Geduldete Nützlinge im Tal der Konjunktur

Zwischenbilanz Greencard Der Versuch, mit importierten IT-Spezialisten kurzfristige Bedürfnisse der Industrie zu befriedigen, ist weitgehend gescheitert

Vor zwei Jahren noch ein heißes Thema, jetzt eher still übergangen: der mit dem irreführenden Etikett "Greencard" versehene Import von IT-Fachkräften. Irreführend deshalb, weil die seit dem 1. August 2000 gültige Ausnahmeregelung mit der US-Greencard, die einen dauerhaften Aufenthalt ermöglicht, nur den Namen gemeinsam hat. Die verhaltene Reaktion der Adressaten liegt sicher auch daran, dass es sich hier nur um eine befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis handelt.
Eine Lücke von 70.000 Experten hatten Branchenvertreter im Frühjahr 2000 ausgemacht; manche sprachen sogar von 100.000. Zwei Jahre später sieht die Bilanz etwas bescheidener aus: 11.497 Zusicherungen hatten die Arbeitsämter bis April 2002 erteilt. Wobei die Zahl der Neuzugänge Monat für Monat fällt: seit April vergangenen Jahres von 542 auf 212. Wie viele noch hier sind, ist nicht dokumentiert. Nach 20 Monaten liegt das Kontingent von 20.000 zu über 40 Prozent brach.
Immerhin brachte die Maßnahme mehr Informatiker ins Land, als die Universitäten hier jährlich entlassen. Das war eine Entwicklungshilfe im Wert von über einer Milliarde Euro, die so in die Bundesrepublik floss. Zwar ist Indien der Hauptlieferant, doch übertreffen die osteuropäischen Länder es in der Summe. Als Abnehmer spielen Großunternehmen nur eine geringe Rolle: Sie verfügen schon lange über die Möglichkeit, im Rahmen des Personalaustauschs, den die Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung ermöglicht, Fachleute aus ihren Tochterunternehmen hierzulande zu beschäftigen. Zudem lässt das Arbeitsaufenthaltsrecht die Beschäftigung von Ausländern zu, wenn man nachweist, dass sie im öffentlichen Interesse ist.
Sicher ist auch der Einbruch der IT-Konjunktur dafür verantwortlich, dass von den vollmundigen Prognosen hauptsächlich heiße Luft blieb. Man fragt sich, weshalb die Vertreter einer Industrie, die nicht müde wird, uns das Informationszeitalter zu verkünden, so schlecht informiert sind über ihr Geschäft und dessen Perspektiven in den nächsten zwölf Monaten. Blamabel ist das Eingeständnis, dass der Konjunkturzyklus, den die "New Economy" schon hinter sich gelassen zu haben meinte, sie doch ereilte. Derzeit stehen vor allem Entlassungen auf der Tagesordnung. Manches spricht dafür, dass die goldenen Neunziger so schnell nicht zurückkommen, dass dem zyklischen Abschwung eine strukturelle Krise folgen könnte. Die Überinvestitionsexzesse jener Jahre münden in Erschlaffung: Viele der damals initiierten Projekte erfüllen die Erwartungen bis heute nicht.
Aus lauter Technikbegeisterung hatte man vergessen, dass auch die trendigsten IT-Systeme auf die Prozesse, die sie unterstützen sollen, passen müssen und dass man diese zuvor besser durchdenkt, um sie und die Informationstechnik einander anzunähern. Abwarten ist jetzt angesagt; zumal, nachdem der Vorrat an schnell umsetzbaren Basisinnovationen aus früheren Jahrzehnten aufgebraucht ist. Selbst notorisch optimistische Branchenauguren sehen für die nächsten Jahre nichts, was die IT-Konjunktur wieder zum Überschäumen bringen könnte.
Dass auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit bestimmte Qualifikationen knapp sein können, ist nichts Neues. Die Sprecher einer Industrie, die noch vor einem Jahrzehnt zwei Informatikergenerationen verschrottete (die 50-Jährigen durch Frühpensionierung, die 25-Jährigen durch Arbeitslosigkeit), suchen die Schuld vor allem bei anderen: bei der Politik mit ihrer angeblich falschen Weichenstellung und bei den Jugendlichen. Das Heil liegt für diese Industrie immer in der Erfüllung ihrer spontanen Wünsche: Nach den 70.000 Spezialisten sollen es jetzt Hire-and-fire-Methoden nach US-Vorbild sein, die dem Glück noch fehlen.
