Mehr als 150 Jahre sind vergangen, seit der französische Missionar Charles Bouilleveaux im Dschungel Kambodschas nahe der Grenze zu Thailand eine sensationelle Entdeckung machte - er stieß auf das große Geheimnis des südostasiatischen Urwalds: die heiligen Städte und Tempel der Khmer-Könige - die Zivilisation von Angkor. Um die Götter zu ehren und von einer universalen Ordnung zu künden, waren die gigantischen Bauten zwischen 800 und 1250 errichtet worden. Dann aber zerfiel dieses Reich innerhalb von Jahrzehnten - und eine üppige Flora überwucherte alles, Prozessionsstraßen, Portale, Türme, Tempel, monumentale Skulpturen und die weitläufigen Reliefs mit ihren Schlachtszenen und visionären Botschaften.
Die Dämmerung senkte sich auf das flache, versteppte Land, wir rasten in einer Staubwolke dahin, manchmal tauchten mit Fahrgästen überladene Lastkraftwagen aus dem Nebel auf oder Ochsenkarren, Mopeds, Fahrräder, auch Fußgänger. Schnell wurde es dunkel, und das Scheinwerferlicht blieb hängen im Dunst des immerwährenden Staubs. Der Kleinbus knallte von einem Schlagloch ins andere, ich saß ganz hinten und flog manchmal bis gegen die Decke.
Die vom Zufall zusammen gewürfelte Reisegesellschaft bestand aus drei Italienern, einem jungen Paar aus der Ukraine (die beiden hatte ich zu ihrem Missfallen für Russen gehalten), einem weiteren jungen Paar aus Israel, zwei Chinesinnen, einem Slowenen und mir. Wir waren von der Khaosan-Road in Bangkok unterwegs zu den Tempeln von Angkor im Nordwesten Kambodschas. Die Begleiterin der thailändischen Reiseagentur, die uns bis zur Grenze gebracht hatte und so gar nicht dem Bild einer lächelnden, freundlichen Thai entsprach, verzögerte den Grenzübertritt in Aranyaprathet stundenlang und verlangte überhöhte Gebühren für das kambodschanische Visum, wozu wir ihre Hilfe gar nicht brauchten, was die Israelis und Russen (welche ich da noch für solche hielt) über die Maßen erregte, dass sich die Weiterreise weiter hinausschob - es ging um zwei oder drei Dollar.
Nachdem wir endlich zu Fuß die Grenze passiert hatten, verging noch eine Stunde in Poipet auf der anderen Seite, was mich nicht sonderlich überraschte, denn ich hatte schon gelesen, dass die kambodschanischen Busse die Abfahrt deshalb gern hinauszögern, damit sie erst spät nachts in der Stadt Siem Reap ankommen, um die Touristen an Hotels oder Gästehäusern abzusetzen, die ihren Verwandeten oder Bekannten gehören.
Doch irgendwann begann das Rennen über die ungefähr 150 Kilometer lange, unbefestigte Schlaglochpiste. Nachdem ich ein paar Mal gegen die Decke geflogen war, zog ich um nach vorn und setzte mich zwischen das dort gestapelte Gepäck. Der Fahrer rauchte und öffnete das Fenster, so dass der Staub ins Auge quoll. Mir fiel im Augenblick das englische Wort nicht ein, doch schon schrien alle anderen: dusty, dusty, very dusty ... Der junge Fahrer und sein Begleiter tauschten ein paar Worte in Khmer und wollten sich ausschütten vor Lachen über unsere Staub-Hysterie - mit der Zeit nahmen auch wir es mit Galgenhumor.
