Drinnen und draußen

Leseprobe Was mit Kindern passiert, die die meiste Zeit nicht zu Hause, sondern in einer Tagesstätte verbringen. Zur Lage der Familien und zum aktuellen Stand der Forschung
Ausgabe 45/2014

Frieda brauche Sozialkontakte, sagte die Mutter, als sie ihre elf Monate alte Tochter kürzlich zum ersten Mal in die Krippe brachte. Die Erzieherinnen wunderten sich nicht schlecht über das Kind, das seiner Mutter nicht einmal nachschaute, als sie ging, sondern munter wie die anderen Kinder zu spielen begann. Ein paar Tage später scheint das Mädchen die Situation realistischer einzuschätzen: Kaum steht ihre Mutter auf, um zu gehen, fängt sie an zu weinen. Die Erzieherin ist erleichtert: „Wir dachten schon, sie hätte eine total gestörte Bindung zu ihrer Mutter.“ Für die Erzieherin bedeutet Friedas Erkenntnis zusätzliche Arbeit, denn das kleine Mädchen wird den ganzen Vormittag an ihrer Schulter hängen und, sobald der Körperkontakt abreißt, wieder schreien. Damit bleibt aber weniger Zeit für sie und ihre Kollegin, sich um die restlichen fünfzehn Kinder in der Gruppe zu kümmern.

Rainer Stadler, geboren 1967, studierte Informatik und absolvierte die Journalistenschule in München. Er arbeitete als freier Journalist und Auslandskorrespondent und schrieb unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Focus und den Spiegel. Seit 2001 ist er Redakteur beim SZ-Magazin. Stadler ist verheiratet und Vater von zwei Kindern

Zu Besuch in einer Kindertagesstätte in Nordrhein-Westfalen, Großraum Bonn, eine von mehr als 50000 Einrichtungen dieser Art in Deutschland. Die Leiterin hat zugestimmt, die Türen zu öffnen und einen Einblick in den Alltag ihrer Erzieherinnen zu geben, der über die üblich gewordene Selbstdarstellung solcher Einrichtungen in Werbebroschüren und auf Webseiten hinausgeht – allerdings nur, wenn die Anonymität gewahrt bleibe. Andernfalls drohe Ärger mit dem Träger und der Aufsichtsbehörde der Kita, und natürlich auch mit den Eltern, die ihre Kinder jeden Morgen hierher bringen und letztlich die Existenz der Erzieherinnen sichern. Momentan besuchen achtzig Kinder die Einrichtung, von null bis sechs Jahren. Ihre Eltern? Arbeiten meist in gut bezahlten Berufen, Ärzte, Manager, gehobener Mittelstand, viele Akademiker – also die Klientel, der Politik und Wirtschaft bevorzugt den Rücken freihält, damit sie sich voll auf das Berufsleben konzentrieren und vielleicht auch noch ein paar Kinder mehr zeugen kann.

Auslagerung wesentlicher Entwicklungsschritte

Es handelt sich um eine Vorzeigeeinrichtung, eine Kombination aus Krippe und Kindergarten, mit großem Außengelände, Klettergerüsten, einer kleinen Turnhalle. Im umfangreichen Prospekt werden die Bildungs- und Förderkonzepte erläutert, deren Ziel die Schulfähigkeit der Kinder ist. Umwelt, Verkehrs- und Musikerziehung zählen ebenso zu den Angeboten wie Englisch und künstlerisches Gestalten. Den Kindern stehen großzügige Räumlichkeiten zur Verfügung, sie sind in mehrere altersgemischte Gruppen aufgeteilt – die jüngsten Kinder haben das erste Lebensjahr noch nicht erreicht, die ältesten stehen kurz vor der Einschulung. In Friedas Gruppe gibt es einen runden Esstisch und eine kleine Küche, wo die Kinder frühstücken und mittagessen. An einem weiteren Tisch wird gebastelt und gemalt. Truhen mit Spielzeug, Plüschtieren, ein abgetrennter Raum zum Wickeln und ein weiterer zum Schlafen, in dem sechs Gitterbetten stehen. An den Wänden hängen viele Fotos von meist lachenden Kindern. Wiederholt hat die Kita-Leiterin Eltern durch die Räume geführt, die anfangs sagten, sie wollten ihr Kind erst in die Krippe geben, wenn es drei Jahre alt ist. Nach dem Rundgang waren einige so angetan, dass sie ihr Kind doch schon für die Zeit nach dem ersten Geburtstag anmelden wollten. Sie können zwischen 25, 35 und 45 Stunden Betreuung wählen. Die jüngste Gesetzgebung, die Eltern von Einjährigen einen Krippenplatz garantiert, führt dazu, dass die Kita mehr Kinder aus dieser Altersgruppe aufnehmen muss, während Dreijährige vermehrt Absagen erhalten. Die Eltern dieser Kinder seien natürlich empört, sagt die Leiterin. „Sie sagen: Wir behalten unsere Kinder zu Hause, bis sie drei sind, und werden dann dafür bestraft. Ich kann ihre Wut gut nachvollziehen.“

