Babylon ist mehr als einmal gefallen

Planspiel Wie neue Grenzen den Nahen und Mittleren Osten befrieden könnten

Je weniger der Irak zur Ruhe kommt, desto mehr wächst in den kurdischen Regionen der Wunsch nach einer über die Autonomie hinausgehenden Selbstständigkeit. Ein unabhängiger kurdischer Staat könnte allerdings wie ein Dominostein wirken und umfassende Grenzrevisionen im Nahen und Mittleren Osten auslösen. Wir dokumentieren deshalb an dieser Stelle Vorstellungen über eine künftige regionale Geografie aus nordamerikanischer sowie kurdischer Sicht. Ralph Peters, Buchautor und pensionierter Nachrichtenoffizier, schreibt für das Armed Forces Journal, ein Periodikum der US-Armee - der kurdische Journalist Azad Aslan ist Autor des in Erbil erscheinenden Kurdish Globe.

Selbstverständlich können Grenzveränderungen, wie drakonisch sie auch ausfallen mögen, nicht jede Minderheit im Mittleren Osten glücklich machen. In einigen Fällen haben sich ethnische und religiöse Gruppen untereinander vermischt, anderswo könnten Zusammenführungen, die auf Blut oder Glaube basieren, weniger erfreulich ausfallen, als ihre heutigen Befürworter glauben. Die Demarkationslinien, die auf der oben stehenden Karte projiziert werden, sollen vorrangig Nachteile ausgleichen, wie sie die am meisten "betrogenen" Ethnien des Nahen und Mittleren Ostens bisher hinnehmen mussten, darunter Kurden, Belutschen und arabische Schiiten - die ins Auge gefassten Korrekturen sind freilich nicht geeignet, auch kleineren Minderheiten gerecht zu werden. Doch ohne derartige Grenzrevisionen werden wir niemals eine befriedete Region zwischen Europa und Asien erleben. Wir täten daher gut daran, uns eine solche Novellierung wenigstens vorzustellen und die "organischen" Grenzen dieser Region zu erfassen. Denn nur so lernen wir etwas über die Schwierigkeiten, denen wir dort weiterhin begegnen werden.

Beginnen wir mit der für amerikanische Leser heikelsten Grenze: Israel kann nur dann auf einen vernünftigen Frieden mit seinen Nachbarn hoffen, wenn es zu seinen Grenzen zurückkehrt, wie sie vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 bestanden - mit unerlässlichen lokalen Anpassungen aus legitimen Sicherheitsbedenken.

Der Irak erweist sich als Frankensteins Monster unter den Staaten, zusammengenäht aus schlecht passenden Teilen, deshalb sollte er in drei kleinere Entitäten zerlegt werden. Aus Feigheit und mangelndem Weitblick haben wir Iraks Kurden genötigt, die neue Regierung in Bagdad zu unterstützen, was sie wehmütig tun, als ein quid pro quo, um uns gegenüber erbötig zu sein. Gäbe es einen Volksentscheid, würden nahezu 100 Prozent der Kurden für die Unabhängigkeit stimmen.

Eine gerechte territoriale Anpassung würde die drei sunnitisch dominierten Provinzen des Irak zu einem gestutzten Staat bündeln, der sich unter Umständen zu einer Fusion mit Syrien entschließen könnte, das wiederum seine Küstenzone an einen dem Mittelmeerraum zugewandten Großlibanon verliert: Damit entstünde Phönizien aufs Neue. Der schiitische Süden des heutigen Irak ergäbe die Basis für einen Arabischen Schiitenstaat, dessen Grenzen am Persischen Golf lägen. Jordanien behielte sein jetziges Territorium, würde sich aber auf saudische Kosten ein wenig nach Süden ausdehnen.