Quer auf der Straße stand ein anderer Touristenbus, die Fahrgäste warteten in der Staubwolke daneben. Die Achse schien gebrochen, es ging also bei denen nicht weiter. Ein junger Traveller hopste vor unseren Bus, um nachzufragen, ob wir nicht die drei Frauen mitnehmen könnten. Es gab noch Platz, und so übernahm ich als der älteste Passagier die Initiative und sagte: Of course, please! Wenn die Frauen sich zu dritt auf die Rückbank quetschten, würden sie wenigstens nicht gegen die Decke fliegen. Doch die Fahrer der beiden Busse konnten sich nicht einigen - so blieb alles, wie es war. Wir fuhren ohne die gestrandete Gesellschaft weiter. Ich ließ nun wissen, dass dies mein Geburtstag sei, der 66., und spendierte bei einer Rast unterwegs allen ein Bier. Nun waren wir schon beinahe eine verschworene Gemeinschaft. Wenn der Fahrer rauchte und wieder das Fenster aufriss, riefen alle: dusty, dusty, dusty. Doch reagierte der Begleiter auf unsere Proteste mit dem Hinweis, der Fahrer sei sehr müde, und wenn er nicht rauche, schliefe er ein. Wir hatten also die Wahl.
Nach Stunden rollte der Bus plötzlich auf glatter Straße, ich öffnete die Augen und wollte ihnen nicht trauen. Links und rechts ragten in gleißendem Licht orientalische Hotelpaläste auf, von fünf Sternen aufwärts, wir waren in Siem Reap, bogen in eine Seitenstraße ein und hielten vor einem kleinen Gästehaus. Ein paar Passagiere protestierten, sie wollten ins Zentrum. Ich verspürte nicht die geringste Lust, nachts mit Rucksack auf dem Rücken eine Unterkunft zu suchen, stieg also aus, um mir die Räume anzusehen.
Sechs Dollar die Nacht sollte das Zimmer kosten, mit allem Zubehör, einem Fernsehgerät zum Beispiel, darauf konnte ich gern verzichten (wozu braucht man die weltweit gleichen Dummheiten der Television, wenn um einen herum Leben ist), ein Bad mit warmem Wasser sogar, nicht schlecht zum Entstauben. An den Zimmertüren stand: Waffen und Heroin im Zimmer nicht erlaubt. Hatte ich nicht bei mir, also blieb ich.
Der Tempel von Angkor war es, der mich nach Asien gelockt hatte wie vorher schon Palenque nach Mexiko, Tikal nach Guatemala oder Machu Picchu nach Perú. Angkor, eine Wiege der Menschheit und die Erinnerung an eine Zivilisation, die teilweise über tausend Jahre zurück liegt. Und in der einst buddhistische, hinduistische und naturreligiöse Kulturen zueinander fanden.
Vom Gästehaus holte mich am nächsten Tag ein Bekannter ab, den ich elf Jahre zuvor in Ecuador kennen gelernt hatte, jetzt arbeitete er in Kambodscha als Entwicklungshelfer für die Vereinten Nationen. Ich kam so auf ungewöhnliche Weise zu den Tempeln, wir waren sehr früh mit dem Auto unterwegs, um den Sonnenaufgang an einem Ort fern des Touristengewimmels zu erleben. Ich stand dann gegen sieben Uhr fast allein in Angkor Thom und beglückte eine der zu so früher Stunde noch leeren, unzähligen Garküchen. Nach dem Frühstück ging ich zum berühmten Bayon-Tempel aus der späten Epoche von Angkor, erbaut etwa um 1200. Im Angesicht der riesigen, geheimnisvollen, aber nicht unheimlichen und schon gar nicht - wie im Reiseführer beschrieben - "fratzenhaften Steinköpfe", etwa 200 an der Zahl, die mich an mexikanische Olmekenhäupter erinnerten, bemerkte ich, dass etwas mit mir nicht zu stimmen schien. Es war, als ob eine geheime Kraft mich zu einer Reinigung zwingen wollte, bevor ich die Tempel betrete. Mein Körper machte mir, auf welches Signal hin auch immer, bewusst, dass ich Angkor mit dem notwendigen Respekt, mit Ehrfurcht und ohne Hast zu besichtigen hatte, das heißt auch, möglichst fern der Touristenströme. Aber als ich - gereinigt - zum Großen Bayon zurückkehrte, konnte man schon kaum mehr durch die schmalen Gänge.
