Wem die Stunde schlägt

Sachbuch Mehr als die üblichen Schwankungen der Politbarometer-Demoskopie: Der Parteienforscher Franz Walter stimmt in seinem neuen Buch den Abgesang auf die Volksparteien an

Als die SPD kürzlich ihr Bundestags-Wahlprogramm präsentierte und die CDU darauf einhieb, ließ das erstaunliche Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der großen Parteien zu: In beiden Volksparteien gehen die Politstrategen allen Bekundungen nach offensichtlich davon aus, mit ein paar steuerlichen Zugeständnissen viele der in der letzten Zeit verlorenen Wähler zurückgewinnen zu können. Ist das noch notwendiger Wahlkampf-Optimismus oder schon schierer Realitätsverlust?

Vor der Europawahl prognostizierten die Meinungsforscher der SPD noch 25 Prozent der Wählerstimmen, gelandet ist sie dann bei 20 Prozent – da vermögen sich doch wohl nur Hartgesottene mit dem autosuggestiven Mantra zu trösten, dass es ab jetzt nun wirklich wieder aufwärts – Richtung Massenorganisation – geht.

Aber auch die sinkenden Zustimmungswerte zur Union und die eigentümlich kurz aufflackernde Debatte dort um Führung, Ausrichtung und (Nicht-)Erreichen der heterogenen Stamm-Zielgruppen deuten darauf hin, dass wir es nicht mit den üblichen Schwankungen der Politbarometer-Demoskopie, sondern mit grundsätzlichen Veränderungen in der Parteienlandschaft zu tun haben.

Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter nimmt diese Überlegung in einer kleinen Studie auf und rekonstruiert, abseits von hektischer Tagesaktualität, Auf- und Abstieg der beiden großen Sammlungsgruppierungen. Verständlich, eingängig und in essayistischer Form (also ohne ausufernde empirische Materialhuberei) bietet Walter dabei durchaus einige Per-spektiven an, die noch nicht in unzähligen Medien-Dossiers breitgewalzt wurden.

Zerfallende Milieus

Die Darstellung kreist um zwei Aspekte: Zum einen um die Volkspartei als „Institution“ und zum anderen um deren Unterstützungsgruppierungen. Unter dem Druck von Bismarck und den Liberalen bildete sich ein sozial-katholisches und ein sozialdemokratisches Milieu, die beide dank guter Organisation selbst die Zeit des Nazi-Terrors zu überstehen vermochten.

In der späteren Bundesrepublik wurden diese sogenannten „sozial-moralischen“ Milieus zur Grundlage, zum Kern und zur Personalquelle für die dominierenden Volksparteien CDU/CSU und SPD. Diese Basis sieht Walter nun aber schwinden: „Die Sozialdemokraten begannen zu schrumpfen, als ihre industriellen Hochburgen zerfielen, als die Welt der Zechen, Werften und Hochöfen unterging. Doch auch die Welt der Christdemokraten wird nunmehr schmaler, da immer weniger Menschen im modernen Deutschland noch treue Kirchgänger, lebenslange Heimatverbundene, dogmatische Nationalpatrioten und wütende Bekämpfer jedweder Emanzipation sind.“

Das eigentliche Problem, das mit diesen Veränderungen verbunden ist, wird allerdings erst deutlich, wenn der Blick mit Walter auf den Zusammenhalt des „großen Ganzen“ gerichtet wird, und die Volksparteien als massenintegrative Institutionen erscheinen.

Schon die Soziologie beschäftigte bei ihrer Gründung Ende des 19. Jahrhunderts die Frage: Was hält die Gesellschaft überhaupt noch zusammen? Der Soziologe Georg Simmel war im Zusammenhang mit der Frage „Wie ist soziale Ordnung möglich?“ auf das Zauberwort: Institutionen! gestoßen. Diese gäben, so Simmel, dem Einzelnen vor, was wie an welchem Platz zu tun ist – ohne die ständig lähmende Frage nach dem letzten Sinn.

Als die Soziologie dann Mitte des 20. Jahrhunderts lieber von Systemen sprach, nahm sich dann (seit Mitte der achtziger Jahre) die Politikwissenschaft der Institutionen an, weil auch sie sich nun brennend dafür interessierte, was uns denn überhaupt noch miteinander verbindet.