Die Kita erhält für kleinere Kinder zwar höhere Zuschüsse vom Staat, aber die Erzieherinnen sind sich einig, dass Frieda und andere Einjährige bei Weitem nicht so von dem Aufenthalt profitieren wie die älteren Kinder. Die Leiterin rät jungen Eltern, die sich zum ersten Mal in der Kita vorstellen, ihr Kind wenn möglich lieber während der ersten drei Jahre zu Hause zu behalten. Die wenigsten Eltern beherzigen den Rat, auch wenn das bedeutet, dass die Kinder wesentliche Entwicklungsschritte ohne sie machen werden: Viele lernen in der Krippe sprechen und laufen. Auch die Sauberkeitserziehung überlassen manche Eltern heute dem Fachpersonal, ein Teil der Kinder kommt erst mit vier Jahren oder noch später ohne Windeln aus, weil die Erzieherinnen keine Zeit haben für ein Toilettentraining mit jedem einzelnen Kind. Zudem wurde an der Kita ein Frühstück eingeführt, weil viele Kinder noch nichts gegessen haben, wenn sie die Eltern ab sieben Uhr morgens bringen. Solche Versäumnisse lasten die Erzieherinnen in erster Linie den Eltern an, was verständlich, aber nicht ganz gerecht ist: Schließlich stehen auch die Eltern oftmals unter Leistungsdruck, selbst wenn ihre Existenz nicht unmittelbar gefährdet erscheint. Ein kindgerechter Frühstücksrhythmus ist für Eltern schwer aufrechtzuerhalten, wenn sie es mit einem Chef zu tun haben, der seine Mitarbeiter regelmäßig morgens um acht zum ersten Meeting einbestellt. Oder wenn zwischen Zuhause und Büro jeden Tag eine nervenaufreibende Stunde Fahrzeit liegt.

Auf dem Tisch von Friedas Kita-Gruppe stehen ein Teller mit Salami, Käse und Schinkenwurst, einige Schnitten Vollkornbrot und Apfelschorle. Die größeren Kinder trinken aus Gläsern und Tassen, die kleineren aus Trinklernflaschen. Einiges von dem Essen und Trinken wird gleich wieder ausgespuckt, landet auf dem Tisch oder Boden, auf den Kleidern der Kinder – oder der Erzieherinnen, die das gelassen hinnehmen. Weil der Platz am Tisch nicht für alle Kinder reicht, wird in Schichten gefrühstückt, wobei die essenden Kinder den anderen zuschauen, wie sie durch den Raum toben und spielen. Der Lärmpegel in Friedas Gruppe hält sich in Grenzen, was nichts heißen muss: Eine Erzieherin aus einer anderen Gruppe erzählt, sie habe sich einmal den Spaß gemacht, den Lärm tagsüber zu messen. Spitzenwert: 80 Dezibel. Im Internet las sie, dass dies dem Pegel an einer Hauptverkehrskreuzung in Paris entspreche.

Der Staat will zunehmend wissen, ob das Geld in der Krippe auch sinnvoll angelegt ist: Das hat zu einer steigenden Zahl von Tests und Screenings geführt, die ermitteln sollen, ob ein Kind verhaltensauffällig ist oder in der Entwicklung hinterherhinkt, und wie es um seine zukünftige Lese- und Rechtschreibkompetenz bestellt ist. Die Tests werden meist von externen Experten durchgeführt. Auch die Erzieherinnen sollen verfolgen, wie es um die Sprachfähigkeit, soziale Kompetenz, Feinmotorik, Grobmotorik, Seh- und Hörfähigkeit, Motivation und Selbstständigkeit jedes einzelnen Kindes bestellt ist. Selbstverständlich wird erwartet, dass sie die zunehmend aufwändige Dokumentation während ihres ohnehin schon eng getakteten Arbeitstages erledigen.