Ich zog mich in den Schatten von ein paar am Rande liegender Ruinen von Angkor Thom zurück. Die Anlagen waren vielleicht nicht so spektakulär wie die von den Reisegruppen besuchten, aber ich war allein. Dort setzte ich mich hin, meditierte auf meine Weise und versuchte anzukommen, wo ich mich befand. Es war nicht selbstverständlich, hier zu sein. Es sollte keine Stippvisite sein.
Ich erinnerte mich an Tikal im Urwald des Petén, genau wie dort kam irgendwann ein Wächter vorbei, um zu sehen, was der alte "Gringo" am einem derart einsamen Ort trieb, zu dem sich sonst niemand verirrte.
Nun fühlte ich mich bereit, mir die Elefantenterrasse und die Terrasse des Leprakönigs anzuschauen, die wundervollen Gesichter und Posen in Stein gehauener Apsara-Tänzerinnen und dämonischer Tempelwärter zu betrachten, die wie an so vielen Tempeln die Last des Universums auf ihren Schultern tragen. Ich sah turnende Affen, Löwen mit aufgerissenen Mäulern, Garudas, mehrköpfige Naga-Schlangen und Elefantenkarawanen. Um die Götter zu ehren, bauten die sich allmächtig wähnenden Khmer-Könige einst ihre gigantischen Heiligtümer, türmten ihre Skulpturen auf und behaupteten, im ständigen Dialog mit den Göttern zu stehen, Vishnu und Schiva zu dienen, die gnädig auf sie herab blickten.
Ich hatte vor, Angkor zu Fuß zu erkunden, allein von Tempel zu Tempel. Doch schon bis zur nächsten Anlage waren es Kilometer. Ich war der einzige Fußgänger, alle waren hier per Tuk-Tuk unterwegs, jenen dreirädrigen Motorradfahrzeugen mit der Sitzbank für mehrere Passagiere hinten. Auf diese Weise waren die meisten schon aus Siem Reap angereist, und folglich fand man kein unbesetztes Tuk-Tuk, das man hätte mieten können. Von der Mittagsonne schweißgebadet stand ich vor dem Thommanon-Tempel und fand schließlich jemanden, der mich per Moped nach Angkor Wat zurückbrachte, dem Haupttempel.
Es wird geschrieben, Angkor Wat sei das größte sakrale Bauwerk der Welt, erbaut in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, eine Nachbildung des Universums, vom Urmeer umgeben mit dem Weltberg Meru in der Mitte. König Jayavarman II., der von 805 bis 850 in Angkor regierte, war der erste unter den großen Khmer-Königen. Er befreite das Land von javanischer Herrschaft und wurde zum Gründer der Angkor-Dynastie, die im 10. Jahrhundert mit Bantea Srei, im 12. und 13. Jahrhundert mit der Vollendung von Angkor Wat und dem rätselhaften Angkor Thom den Höhepunkt einer Zivilisation erlebte, die bald darauf unterging und für Jahrhunderte im Urwald versank.
Meine ungewöhnliche Route nach Angkor Wat hatte ihr Gutes. Mittags hielten sich die Touristenströme in Grenzen. Ich konnte also in Ruhe von Hof zu Hof, von Raum zu Raum wandern, die berühmten Flachreliefs betrachten, Schlachtenszenen, immer wieder Schlachten (was mich nirgendwo auf der Welt so sehr interessiert), aber umso mehr die anderen Themen aus den indischen Epen Maharabata und Ramayana. Am meisten beeindruckte mich die surreale Szenerie vom "Quirlen des Milchmeeres", wo Götter und Dämonen an einer riesigen Schlange zerren, um aus ihr das Unsterblichkeit versprechende Lebenselixier zu wringen. Es schien mir eine zeitlose Metapher.
Um auf die oberste Terrasse von Angkor Wat unterhalb des zentralen Weltbergs Meru zu kommen, muss man sehr steile Stufen hinaufklettern. Kaum anzunehmen, dass da nicht zuweilen jemand abstürzt. Ich erinnerte mich, dass an den ebenso steilen Treppen des Kukulkán-Tempels von Chichén Itzá in Mexiko unten Krankenwagen bereit standen.
