativ hochwertigen Komponenten, die aus früheren, öffentlich finanzierten und damals tatsächlich innovativen Projekten stammen.
Nichts spricht dagegen, diese Fäden wieder aufzunehmen und die Entwicklung offener Software auch öffentlich zu finanzieren. Zugleich könnte offene Software als Modell für mehr Transparenz und für einen offen ausgetragenen Wettbewerb um gesellschaftlich sinnvolle Ideen und Konzepte dienen. Die öffentliche Hand veranstaltet schließlich auch Architektenwettbewerbe. Wichtiger als die Elektronifizierung bürokratischer Prozeduren, wie etwa des immer wieder angeführten Meldewesens, wäre es zum Beispiel, sämtliche Daten zu Bevölkerung, Gesundheit, Rente, Wirtschaft, Verkehr und zur Verwaltung ins Internet zu stellen und alternative, mit einander konkurrierende Forschungsprojekte zu fördern, die ihre Ergebnisse ebenso frei zugänglich zu machen hätten. Die Macht der Begutachtungs- und Beratungskartelle in Politik und Forschungsförderung ließe sich so erheblich begrenzen. Statt Konformismus in fast allen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen würden wir vielleicht mehr von dem erleben, was diese Gesellschaft mehr denn je braucht: einen offenen und informierten Dialog über Reformen, die diesen Namen verdienen.
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