Trotz aller Bürokratie versichern die Erzieherinnen, dass sie ihren Beruf gern ausüben und sich in der Einrichtung äußerst wohl fühlen. Zu vielen Kindern, die sie schon im Alter von wenigen Monaten kennenlernen, entwickeln sie über die knapp sechs Jahre, die sie in der Kita verbringen, eine enge Beziehung, „fast wie zu den eigenen Kindern“, wie eine Erzieherin meint. Gegenüber manchen Eltern sind die Gefühle eher gemischt, jede Erzieherin weiß von irritierenden Vorfällen zu berichten. Ein Junge aus Friedas Gruppe etwa, kaum älter als ein Jahr, hat tags zuvor ununterbrochen geweint. Die Erzieherin erzählte das seiner Mutter, die ziemlich kühl entgegnete: „Naja, dann ist es ja gut, dass er bei Ihnen so gut angedockt ist.“

Zuweilen werden Kinder krank oder gar mit hohem Fieber zur Kita gebracht, zusammen mit dem Hinweis, das Kleine doch ins Bett zu legen, wenn es schlapp ist. Ein Junge hatte vor einigen Wochen Brechdurchfall, also riefen die Erzieherinnen die Mutter an und baten ihn abzuholen. Am nächsten Tag brachte die Mutter den Jungen wieder in die Kita und meinte: Alles wieder in Ordnung. Kaum war sie zur Tür hinaus, übergab er sich erneut. „Für manche unserer Eltern steht die Arbeit im Vordergrund“, meint eine Erzieherin, „die haben die Arbeitsteilung voll verinnerlicht und sind der Meinung, dass es allein unser Job ist, für die Kinder zu sorgen.“

Abschiedsschmerz und Trennungsangst

Die Frage bleibt, ob diese Eltern wirklich die Arbeitsteilung verinnerlicht haben oder nicht eher zerrissen sind von den vielfältigen Anforderungen, die in Beruf und Familie an sie gestellt werden. In den vielen Elternforen, die im Internet kursieren, tauchen jedenfalls häufig Fragen auf wie „Hilfe, mein Kind weint jeden Tag, wenn ich es zur Krippe bringe. Was soll ich tun?“. Schon in den Siebzigerjahren beobachtete die amerikanische Psychologin Ellen Hock Trennungsängste bei Müttern, die bald nach ihrer Geburt an die Arbeit zurückkehrten und ihre Kinder fremdbetreuen ließen. Bei ihren Interviews befragte Hock die Frauen zu diesem Thema und stellte fest, „dass die Mehrzahl der Frauen von einem Gefühl der Trauer sprach“. Viele Mütter verzweifeln offensichtlich an dieser Situation, besonders wenn sie gezwungen sind zu arbeiten. Nicht minder frustrierend mag es für Frauen sein, wenn sich abzeichnet, dass sie ihren Beruf wieder aufgeben müssen, weil es mit dem Kind in der Krippe nicht klappt und der Partner oder Ehemann sich weigert, das eigene Pensum zurückzufahren. Wenn sie dann noch beobachten, wie andere quietschfidel in die Krippe spazieren, können sich solche Mütter sehr schnell sehr allein fühlen. Auch daran ist die Politik mitschuldig, zumindest wenn sie Eltern suggeriert, die Einheitslösung Krippe sei für jedes Kind das Beste.