Als Lohn für die Mühe des Aufstiegs erwarteten mich mehr als tausend filigrane Apsara-Tänzerinnen - "sie lächeln gleich den Blüten der Bäume, gleich dem Sternenschimmer der Nacht", ist von einem Khmer-Dichter überliefert. Ich hatte Zeit, dort ungestört zu sitzen, freilich noch immer, ohne zu begreifen, wo ich eigentlich war - in einem Märchen, einem Traum? Aber wozu begreifen, verstehen, wenn man den Augenblick genießen kann.
Beim Abstieg dann kamen sie mir entgegen gekrabbelt, auf allen Vieren die nahezu senkrechten Treppen hoch zum Heiligtum, zu Hunderten, überwiegend Reisende aus China, wohl auch aus Korea und Japan. Ich zog mich in einen Nebenhof zurück und stellte neben ein paar dort aufgebaute Steintürmchen einen von mir daneben, einen Apu, würde man in Südamerika sagen, der Augenblick gebot es mir. Nebenan quollen über die Ewigkeit grauer, schwarzer, steinerner Tempel farbenfroh gekleidete Touristenmassen. Es rauschte wie von einer nahen Autobahn.
Mir kam die Idee, der Aufbruch der Chinesen, das könnte die Chance für Europa sein, denn sie würden natürlich in ein paar Jahren auch zu uns kommen. Europa als Disneyland für chinesische Touristen, daran führt gar kein Weg vorbei, das bringt Arbeitsplätze, wir sollten nur allmählich anfangen, Chinesisch zu lernen. Und wir sollten vergessen, dass - wer Englisch kann - der Herr der Welt ist. (Kurz vor meiner Abreise hatte ich in einem deutschen Journal gelesen, dass man in China komplette europäische Städte nachbaut, deutsche, französische, italienische...)
Vor Angkor Wat fand ich einen Mopedfahrer, der mich von nun an und die nächsten Tage auf seinem Sozius von Tempel zu Tempel kutschierte. Nachdem er mein Alter erfragt hatte, bat er um die Erlaubnis, mich Daddy nennen zu dürfen. Rath erzählte mir, er sei 15 und ginge noch zur Schule, sah aber älter aus, später erfuhr ich, dass er die Zahl fifteen nur genannt hatte, weil er gerade so weit auf Englisch zählen konnte. Er bejahte jede meiner Fragen, auch wenn er sie nicht verstand, und las mir meine Wünsche von den Augen ab, wir kamen prächtig miteinander aus. Am Abend des zweiten Tages stellte er mich seiner Verlobten vor, dann brachte er mich in ein Dorf, wo sein Vater tagsüber die kleine Hütte und die Tiere beaufsichtigte, während seine Mutter und die jüngeren Geschwister vor Angkor Wat - wie viele andere - Souvenirs zu verkaufen suchen. Ich lernte sie alle kennen und gehörte schon fast zur Familie.
Ich will nicht die unzähligen Tempel beschreiben - aber nicht nur am berühmten Ta Prohm sitzen riesige Bäume wie Kraken auf den Gemäuern, krallen sich fest und geben zu verstehen, dass Natur mächtiger als jedes Menschenwerk ist. Zwischen den Trümmern des Preak Khan wandelt man durch Steinlabyrinthe, und immer wieder überraschen an unzugänglichsten Stellen wundervolle Reliefs. Oder man steht plötzlich vor einer Säulenhalle wie in Korinth. Am Ta Som verweilte ich vor einer Figur, deren überirdisches gnädiges Lächeln mich entzückte. Wie es heißt, offenbart sich in solchem Lächeln das Mysterium aller erfahrenen Liebe, es spreche daraus der gelungene Versuch zu konvergieren oder - wie es die Khmer-Dichter schreiben - zurück zu finden in die ursprüngliche Einheit mit Gott - wohl dem Gott in einem selbst.
