Von Toten wird gern bekümmert festgestellt, dass sie fehlen. Das ist sehr albern, denn was bitte sollten sie denn sonst tun? Alle anderen sind ja da, und das ist nicht immer schön. Wer das zeitlebens wusste und zuverlässig unter der Anwesenheit einer beachtlichen Ansammlung von Nichttoten litt, war der Schriftsteller, Vortragskünstler und Sänger Wiglaf Droste, dessen früher Tod, mit nur 57 Jahren, in der letzten Woche von einem gesamtdeutschen Medienchor, sogar in der Tagesschau, ausgiebig beklagt wurde. Es soll Leute geben, die sich verstört die Augen rieben: Droste in den Weltnachrichten des Ersten Deutschen Fernsehens? Okay, nur über seine Leiche, aber das hatten sie geschafft.
Die Erledigung von Feinden per Umarmung ist kein neues Verfahren, aber im Fall Droste muss ein professioneller Masochismus hinzugekommen sein. Seit Karl Kraus hat niemand Land und Leute derart abfällig geschmäht und das auch immer wieder gern so justiziabel wie möglich kundgetan. „Das kleine, dicke Tierchen mit dem Charisma eines Zementsacks“, das ist die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Potsdamer Platz: eine Angelegenheit für die „fliegende Architekturkritik“, womit die Attentäter von Nine-Eleven gemeint sind. Bayreuth, die „Schäferhundebesitzerkulturhochburg“, ein legitimes Ziel für die israelische Luftwaffe, auf dass sie werde, was sie sei: „ein geistloses Erdloch“.
Erfrischend klare Worte. Wiglaf Droste war kein Heimatdichter, obwohl er sein Land, wenn er wollte, auch besingen konnte: „Schön ist die Heimat / So man sie hat / Schön auch der Hering / Besonders der Brat-.“ Seine Kunst, pauschale Ächtung und persönliche Invektive mit kaltem Witz und ätzender Schärfe zu servieren, verschafft ihm von Anfang an ein enormes Publikum. Er nimmt es mit jedem auf und versteht das auch als Dienst an der Gesellschaft, als Notwehr für alle.
1961 in Herford geboren, bricht Droste ein „grunddummes“ Studium der Kommunikationswissenschaften schnell ab, schreibt zunächst für die taz und die Titanic Kolumnen und Reportagen, die unbekümmert, respektlos und vor allem sehr, sehr lustig sind. Das ist die Hauptsache. Als die taz ihn nach internem Streit feuert, gründet er 1989 mit Freunden in (West-)Berlin die „Höhnende Wochenschau“, eine „Live-Zeitung“ und vielleicht die erste Lesebühne Deutschlands. Die ungedruckten Texte werden einfach vorgetragen. Die Idee revolutioniert den Literaturbetrieb. Sind Lesungen zuvor betuliche Veranstaltungen, abgehalten in den Ecken verwinkelter Buchläden, wird jetzt gelacht und gesungen, getrunken und gefeiert. Ihn deshalb zum Erfinder des Poetry Slams zu küren, hat er nicht verdient. Das eine ist gelebte und gelesene Anarchie, das andere sind zum Durchschmunzeln konfektionierte Textaufsagereien.
Wohl kein anderer deutscher Autor, auch nicht Eckhard Henscheid, hat den Furor der Verbalinjurie in diese literarischen Höhen oder Abgründe getrieben. Seine Lieblingsfeinde sind in der Regel die eigenen Leute, genauer gesagt die, die man dafür hielt, bevor man ihn las: der „Berufsschleimer Campino“, „der dummdreiste Ranzlappen Wolf Biermann“ oder Tim Renner, in dem Droste lange vor dem Volksbühnendebakel „die Avantgarde aller Arschkriecher“ begrüßte.
Privat war Droste überraschend sanftmütig. Politische Linientreue interessierte ihn weit weniger als die Verteidigung der Daseinsfreude, vorzugsweise der eigenen. „Es gibt kein Recht auf Heiterkeitsverzicht“, dekretierte er einmal in einer Verneigung vor dem hochverehrten Dichter Peter Hacks. Das war Mahnung und Anspruch zugleich, ein rauschendes Leben zu führen, ohne zum Adabei zu werden, und bei aller Virtuosität den Schabernack nie aus dem Auge zu verlieren. „In des Daseins / stillen Glanz / Platzt der Mensch / Mit Ententanz.“ Verse, die von einer schier goetheanischen Schanze in den Nonsens springen.
Im Nebenberuf war der Polemiker Droste immer auch Idylliker, ein ewig Schmachtender, der herzzerreißende Liebesgedichte schreiben und sein Publikum mit baritonösem A-cappella-Gesang entzücken und verstören konnte. Der Kochbücher schrieb, eine ganze Kochbuchsammlung, und zusammen mit dem Sternekoch Vincent Klink über 17 Jahre die kulinarische Kampfschrift Häuptling Eigener Herd herausgab, die „so vierteljährlich wie möglich“ erschien. Dazu aß und trank der Mann barocke Volumen, nicht nur zu Recherchezwecken. Er pries die Wonnen des faulsten Herumdösens, nicht ohne es zu praktizieren, und schrieb gleichzeitig wie im Akkord. Über ein Dutzend Sammelbände seiner Glossen und Verse kamen so zusammen, mit Titeln wie Ansagen: Sieger sehen anders aus, Am Arsch die Räuber, Auf sie mit Idyll!, Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv, Wir sägen uns die Beine ab und sehen aus wie Gregor Gysi. Nebenbei war er, wie sein Idol Bob Dylan, zweieinhalb Jahrzehnte praktisch auf Never-ending-Lesetour. Und unterhielt seit 2010 eine tägliche Kolumne in der Tageszeitung Junge Welt.
Schwer zu sagen, wie das alles unter einen Hut passte oder unter die vielen Hüte, die er demonstrativ trug. Sein Tod ist ein Schock, weil er so früh kam und weil er das Vitalitätsversprechen, das Wiglaf Droste sich und seinem Publikum stets gegeben hatte, rücksichtslos brach. Begrabt mein Hirn an der Biegung des Flusses heißt einer seiner schönsten Buchtitel. Dazu soll es leider nicht kommen. Eine Seebestattung, heißt es, ist geplant.
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