Der Spagat, den viele Eltern vollziehen müssen, zeigt sich schon in den ersten Tagen der Betreuung. In der Theorie, erklärt die Leiterin der Kita, sollten die Kinder in den ersten sechs Wochen behutsam an ihre neue Umgebung herangeführt werden und sich dort langsam stabilisieren. Das setzt die Mitarbeit der Eltern voraus, die ihr Kind anfangs nur für ein oder zwei Stunden abgeben und auch in dieser Zeit verfügbar sein sollen. Spätestens nach drei Wochen berichteten die meisten Eltern, der Arbeitgeber mache Druck. Dabei sei es das Kind, das vorgebe, wie lange die Eingewöhnung dauert, meint eine Erzieherin. „Wir hatten auch schon Fälle, bei denen sich dieser Prozess über vier Monate hinzog.“ Eine Kollegin merkt an, dass individuelle Eingewöhnung streng genommen bedeuten müsse, das Kind aus der Einrichtung herauszunehmen, „wenn ich sehe, das klappt nicht“. Aber genau dieser Schritt ist bei vielen Eltern nicht vorgesehen, sie und erst recht ihr Arbeitgeber haben die Babypause abgehakt.

Für die Erzieherinnen ist die Art, wie manche Eltern Prioritäten setzen, schwer nachvollziehbar. „Die reden sich die Sache schön“, sagt eine Erzieherin. „Die wollen gar nicht so genau wissen, wie es ihrem Kind wirklich bei uns geht.“ Eine Kollegin erzählt, sie habe schon ein schlechtes Gewissen gehabt, ihren eigenen Sohn im Kindergarten abzugeben, als er drei Jahre alt war. Nun sei sie aufgrund ihres Berufes gezwungen, ihn in einer Ganztagsschule unterzubringen. Umso mehr bemühe sie sich, wenigstens in den Ferien so viel Zeit wie möglich gemeinsam mit ihm zu verbringen. „Wenn ich das den Eltern meiner Krippenkinder erzähle, schütteln die oft nur den Kopf und fragen, warum ich mir das antue.“ Nicht wenige empfänden es schon als ärgerlich, dass die Kita drei Wochen im Jahr schließt. Die Kommune hat deshalb einen Kita-Notdienst eingerichtet, sodass die Eltern beziehungsweise ihre Kinder diese Zeit überbrücken können. „Wenn ich mir ansehe, wie lange die Kinder bei uns gebraucht haben, um sich einzugewöhnen, dann frage ich mich schon, ob das wirklich im Interesse der Kinder ist.“

Was diese Erzieherin bei ihrer Kritik übersieht, ist die Tatsache, dass Eltern in den vergangenen zehn Jahren von Politikern und Experten eingeflüstert wurde, dass ihre Kinder in der Kita besser aufgehoben seien als zu Hause. Andererseits spiegeln ihre Äußerungen auch einen gewissen Frust darüber wider, dass manche Eltern ihr implizit und explizit zu verstehen geben, sie hätten Wichtigeres zu tun, als sich um ihr Kind zu kümmern. Genau das ist ja die politische Vorgabe: Die Eltern sind für den Arbeitsmarkt zu wertvoll, als dass ihre Ressourcen für die Betreuung ihrer Kinder verschwendet werden könnten. Diese Geringschätzung ihrer erzieherischen Leistung verspüren die Kita-Mitarbeiter nicht nur im Kontakt mit den Eltern, dasselbe Signal erhalten sie von der Gesellschaft, die ihnen für ihre Dienste ein vergleichsweise mickriges Gehalt zugesteht. Die allgemeine Euphorie, die zum Endspurt der Krippenoffensive im Sommer 2013 aufkam, als die Kommunen keine Kosten und Mühen scheuten, um den Rechtsanspruch von Eltern kleiner Kinder auf einen Krippenplatz sicherzustellen – sie ist längst verpufft. Und schon damals bezogen sich die öffentlichen Jubelmeldungen vor allem auf die neu errichtete Infrastruktur – ganz so, als würden die Häuser die Kinder betreuen und nicht die Erzieher. Die angebliche Erziehungspartnerschaft von Eltern und Krippenpersonal ist also wesentlich brüchiger, als manche Politiker und Experten das darstellen. Sie beschreibt die Realität der Fremdbetreuung bei uns ebenso wenig wie das von Krippenbefürwortern so gern zitierte afrikanische Sprichwort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Unsere durch und durch optimierte und ökonomisch getriebene Gesellschaft hat kaum Gemeinsamkeiten mit einem afrikanischen Dorf. In unserem Dorf – um in dem schiefen Bild zu bleiben – haben sich die meisten Bewohner von den Kindern abgewandt, und die wenigen Bewohner, die sich um den Nachwuchs kümmern, stehen in der Dorfhierarchie ziemlich weit unten.