Ein deutsch sprechendes Ehepaar war ebenso fasziniert, und wir tauschten uns aus, dass die Figur am Ta Som uns an die Uta des Naumburger Doms erinnerte. Die Leute kamen aus Wien. Nur aus Büchern kannten sie die Uta, in Naumburg waren sie noch nie.
Am letzten Tag fuhr mich mein Freund Rath zu den außerhalb gelegenen Tempeln der Roluos-Gruppe, es sind die ältesten, schon im 9. Jahrhundert erbaut. Der Bakong, für mich der schönste von allen, liegt inmitten eines Sees, Kinder sprangen von Bäumen ins Wasser, drum herum blühte es in allen Farben, daneben in einem Kloster leben buddhistische Mönche, auf die Nandi, der Bulle, sowie steinerne Löwen und Elefanten hinabblicken. Unter einem hatte sich ein Mädchen zum Mittagsschlaf ausgestreckt.
Ein Zehnjähriger sprach mich in einem gut verständlichen Deutsch an und hatte nicht nur für Touristen eingelernte Phrasen drauf. Die Deutschen seien sehr an Kultur interessiert, deshalb lerne er die Sprache, erklärte er mir. Er freue sich immer, wenn er neue Worte hinzulernen könne. Darum bat er jeden deutschen Besucher und schrieb, was er noch nicht kannte, in sein Schulheft.
Beinahe an fast allen Tempeln spielten Musiker auf traditionellen Instrumenten: Es gab nicht einen unter ihnen, dem nicht Arme oder Beine fehlten. Landminen explodieren bis heute und erinnern daran, dass besonders im Nordwesten Kambodschas bis in die neunziger Jahre hinein mit den Resten der Khmer Rouge, den versprengten Desperados des einstigen, 1979 gestürzten Diktators Pol Pot gekämpft wurde. Beim Räumen der Minen hätten Ostdeutsche geholfen, erfuhr ich, arbeitslos gewordene Angehörige der Nationalen Volksarmee der DDR.
Der Prozession der Amputierten, die keiner Dreigroschenoper entsprungen sind, begegnete man überall, wo Touristen waren, ob in der Hauptstadt Phnom Penh oder am Strand von Sihanoukville im Süden. Bestürzend, wie wenige Urlauber bereit schienen, den Bettelnden, weil zu keiner Arbeit Fähigen, etwas zu geben. Vor allem junge Leute taten sich schwer, denen man ansah, dass sie mit dem Geld von Eltern und Großeltern reisten. Auch die Kriegsversehrten waren in der Regel jung, denn alte Leute findet man in Kambodscha selten. Und wenn, dann nur auf dem Land. Die Leute aus den Städten, die heute alt wären, haben die Schreckensherrschaft der Khmer Rouge zwischen 1975 und 1979 nicht überlebt.
Wer sich in den wie Lager gehaltenen Massenkommunen auflehnte, wurde mit der Hacke erschlagen, die meisten der zwischen April und Juni 1975 aus den Städten deportierten Kambodschaner aber verhungerten - in einem landwirtschaftlich reichen Land, in dem es Reis und Fisch, Gemüse und Früchte in Hülle und Fülle gab und gibt. Die Weltöffentlichkeit schaute weg, die kambodschanische Bevölkerung wurde den Großmachtinteressen geopfert. Erst die Volksrepublik China, später die USA unterstützten das Terror-Regime Pol Pots, das die Amerikaner später so gern als "kommunistisch" bezeichneten. Die Khmer Rouge waren eine willkommene Bastion gegen das "sowjetisch infizierte" Vietnam, und Kambodschas König Norodom Sihanouk, der ewig lavierende Taktierer, kungelte mit ihnen. Als die Vietnamesen schließlich Ende 1978 in Kambodscha einmarschierten und Pol Pot in den Dschungel verjagten, wo er noch Jahre sein Unwesen trieb, schrie die westliche Welt auf und sprach von Invasion. (So wie sie bis heute aufschreit über Untaten der Roten Armee, die uns Deutsche vom Faschismus befreite. Ich jedenfalls bin ganz froh darüber, dass sie rechtzeitig kam, bevor ich älter wurde und womöglich auch dem Gift des Faschismus ausgesetzt worden wäre.)