Ohne die Theoriegeschichte auszuführen, knüpft Walter an die Vorstellung von „Integration-qua-Institutionen“ an: Institutionen sind mehr als rein zweckgerichtete, rationale Organisationen. Sie besitzen einen symbolischen Überschuss, eine Leitidee, bieten Entlastung von der ewigen „Kinder-Frage“ nach dem „Warum“. Und vor allem: Sie machen ein (wenn auch oft nur vage angedeutetes) Sinnangebot. Und genau deshalb sind sie in der Lage, ganz heterogene Gruppierungen anzusprechen und an sich zu binden.

Daher waren die Volksparteien in Deutschland – eben als Institutionen – nicht nur Interessenvertretungen; mit ­ihrer Fähigkeit zur Integration ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Kreise ­haben sie vielmehr die lange Zeit der politischen und sozialen Stabilität ermöglicht. Aber genau diese Funktion steht nun für Franz Walter zur Disposition. Für ihn ist es inzwischen eine offene Frage, ob sie „Vermittler zwischen den Lebenswelten unten und der parlamentarisch-gouvernementalen Arena oben“ sind.

Das geköpfte Huhn

Das ist selbstredend eine rhetorische Frage, denn für Walter steht fest, dass die beiden Volksparteien nach langer erfolgreicher Geschichte ihre Kraft zur Integration verloren haben. Sie sind eben keine Institutionen mehr, und haben zudem die Verbindung mit ihren Kraftquellen, den Milieus, verloren oder gekappt. Für ihn hat sich der Parteienwettbewerb substanziell entpolitisiert: „Zwar rangeln weiterhin Cliquen und Clans in abgeschotteten Subsystemen gegeneinander, aber kaum noch soziale Lebenswelten mit unterschiedlichen Entwürfen für eine gute Politik und Gesellschaft.“

Deshalb ist die Lage auch hoffnungslos – aber eben nicht ernst! Hoffnungslos, weil Institutionen das einmal verlorene Sinnangebot nie wieder zurückgewinnen oder ersetzen können. Aber ernst ist es im deutschen föderalen System deshalb für die ehemaligen Volksparteien auch nicht, wie Walter zynisch bilanziert; kommt es doch, bis auf den kurzzeitigen Schock am jeweiligen Wahlabend, anschließend gar nicht darauf an, ob Wähler zur Wahl gehen oder ob den Parteien die Mitglieder massenhaft davon laufen, denn: „Der Einfluss der Parteien bleibt stets gleich. Sie regieren; sie schicken ihre Leute weiter in Rundfunk- und Fernsehräte, in Sparkassenvorstände... Und die Fernsehkameras richten sich nach wie vor auf sie... Es gibt nicht die Erfahrung des Bedeutungsverlustes.“

Fast zwangsläufig denkt der Leser an ein geköpftes Huhn, dessen Rumpf, auch ohne seine „Sinnzentrale“, wild flatternd weiter rennt. Wir wissen allerdings auch: Lange kann das nicht gut gehen. Gemeinsinn braucht nach Walters Fazit „so etwas wie eine spezifische Sozialmoral, einen motivierenden Ethos, eine normative Quelle, eine orientierende Weltanschauung auf das Ganze.“

Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Auch Walter räumt ein, dass diese normative Wendung „furchtbar altmodisch, vermufft, nachgerade vorgestrig“ klingt. Doch resultiert der besorgte Tonfall aus dem Eingeständnis, dass kein funktionales Äquivalent für die massenintegrativen Volksparteien zu erkennen ist. Fällt doch die mit so vielen Hoffnungen belastete Bürgergesellschaft, wie Walter desillusionierend darlegt, als Integrationsmedium aus, da sich in ihr nur die gebildete, artikulationsmächtige und gut vernetzte Elite behauptet, während die anderen „außen vor bleiben“; beziehungsweise die fehlenden Sinnangebote durch Parolen des rechten Randes ersetzen.

Diesen Gedankengang allerdings verfolgt Walter nicht weiter, obwohl er mit Blick auf Österreich durchaus das Szenario anwachsender rechtspopulistischer Parteien skizziert. Sowieso erscheint Walters Schluss, dass es „ganz so schlimm schon nicht kommen“ wird, etwas unmotiviert. Und bei der Frage nach den Alternativen muss auch er passen: „Man wird weiter auf der Suche bleiben müssen.“ Das ist – nach 117 Seiten – etwas unbefriedigend! Aber zumindest ehrlich.

Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer MassenintegrationFranz Walter Transcript, Berlin 2009, 132 S., 14,80

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