Die These vom Ende der Arbeit ist grober Unfug

Ökonomischer Mainstream Ein Amerikaner, der dagegen anschreibt, hat in Europa schlechte Karten

Ein US-amerikanischer Autor, der gegen den ökonomischen Mainstream anschreibt, muss über beachtliche Meriten verfügen, um diesseits des Atlantik wahrgenommen zu werden. Doug Henwoods Vita - seit 1986 Herausgeber des Manhatten Left Business Observer, 1994 Veröffentlichung eines Atlas der sozialen Geographie der USA und 1997 mit Wall Street eines Buchs, das die Funktionsweise und die Profiteure des New Yorker Finanzzentrums zum Gegenstand hatte - reicht offenbar noch nicht, um ihm genug Reputation zu verschaffen. After the New Economy - vor Jahren unter dem Titel New Economy angekündigt - enthält dennoch gleich mehrere Thesen, die in Europa zur Kenntnis genommen werden sollten.

Zum Beispiel eine Bestandsaufnahme des US- und Weltkapitalismus nach dem Zusammenfall des letzten Booms. Dessen Ursache sieht Henwood in den Verschiebungen der Macht- und Verteilungsverhältnisse, die der Klassenkampf von oben hervorgebracht hätte. Seinen Beginn markieren Namen wie Paul Volcker (Übernahme des Vorsitzes der Federal Reserve, der US-Zentralbank), Margret Thatcher und Ronald Reagan an der Spitze von Großbritannien und den USA. Dieser Klassenkampf von oben sei die hauptsächliche Ursache für wachsende soziale Polarisierung und keineswegs die Globalisierung.

In dieser Zuspitzung steckt eine wichtige Botschaft für die Diskussion in Europa. Bis hin zur deutschen Sozialdemokratie rechtfertigen beinahe alle Regierungen ihre Politik mit der "Globalisierung", die keine andere Wahl zulasse, als die Masseneinkommen zu senken. Henwood hingegen verweist auf das sogenannte Kaldor-Paradox. Es beschreibt, dass die auf dem Weltmarkt erfolgreichsten Volkswirtschaften gegen jede populäre Annahme nicht die mit den niedrigsten, sondern die mit den höchsten Kosten seien. Henwoods Argumentation trifft sich mit der des UNCTAD-Chefökonomen und vormaligen Lafontaine-Staatssekretärs Heiner Flassbeck. Wie Flassbeck führt auch er die hohe europäische Arbeitslosigkeit auf Regierungsentscheidungen zurück: Auf die in Maastricht kodifizierte Politik der hohen Zinsen und klammen Kassen, die durchaus auch als Klassenkampf von oben lesbar sei.

Damit rückt eine nächste interessante Botschaft ins Blickfeld: Die populäre These vom Ende der Arbeit hält Henwood für groben Unfug. Er bescheinigt US-Autoren wie Aronowitz und Rifkin eine Unfähigkeit, Statistiken zu lesen und die amerikanische Realität wahrzunehmen. Die heiße nämlich ganz platt: Mehr Arbeit für weniger Geld. Er charakterisiert die US-Wirtschaft deshalb als Arbeitshaus-Ökonomie. Es habe nicht nur das Gesamtvolumen der Arbeit seit Jahrzehnten zugenommen, sondern auch die Zahl der Arbeitsstunden, die erforderlich sei, um ein durchschnittliches Familieneinkommen zu erzielen - 1947 bis 2001 um mehr als 50 Prozent. Übereinstimmend mit dem, marxistischer Tendenzen eher unverdächtigen Paul Krugman, der dasselbe Urteil kürzlich in The Nation publizierte, stellt Henwood fest, die US-Gesellschaft sei nach dem Zusammenbruch der New Economy sozial wieder so polarisiert wie vor 80 Jahren. Alles, was Regierungen von Roosevelts New Deal bis zu Johnsons Great Society zur Kompensation sozialer Gegensätze getan hätten, sei revidiert. Davon hätte vor allem das wohlhabendste Zehntel der Bevölkerung profitiert. In der sozialen Polarisierung würden nur noch Länder wie Brasilien und das postsozialistische Russland die USA übertreffen. Auch die Rede von der höheren sozialen Mobilität, die das Gewicht der Polarisierung mildern würde, entlarvt Henwood, wie Krugman auch, als Mythos. Wenn man "Arbeiterklasse" als den Teil der Bevölkerung definiere, der durch seine Vermögenslage gezwungen sei, vom Verkauf der Arbeitskraft - der eigenen oder der von anderen Familienmitgliedern - zu leben, dann umfasse sie mindestens vier Fünftel der US-Gesellschaft. Von der Demokratisierung des Eigentums, das die New Economy zum Beispiel durch Streuung von Aktien angeblich erzielt hätte, sei nichts zu spüren.