Das Regime der Khmer Rouge liegt knapp 30 Jahre zurück. Ich hatte das Gefühl, die Leute sprechen nicht gern über diese Zeit, die sie aus eigener Anschauung kaum noch kennen, ein paar Mal hörte ich: Das waren doch nur drei Jahre in unserer tausendjährigen Geschichte. Fast zwei Millionen Tote gab es, doch weiß es bis heute keiner so ganz genau.
Als ich wieder zu Hause war, las ich Pin Yathays erschütternden Augenzeugenbericht Du musst überleben, mein Sohn. Darin stellt der Autor auch die Frage, ob diese Verbrechen möglich gewesen wären, wenn es die Ideen von Marx, Lenin und Mao nie gegeben hätte. Mindestens ebenso berechtigt ist die Frage: Hätte es je die Verbrechen der Inquisition, die Ausrottung der Indianervölker, die Versklavung Afrikas ohne das Christentum gegeben? Von den Verantwortlichen von damals wurde kaum einer bestraft, die Soldaten und Henker Pol Pots waren sehr jung, oft Kinder noch, aber so indoktriniert, dass ihnen keine Grausamkeit zu abscheulich schien.
Man redet zwar seit Jahren über ein internationales Tribunal, doch inzwischen sind viele Khmer-Rouge nicht mehr am Leben - Pol Pot selbst starb im April 1998 in einer Bambushütte nahe der Grenze zu Thailand. Das von den Vereinten Nationen für ein Tribunal veranschlagte Geld sollte man lieber an die Kambodschaner verteilen, hörte ich häufig, für jede Familie 200 Dollars zum Beispiel, das wäre eine Menge Geld.
Bei meiner Reise übers Land und in Phnom Penh hatte ich das Gefühl, dass Kambodscha heute zwar ein armes, aber ein Land im Aufbruch ist. In manchen Orten war ich wohl der einzige Europäer und fühlte mich wie auf einer Woge der Freundlichkeit getragen, nirgends glaubte ich mich unsicher, war angefeindet oder gar bedroht. Das unterscheidet ein buddhistisches Land von den christlich dominierten, das jedenfalls ist meine Erfahrung. Um so schwerer lässt sich begreifen, wie eine ideologisch unterlegte Barbarei auch im Land der Khmer, im Land der Angkor-Zivilisation und der ewig lächelnden Apsaras, möglich sein konnte. Ich konnte mich nicht freimachen, in den immer freundlichen Gesichtern nach dem Schicksal der Eltern und Großeltern zu forschen. Doch worüber sollte ich mich als Deutscher wundern?
Einen Sonntag verbrachte ich in der Provinzstadt Kompong Chhnang am Tonle Sap River. Darauf schwimmen Tausende von Hausbooten, die sich stets dem Wasserspiegel anpassen, während in den Orten um den großen Binnensee Tonle Sap die Häuser auf riesigen Stelzen stehen. Eine bizarre Szenerie, denn das Wasser steigt in der Regenzeit um acht bis zehn Meter, wenn auch die Wassermassen des Mekong den See füllen.
Auf der Terrasse am Fluss saßen die Einheimischen und speisten, eine besondere Delikatesse, angebrütete Enteneier. Der Markt von Kompong Chhnang quoll über von Waren, und es gab keine Garküche, die nicht von früh bis spät besetzt war. Neben all den einheimischen Früchten, Gemüsesorten und Fischen türmten sich überall Baguette-Pyramiden, daran erinnernd, dass ich in einstigem französischen Kolonialgebiet unterwegs war - Französisch allerdings sprach kaum noch jemand. Von der intellektuellen Elite Kambodschas haben nur die wenigsten unter dem Joch der Khmer Rouge überlebt.