Die Entwicklung, schon ganz kleine Kinder fremdbetreuen zu lassen, habe in ihrer Kita vor etwa zehn Jahren begonnen, erzählt die Leiterin. Sie erinnert sich an ein Mädchen, Elena, das damals zu ihr kam. Die Erzieherinnen waren mit ihr überfordert, deswegen habe sie sich tagsüber oft um das Kind gekümmert. Sie geht mittlerweile in eine Schule ganz in der Nähe und besucht die Kita bis heute regelmäßig, um ihre ehemalige Betreuerin zu sehen. Manchmal erzählt das Mädchen, es habe von ihr geträumt, manchmal will es einfach nur gedrückt werden. „Elena hat sich an mich gebunden“, sagt die Leiterin der Kita, „aber was ist das für eine Bindung?“

Auch bei diesem Beispiel offenbart sich ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis: In den Lehrbüchern heißt es immer wieder, das Betreuungspersonal sei durchaus in der Lage, zu den Kindern Bindung und emotionale Nähe herzustellen. Aber wie tragfähig ist die Bindung, wenn sie nach relativ kurzer Zeit wieder abgebrochen wird, weil das Kind in die nächste Betreuungseinrichtung wechselt, von der Krippe in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Schule?

Wer wirklich „mit dem Herzen“ dabei sei, könne „die sozialen, emotionalen Defizite der Kinder, die zu früh zu uns kommen“, nicht übersehen, sagt die Leiterin. Aus der Entwicklungspsychologie sei bekannt, dass sich diese Defizite kaum aufholen ließen. Viele gut ausgebildete Mütter seien heute der Meinung, ihr Kind gehöre spätestens mit zwölf Monaten in die Krippe, weil es dort die nötige Bildung bekomme. Dabei könne Bildung aber nur funktionieren, wenn eine intakte Bindung vorhanden sei. „Gerade in unserer Leistungsgesellschaft brauchen die Kinder ein sicheres Fundament, das ihnen nur die Eltern bieten können. Das können wir mit unserer Betreuung nicht ersetzen.“

Risiken sollen möglichst minimiert werden

Bis vor Kurzem saßen kleine Kinder auf dem Gepäckträger, ohne Helm und sonstige Sicherheitsvorrichtungen, wenn sie von der Mutter mit dem Fahrrad zum Kindergarten gebracht wurden. Im Auto turnten sie auf den Rücksitzen, ohne Gurte, und nicht selten saßen die Eltern rauchend auf den Vordersitzen. Das ist heute unvorstellbar, Eltern sind extrem darauf bedacht, jedes Risiko zu meiden, wenn es um den Nachwuchs geht. Beim Rollschuhfahren sind die Kinder mit Arm- und Knieschonern ausgestattet, beim Radfahren tragen sie einen Helm, im Auto sitzen sie auf teuren Kindersitzen. Die Vorsicht hat sich ausgezahlt, wie sich in den Statistiken zum Straßenverkehr zeigt: Während 1978 noch 1449 Kinder und Jugendliche tödlich verunglückten, waren es 2012 nur noch 78. Mehr als frühere Generationen machen sich Eltern heute kundig, was ihre Kinder am besten trinken, essen und mit welchen Produkten sie in Berührung kommen sollten. Das spürt auch Jürgen Stellpflug, der Chefredakteur der ZeitschriftÖkotest. Viele seiner Leser sind junge Eltern. „Egal, wie ungesund sie selbst bis dahin gelebt haben, für ihre Kinder wollen sie nur das Beste.“ Ökotest trägt diesem Verlangen Rechnung: Die Zeitschrift veröffentlicht, ähnlich wie die Stiftung Warentest, regelmäßig Tests von Kinderprodukten, seien es Gummistiefel oder Gute-Nacht-Breis, Holzpuzzles oder Hochstühle. Sie wacht genau darüber, ob die strikten Grenzwerte für krebserregende Chemikalien in Plüschtieren und Spielzeug, die Experten der Europäischen Union festgelegt haben, in der Praxis auch eingehalten werden.