Die muslimische Welt ist nicht zuletzt deshalb einer umfassenden Stagnation unterworfen, weil Mekka und Medina eine Machtdomäne der saudischen Königsfamilie sind. Damit befinden sich die heiligsten Schreine des Islam unter der polizeistaatlichen Kontrolle eines der bigottesten und unterdrückerischsten Regimes der Welt, dem dadurch erlaubt wird, seine wahhabistische Vision eines intoleranten Glaubens weit über seine Grenzen hinaus zu tragen. Der Aufstieg der Saudis zu Wohlstand und der dadurch bedingte Einfluss sind das Schlimmste, was der gesamten muslimischen Welt seit der Zeit des Propheten passieren konnte - das Verhängnisvollste, was den Arabern seit der Eroberung durch die Ottomanen (wenn nicht gar durch die Mongolen) widerfuhr.

Nicht-Muslime vermögen die Kontrolle über die heiligen Stätten des Islam nicht in andere Hände zu geben. Aber man stelle sich nur vor, wie viel gesünder die muslimische Welt sein könnte, wenn Mekka und Medina von einem rotierenden Rat regiert würden, der die größten muslimischen Schulen und Strömungen der Welt repräsentiert. Es könnte eine Art muslimischer Super-Vatikan entstehen, der - statt zu dekretierten - die Zukunft eines großen Glaubens debattiert. Im Zeichen wahrer Gerechtigkeit - die wir in den USA vielleicht nicht schätzen werden - müssten die Ölfelder an der Küste Saudi-Arabiens an die schiitischen Araber übergehen, die diese Subregion bewohnen, während ein südöstlicher Quadrant dem Jemen zufiele. Eingedämmt auf ein unabhängiges Rumpf-Saudi-Homeland rund um Riad, könnte das Haus Saud weit weniger Unheil in der islamischen Welt anrichten.

Iran, ein Staat mit irrsinnigen Grenzen, müsste große Gebiete an das Vereinte Aserbaidschan, das Freie Kurdistan, den Arabischen Schiitenstaat und an das Freie Belutschistan verlieren, würde jedoch die Provinzen rund um Herat im heutigen Afghanistan erhalten - eine Region mit einer historischen und linguistischen Affinität zu Persien. Damit wäre Iran erneut ein ethnischer Perserstaat.

Was Afghanistan im Westen an Persien verlöre, würde es im Osten gewinnen, da die paschtunischen Stämme an Pakistans nordwestlicher Grenze mit ihren afghanischen Brüdern wiedervereint wären. Es geht hier nicht darum, die Karte so zu zeichnen, wie wir es wünschen, sondern wie es die lokale Bevölkerung ersehnt.

Pakistan, ein weiterer unnatürlicher Staat, verlöre sein Belutschen-Gebiet an das Freie Belutschistan. Das verbleibende "natürliche" Pakistan läge vollständig östlich des Indus, mit Ausnahme eines westlichen Dorns nahe von Karatschi.

Die Stadtstaaten der Vereinigten Arabischen Emirate nähmen ein unterschiedliches Schicksal. Einige könnten in den bereits erwähnten Arabischen Schiitenstaat eingegliedert werden (ein Staat, der sich eher zum Gegengewicht als zum Alliierten des Iran entwickeln dürfte). Da alle puritanischen Kulturen heuchlerisch sind, würde man Dubai notwendigerweise erlauben, seinen Status als Spielplatz für reiche Lüstlinge zu behalten. Kuwait und Oman würden in ihren heutigen Grenzen verbleiben.

In jedem Fall reflektiert diese hypothetische Neuzeichnung von Grenzen ethnische Affinitäten oder religiösen Gemeinschaftsgeist. Vergleicht man die korrigierte Karte mit jener, auf der die heutigen Grenzen eingezeichnet sind, erkennt man das Unrecht, dass diese von Franzosen und Engländern im 20. Jahrhundert gezogenen Markierungen einer Region zugefügt haben, die darum kämpfte, sich von den Demütigungen und Niederlagen des 19. Jahrhunderts zu erholen.

Grenzen so zu verändern, damit sie dem Willen der Völker entsprechen, mag unmöglich sein. Bis jetzt jedenfalls. Aber mit der Zeit werden neue, vor allem natürliche Grenzen entstehen - Babylon ist mehr als einmal gefallen.

Gekürzt, Zwischentitel von der Redaktion

Dieser Beitrag erschien Ende 2006 im US-Magazin Armed Forces Journal.


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