Ganz nebenbei wandert eine weitere Generation auf den Schutt: Jetzt braucht man eben doch nicht so viele Multimedia- und Internet-Gestalter wie einmal angenommen. Die Ausbildungsgänge, die man dafür schuf, sind zu schmalspurig, um die von der Industrie benötigten Qualifikationen hervorzubringen. Die sind auch durch Import nur schwer zu bekommen. Nicht nur, dass Deutschland nach Kriterien wie Klima, Sprache, gewährte rechtliche und soziale Stellung gegenüber anderen Ländern wenig attraktiv erscheint, auch passen die meisten Kandidaten nicht in das hier geforderte Profil: Softwareentwicklung ist zum größten Teil und in Deutschland ganz besonders kundenspezifische Entwicklung. Deutsch ist bei den äußerst wichtigen Kundenkontakten unerlässlich. Tätigkeiten wie Beratung, Spezifikation, Dokumentation, Ausbildung und Unterstützung der Anwender nehmen einen größeren Umfang ein als die reine Implementation von Softwaresystemen.
Doch nicht nur Deutsch ist gefordert, sondern auch die Kenntnis des Anwendungsgebietes. Ein großer Teil der hier entwickelten Software dient, wo sie nicht selbst in Produkte eingeht, dazu, deren Entwicklung und Fertigung zu unterstützen. Die Informationstechnik liegt nicht jenseits der traditionellen Industrie, sondern durchdringt diese: Das Erfolgsrezept der deutschen Industrie heißt nicht "IT statt Mechanik", sondern "noch perfektere Mechanik mit Hilfe von Informationstechnik".
In den Herkunftsländern der IT-Einwanderer ist die industrielle Basis, auf der entsprechende Kenntnisse gedeihen könnten, viel zu schmal. Wobei es nicht nur um Fachkenntnisse im engeren Sinne, sondern auch um die Vertrautheit mit den Prozessen, der Arbeitsweise und den typischen Sozialbeziehungen in diesen Industrien geht. In Indien zum Beispiel gibt es zwar eine uralte und hoch entwickelte intellektuelle Kultur, die jedoch vollständig vom Alltag, von der Technik und der Organisation des materiellen Lebens abgespalten ist. Die Kaste, die darin immer noch ihre Domäne sieht, hält die Beschäftigung mit materiellen Dingen für unrein.
Wenn Indien die Informationstechnik als isolierte Disziplin forciert, massenhaft standardisiert und dabei oft zu schmalspurige Qualifikationen produziert, folgt es einem traditionellen Muster, das sich vielleicht schon bald als wirtschaftliche und soziale Sackgasse zeigen wird, da einseitig auf die Entwicklung von Software gesetzt wird. Dabei arbeiten die indischen Entwickler nach strikten, detaillierten Vorgaben und lernen Situationen, in denen sie selbstständig entscheiden müssen, kaum kennen. Die deutschen Kollegen dagegen empfinden es als Zumutung, derartige Vorgaben formulieren zu müssen: "Dann kann ich es auch gleich selber machen", lautet ihre Auskunft. Deshalb sind importierte IT-Spezialisten oft erst nach einer längeren Ausbildungsphase voll einsetzbar. Ein Horizont von fünf Jahren erscheint abschreckend kurz und die Einschränkung auf IT-Absolventen sachlich unangemessen, da die eigentlich interessanten Kandidaten oft aus anderen Fächern kommen.
Mit der "Greencard" wich die Bundesrepublik aus krämerischer Furcht um den Standort halbherzig einen halben Millimeter von ihrer provinziellen Linie ab. Die Botschaft, dass die angeworbenen Fachkräfte im Grunde unerwünscht und nur als "Nützlinge" vorübergehend geduldet, ihre Familien höchstens als lästige Beigabe akzeptiert sind, wird viele Adressaten eher abschrecken. Diese Konstruktion einer Ausnahme - bei prinzipieller Ablehnung von Fremdem - ist nicht nur inhuman, sondern auch dumm. Nicht zuletzt deshalb, weil die sie leitende Vorstellung von Wissen als Handelsware dessen Anwendungsbedingungen völlig ignoriert.

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