Bei der geistigen Umgebung setzt das Denken aus

Den Medien ist es immer eine Schlagzeile wert, wenn zehn von vierzehn Kinderwagen im Test mangelhaft abschneiden, wenn sich herausstellt, dass die bei Kindern so beliebte Giraffe Sophie womöglich Schadstoffe enthält oder die Schokolade im Adventskalender Spuren von Erdöl. Journalisten und Verlagsleute wissen nur zu gut, dass sich mit der Sorge heutiger Eltern um ihren Nachwuchs Auflage und Quote machen lässt.

Die Sicherheit von Kindern ist ein hochemotionales Thema, weshalb auch die betroffenen Firmen in der Regel prompt reagieren, erklärt Stellpflug. „Es reicht schon, wenn sie beim Test nur mit dem Urteil ›befriedigend‹ abgeschnitten haben.“ Lediglich die Spielzeugbranche sei resistent, laut Stellpflug nicht böser Wille, sondern häufig die Folge einer Lieferkette, die viele Hersteller nicht vollständig im Griff hätten. Das heißt, sie können vielleicht noch ihre Subunternehmer kontrollieren, die meist in China sitzen, aber spätestens bei den Subunternehmern dieser Firmen versagt die Aufsicht. Stellpflug sagt, Ökotest habe auch einmal getestet, ob bei der Herstellung bestimmter Produkte Kinder beschäftigt wurden und diese Befunde veröffentlicht. Das habe die Leser allerdings kaum interessiert. „Aber was die eigenen Kinder betrifft“, sagt derÖkotest-Chef, „nehmen die Eltern sehr genau wahr.“

Sicherheit geht über alles, die Risiken des Alltags sollen für Kinder möglichst minimiert werden. Zumindest was die Welt der Produkte angeht, dulden Eltern keine Kompromisse. Umso erstaunlicher ist, dass dieses Sicherheitsdenken nicht genauso einsetzt, wenn es um die geistige Umgebung und das psychische Erleben ihrer kleinen Kinder geht, die den ganzen Tag lang getrennt von ihnen verbringen. Natürlich gibt es viele Politiker und Experten, die Eltern darin bestärken. Aber auch genügend, die eindringlich davor warnen.

Man stelle sich vor, die Leiterin einer Kinderkrippe – Männer sind in dieser Branche nun einmal die absolute Ausnahme – nimmt die jungen Eltern, die sich bei ihr um einen Platz für ihr Kind bewerben, beiseite und sagt: „Freut uns sehr, dass Sie zu uns gekommen sind. Ihr Kind wird sich bei uns sicher wohlfühlen. Trotzdem möchte ich Sie darauf hinweisen, dass viele Kinder den Aufenthalt hier als stressig empfinden.Bei manchen Kindern wird dieser Stress auch chronisch, was natürlich nicht der optimale Start ins Leben ist. Außerdem sind unsere Kinder ein bisschen aggressiver und widerspenstiger als andere. Natürlich wird sich Ihr Kind bei uns auch öfter mit Krankheiten anstecken als zu Hause, das ist leider unvermeidlich beim täglichen Kontakt mit anderen Kindern, eine Krippe ist nun mal eine Bakterienschleuder. Dafür wird Ihr Kind hier viele neue Kinder kennenlernen und, wenn alles glattläuft, eine gute Beziehung zu unseren Erziehern aufbauen. Gut, das heißt eventuell, dass die Bindung zwischen Ihnen und Ihrem Kind darunter leidet, aber keine Angst, so schlimm wird es schon nicht kommen.“

Solche Worte werden junge Eltern kaum zu hören bekommen, wenn sie sich bei einer Krippe vorstellen. Wenn doch, würden sie die Einrichtung ziemlich schnell wieder verlassen und ihr Kind an einem anderen Ort unterbringen, der mehr Vertrauen erweckt. Und nicht wenige würden auf die Barrikaden gehen, dass sie gezwungen sind, ihre Kinder dort abzugeben, um arbeiten und die Existenz der Familie sichern zu können. Sie würden fragen, wie die Politik überhaupt zulassen und fördern könne, dass der Staat und private Träger Betreuungseinrichtungen betreiben, die möglicherweise das Kindeswohl gefährden. Und warum diese Risiken stillschweigend hingenommen werden. Deshalb werden Eltern kaum je einen solchen Vortrag hören – obwohl er durchaus im Einklang mit dem wäre, was die Wissenschaft über Kinderkrippen herausgefunden hat.