Phnom Penh, die Hauptstadt, war mir vorher nur als Ort des Schreckens bekannt, doch der Königspalast, in dem noch immer Sihanouk residiert (aber keinesfalls so beliebt ist wie etwa der thailändische König), und die Silberpagode gehören zu jenen Orten, die man als magisch bezeichnen möchte. Ich hatte von einer Apsara-Art-Association gelesen und ließ mich morgens durch die Rush Hour von Phnom Penh per Moped dorthin chauffieren. Es gibt nur wenige Ampeln, also bewegten sich Hunderte Mopeds, Tuk-Tuks, Fahrräder und weit weniger Autos träge im Stau, sie kamen von allen vier Seiten auf eine Kreuzung und schoben sich in einer Art osmotischer Durchdringung ohne Kollisionen aneinander vorbei.
Die Apsara-Tanz-Schule, mein Ziel an diesem Tag, wurde von einer Ballett-Tänzerin aufgebaut, deren ganze Familie in der Zeit des Grauens umkam. In ihrer Schule lernen vorzugsweise Waisenkinder die klassischen Khmer-Tänze. Man durfte ihnen vormittags beim Proben und Tanzen zusehen, sie freuten sich über jeden Gast, und am Schluss wurden die Gäste in den Tanz einbezogen und konnten sich selbst in Apsara-Posen ausprobieren. Ein Obolus zur Unterstützung der Kinder war selbstverständlich.
Am Ende meiner Reise fuhr ich zum Strand von Sihanoukville, ich hatte vor, drei Tage zu bleiben - es wurden zehn. Auch hier fand ich ein Kinder-Projekt, jeden Tag nach der Schule kommen Kinder des Ortes an den Strand zum Malen, sie erhalten eine kostenlose Mahlzeit und sorgen selbst dafür, dass es so bleibt, denn die mit viel Fantasie auf Öl gemalten Bilder kann man kaufen. Vier Dollar das Stück.
Sihanoukville erschien mir wegen seiner Atmosphäre einzigartig. Restaurants mit köstlichstem Fisch und Meeresgetier sowie Strandbars mit Drinks aus aller Welt reihten sich aneinander, man versank in übergroßen Rattansesseln, nur an wenigen Orten belästigt laute Musik oder Touristenlärm - ich fühlte mich wie in einer anderen Welt versunken, die Tische im Kerzenschein, beinahe von den Wellen umspült, Girlanden aus Glühlämpchen, die sich im Meer spiegelten, ab und zu stiegen Feuerwerksraketen auf. Bei Vollmond lief man wie auf Schnee an dem nächtlichen Strand, weiter außerhalb leuchtete das Meer, wo Millionen von Planktonteilchen oszillierten.
Ich traf einen Schweizer, der wegen dieses Leuchtens hierher nach Sihanoukville zurückgekehrt war, der alles hinter sich gelassen, der alles verkauft hatte, was er zu Hause besaß. Jeden Morgen holte er sich im Antiquariat eines Chinesen ein deutsches Buch, jeden Tag fragte er den Chinesen, ob der einen Goethe bekommen hätte. Noch nie, sagte der Chinese, leider, aber wenn ein Goethe rein käme, dann wäre es der Festtag seines Lebens.
Rainer Simon ...
... ist Filmregisseur und Schriftsteller. Für die DEFA in Babelsberg drehte er unter anderem einen Spielfilm über Alexander von Humboldt mit dem Titel Die Besteigung des Chimborazo (1988, eine Koproduktion mit dem ZDF) sowie die Streifen Die Frau und der Fremde (1984), Jadup und Boel (1980/81) und Till Eulenspiegel (1973/74). Während der neunziger Jahre verlagerte sich seine Arbeit zusehends nach Lateinamerika, besonders nach Ecuador. Ein Land, von dem Simon sagt, dass es inzwischen zu seiner zweiten Heimat geworden sei. Im Jahr 2000 drehte er dort nach einer Legende der Chachi-Indianer den Spielfilm Der Ruf des Fayu Ujmu. Es folgte 2005 der Roman Regenbogenboa, in dem die außergewöhnlichen Erfahrungen eines Deutschen beschrieben werden, der 30 Jahre in einer indianischen Gemeinde Amazoniens lebte.
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