Henwood belegt seine Thesen mit einer Fülle gut aufbereiteten Zahlenmaterials; die Stärke seines Buches aber liegt in dem reflektierten Umgang mit volkswirtschaftlichen Statistiken. Er verdeutlicht, dass Zahlen nicht unmittelbar Realität widerspiegeln, sondern einen Filter beinhalten, der die Form von Definitionen und Messmethoden annehme. Beispielhaft exerziert er dies bei Begriffen wie "Armut" und "Produktivität" durch. Bei der Ermittlung einer Größe "Produktivität" zum Beispiel, die als Quotient von Arbeitsergebnis (geschaffenem Wert) und Arbeitszeit definiert sei, stünde einer exakten Bewertung die Unschärfe sowohl des Zählers als auch des Nenners im Wege. Arbeitszeit - so belegen Beispiele aus bekannten Unternehmen - sei ungenau, weil unbezahlte, das heißt auch statistisch nicht erfasste Mehrarbeit in den USA inzwischen die Regel sei, und beim Arbeitsergebnis kämen Korrekturfaktoren zum Einsatz, um das reale vom nominellen Produkt zu unterscheiden, die auf anfechtbaren Annahmen beruhten. So transformierte etwa die zu starke Gewichtung der Leistungssteigerungen von IT-Ausrüstungen (im Rechenmodell wirkt das extrem deflationär) die dort gegebenen nominellen Produktivitätsgewinne in unverhältnismäßig hohe reale. Henwood folgt hier dem Ökonomen Robert Gordon, der in mehreren Studien nicht nur den von den New Economy-Verkündern - darunter auch Federal Reserve-Chef Greenspan - behaupteten Produktivitätssprung und dessen zivilisatorische Bedeutung im Vergleich zu früheren Innovationen relativierte. Vor allem das ökonomische Gewicht der Informationstechnik werde weit überschätzt. Zwar werde der Anteil der Beschäftigung dort von heute zwei voraussichtlich auf drei Prozent bis zum Ende der Dekade steigen, doch die Masse der neuen Arbeitsplätze entstehe in weniger spektakulären und auskömmlichen Dienstleistungen ohne besondere Bildungsanforderungen. Die gefragtesten Arbeiter der Zukunft seien nicht, wie Clintons Arbeitsminister Robert Reich und ihm nachfolgend viele Autoren auf beiden Seiten des Atlantiks annehmen, vorwiegend Symbolanalytiker, sondern Verkäufer, Bedienungen, Reinigungs- und Pflegekräfte.

Unzureichende Qualifikation für "symbolanalytische" Aufgaben stelle also keine befriedigende Erklärung für schlechte Entlohnung dar. Auch das eine Botschaft für die europäische Diskussion. Die überschäumende Begeisterung für die Möglichkeiten des Computers und des Internet in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre markiert für Henwood wie für andere renommierte Autoren (Stiglitz, Brenner) den Übergang von einer rational, durch Profitperspektiven begründeten Investitionsneigung zum irrationalen Überschwang, der die Vernichtung von Kapital in der Größenordnung von Billionen Dollar zur Folge gehabt habe; wobei dem Zusammenspiel liberalisierter Kapitalmärkte und liberalisierter Telekommunikation eine Schlüsselrolle zugekommen sei. Und er verweist auf ähnliche "Blasen" in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In der ausgeprägten Instabilität, das heißt der Anfälligkeit für Boom und Crash-Zyklen und extremer sozialer Polarisierung sieht Henwood ein Merkmal des Kapitalismus US-amerikanischen und englischen Stils, in dem die Kapitalmärkte die Funktion der zentralen Steuerungs- und Aneignungsmaschine übernehmen.

Das habe zwar den Triumph im Klassenkampf gebracht, doch die Unternehmen und viele Kapitalbesitzer arg gebeutelt, während es Investmentbanker und Topmanager zur Selbstbedienung geradezu eingeladen habe. Die Hinterlassenschaft: abstoßende soziale Gegensätze, wachsende Verschuldung der Unternehmen und der Privathaushalte sowie ein horrendes Außenhandelsdefizit.

Henwood hält es für unsinnig, der Globalisierung ein fiktives, früheres Zeitalter entgegenzusetzen. Was wir als Globalisierung erlebten, sei die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität, die sich als Export des US-Modells durchaus nicht naturwüchsig, sondern unter massivem Druck der US-Regierung und der von ihr dominierten internationalen Organisationen wie IWF und Weltbank gegen vitale Interessen der Mehrheit der Weltbevölkerung vollziehe. Dabei profitiere davon nur eine kleine wohllebende, meinungsmachende Klasse, deren Schuhe in Indonesien gefertigt, deren Autos in Mexiko montiert und deren Toilette ein Mensch aus Jamaika schrubbe.

Henwoods Buch stellt auch für die europäische Diskussion die Injektion einer Überdosis von harten Fakten und trockener Analyse dar, die noch verdaut werden muss. Aber auch ein geeignetes Mittel, die wolkigen Illusionen von einer schwerelosen, immateriellen Ökonomie gründlich zu demolieren.

Doug Henwood: After the New Economy. The New Press, New York 2003


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