Warnungen aus der Forschung

Der amerikanische Psychologe Jay Belsky hatte keinerlei Vorbehalte gegen Krippen, im Gegenteil. Als er 1986 seine Forschungen aufnahm, wollte er vor allem studieren, wie Kleinkinder von der Gruppenbetreuung profitierten. Anders als erwartet fand er eindeutige Hinweise, dass der Aufenthalt den jüngsten Kindern offenbar doch nicht so guttat. Jedenfalls zeigten sie später ein erhöhtes Maß an Aggression und weniger Bereitschaft, sich Regeln und Anweisungen von Eltern oder Lehrern zu fügen. Belsky veröffentlichte seine Erkenntnisse in einem Aufsatz, überschrieben mit der vorsichtigen Frage, ob die Betreuung von Kleinkindern in Krippen Anlass zur Sorge gebe.

Inzwischen gibt es zahlreiche Untersuchungen, die die Gefahren einer Betreuung von Kleinkindern in Krippen sehr konkret benannt und nachgewiesen haben. Das Problem praktisch aller Studien besteht darin, dass sich die Hauptbetroffenen, die Kleinkinder, selbst noch nicht äußern können. Deshalb suchen die Forscher nach objektiv messbaren Daten. Ein solcher Wert ist der Pegel des Stresshormons Cortisol.

Experten nehmen Stress bei Kleinkindern sehr ernst. So warnt die Hamburger Kinderpsychiaterin Carola Bindt: „Hoher Stress in der frühen Kindheit prägt langfristig.“ Wenn Stress chronisch wird, beeinträchtigt das die Gesundheit und das Sozialverhalten der Betroffenen, macht sie anfälliger für Sucht und Depression, und zwar ein Leben lang. Es hat sich herausgestellt, dass der Pegel des Stresshormons Cortisol bei Kindern, die tagsüber in Krippen betreut werden, stark erhöht ist. Auch bei Kindern, die tagsüber zu Hause sind, steigt der Wert morgens an, sinkt aber im Laufe des Tages wieder. Bei Krippenkindern bleibt er konstant hoch oder steigt sogar immer weiter. Laut dem Bielefelder Kinder- und Jugendarzt Rainer Böhm, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums in Bielefeld, sei diese Diskrepanz „ein untrügliches Anzeichen einer erheblichen und chronischen Stressbelastung“. Die Belastung der Kinder in den Krippen ließe sich sogar „mit den Stressreaktionen von Managern vergleichen, die im Beruf extremen Anforderungen ausgesetzt sind“.

Der menschliche Körper hat als Reaktion auf diese Daueranspannung einen „Notfall-Mechanismus“ entwickelt, um sein Gehirn wenigstens ein bisschen zu schützen. Der Mechanismus lasse sich auch bei Kleinkindern in Krippen beobachten, erklärt der Kinderarzt Böhm: Der morgendliche Cortisolwert werde „zunehmend heruntergefahren, um die Gesamtmenge an Cortisol, die auf das Hirngewebe einwirken kann, zu reduzieren“. Diesen Effekt konnten Wissenschaftler bei Kleinkindern feststellen, die unter völlig verschiedenen Bedingungen aufwuchsen: in rumänischen und russischen Waisenhäusern ebenso wie in Kinderkrippen von westlichen Industrieländern.

Eine Untersuchung der Universität Cambridge im Jahr 2005 ergab, dass sich der Hormonspiegel bei Kleinkindern, die neu in die Krippen kamen, in den ersten neun Tagen der Kinderbetreuung verdoppelte. Auch nach fünf Monaten wich der Wert noch deutlich von der Norm ab. Eine wichtige Erkenntnis dieser Studie, schreibt der australische Familienpsychologe Steve Biddulph, bestehe darin, „dass man nach fünf Monaten das Gefühl hatte, die Kinder hätten sich gut eingelebt, weil sie äußerlich keine Anzeichen von Stress erkennen ließen. Aber die Cortisolwerte zeigten, dass sie innerlich verängstigt waren und sich nicht wohl fühlten. Es ist eine einhellige Beobachtung, die alle Cortisol-Studien teilen, dass Kinder nach einiger Zeit den Eindruck machen, sie kämen mit dem Stress zurecht, einfach weil sie gelernt haben, ihre innere Aufgeregtheit zu verbergen.“

Es gibt auch Forschungsergebnisse, die belegen, dass der Stress, den Kinder in frühen Jahren in Betreuungseinrichtungen erlebt haben, sie langfristig beeinträchtigen kann: 1991 begann in den Vereinigten Staaten eine groß angelegte Untersuchung, die vom National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) mit 200 Millionen Dollar finanziert wurde. Die Forscher wählten Familien in zehn verschiedenen Städten der USA aus, die gerade Nachwuchs bekommen hatten. Sie verfolgten über Jahre, wie die Kinder aufwuchsen, befragten die Eltern wiederholt zu deren Verhalten und dem gemeinsamen Leben. Auch die Messung des Stresshormons Cortisol zählte in der Endphase der Großstudie zum Untersuchungsrepertoire. Ergebnis: Der morgendliche Cortisolpegel von 15-Jährigen, die schon früh und umfangreich in Krippen betreut worden waren, wich deutlich von den Werten anderer 15-Jähriger ohne Krippenerfahrung ab und war näher an den Werten von Kindern, „die in der Familie emotional vernachlässigt oder misshandelt worden waren“, so Kinderarzt Rainer Böhm. „Besonders fällt auf, dass die Effekte in diesen beiden Gruppen gleich stark waren, dass die Veränderungen unabhängig von der Qualität der Betreuung auftraten und dass sich die Stresseffekte von Tagesbetreuung und familiärer Vernachlässigung addierten.“ Das deute darauf hin, „dass Krippenbetreuung die Stressregulation auch langfristig negativ beeinflusst. Und: Das in der Öffentlichkeit verbreitete Mantra ist falsch, alle Probleme der Krippenbetreuung ließen sich allein mit Qualität lösen.“

Die Vermutung liegt nahe, dass die Stressbelastung die Widerstandskräfte des Körpers schwächt: Wiederholt haben Untersuchungen ergeben, dass Krippenkinder häufiger krank sind. Verglichen mit Familienkindern erkranken sie dreimal so häufig an Grippe, leiden sechsmal so häufig unter Mittelohrentzündungen und siebenmal so häufig unter Lungenerkrankungen. Das zeigten bereits Studien in der früheren DDR, die damals allerdings der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Andere Untersuchungen belegten, dass Krippenkinder anfälliger für Kopfschmerzen und Immunkrankheiten wie Neurodermitis sind.

Darüber hinaus hat sich der Verdacht, den der US-Psychologe Jay Belsky in den Achtzigerjahren noch mit einem Fragezeichen formulierte, mittlerweile erhärtet: Kinder, die schon in frühem Alter über viele Stunden täglich in Krippen betreut werden, sind später aggressiver und widerspenstiger als ihre Altersgenossen, die zu Hause aufwuchsen. Ein Viertel der Kinder aus der NICHD-Studie, die schon früh ganztags betreut wurden, zeigte im Alter von vier Jahren „ein Problemverhalten, das dem klinischen Risikobereich zugeordnet werden muss“, erläutert Böhm. „Später konnten bei den inzwischen 15 Jahre alten Jugendlichen signifikante Verhaltensauffälligkeiten festgestellt werden.“ Die Studie führt unter anderem Rauschgiftgebrauch, Diebstahl und Vandalismus an.

Belsky räumt ein, dass diese Effekte vergleichsweise gering seien. Eltern könnten deshalb zum Schluss kommen, dass kein Anlass zur Sorge bestehe. Aus der Sicht der Politik aber stelle sich die Sache in jedem Fall problematisch dar: Man müsse sich nur eine Klasse mit dreißig Schülern vorstellen, in der zwei Drittel etwas aggressiver und undisziplinierter seien – verglichen mit einer Klasse, in der das nur auf jeden zehnten Schüler zutreffe. Was, fragt Belsky, bedeutet das für die Lehrer, die in dieser Umgebung unterrichten? Was bedeutet es für die Gesellschaft? Belsky zieht einen drastischen Vergleich zum Straßenverkehr: „Es ist nicht das eine Auto, das die Luft in London oder Los Angeles verschmutzt. Es sind alle Autos zusammen.“

Ein Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Ludwig Verlag

Vater Mutter StaatRainer Stadler Ludwig Verlag 2014, 272 S., 19,99 €, auch als E-Book

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