Fadela Amara hat eine Mission. Man sieht es an der Intensität in ihren Augen und spürt es an der Leidenschaft, mit der sie spricht. Vor gut zwei Jahren gründete die Tochter einer algerischen Einwandererfamilie in Paris die Organisation "Ni putes ni soumises" ("Weder Huren noch Unterworfene"). So lautet auch der Titel ihres Buchs, für das sie im vergangenen Jahr den "Prix du Livre Politique" der französischen Nationalversammlung erhielt. In dem Buch, das nun auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt, erzählt Fadela Amara schnörkellos und schonungslos offen die Geschichte ihres Engagements gegen die wachsende Gewalt und soziale Desintegration in den Vorstädten Frankreichs.
Wer Amaras Buch liest, begreift schnell die tödliche Ernsthaftigkeit der Situ
t der Situation. 4. Oktober 2002: In Vitry-sur-Seine, einer Trabantenstadt von Paris, wird die 18jährige Sohane Benziane, Tochter kabylischer Einwanderer, bei lebendigem Leib verbrannt. Täter sind zwei gleichaltrige Männer maghrebinischer Herkunft. Sie locken das Mädchen, das sich den "Normen des Viertels" nicht unterwerfen will, in einen Keller. Während der eine draußen Wache hält, übergießt der zweite Sohane mit Benzin und setzt sie mit einem Feuerzeug in Flammen.Die grausame Tat wurde zum Katalysator für Fadela Amara. Wenige Tage später nahm sie mit zweitausend anderen Menschen - Frauen wie Männern - an einem Schweigemarsch teil. Danach organisierte sie Versammlungen, bei denen erstmals Mädchen und Frauen öffentlich über die Gewalt im Viertel sprachen. Im Februar 2003 initiierte sie einen "Marsch der Frauen aus den Vorstädten". Er führte durch insgesamt 23 Städte und machte die ganze Republik aufmerksam auf die besondere Unterdrückung der "filles des cités", der "Mädchen der Siedlungen".Mittlerweile hat "Ni putes ni soumises" mehr als 6.000 Mitglieder in 60 lokalen Komitees. Die Organisation ermutigt junge Frauen und Männer in den Vororten, sich gegen die Gettoisierung sowie die Unterdrückung der Frauen und für gleiche Rechte und freie Lebensentfaltung einzusetzen. Fadela Amara will das Gesetz des Schweigens brechen, das nach Mafiaart bislang über den Gewalttaten in den Vierteln lag.Die zierliche Frau mit dem schmalen Gesicht und dünnen Haarzopf wuchs selbst in einer Vorortsiedlung auf, in Clermont-Ferrand, einer Arbeiterstadt im Süden. "Wir glaubten damals noch, dass die französische Republik auch uns Einwandererkindern eine Chance gibt." Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - die französischen Grundwerte - sind für die heute 40jährige noch immer Leitbegriffe. Gleiche Rechte hatten Einwanderertöchter wie sie selbst auch in den achtziger Jahren nicht, aber das gemeinsame Engagement in der Anti-Rassismus-Bewegung näherte die Geschlechter einander an. Die Zahl der Zwangsehen nahm ab und die der muslimischen Studentinnen zu. Seit der Wirtschaftskrise in den neunziger Jahren drehen die Uhren sich jedoch wieder rückwärts.Die Familienväter in den Einwanderfamilien verloren mit dem Arbeitsplatz nicht nur ihren Job. Sie büßten auch ihre Autorität in der Familie ein. Ihren Platz haben die ältesten Söhne eingenommen. Auch sie finden zwar auf dem offiziellen Arbeitsmarkt keinen Job. Doch in "Parallelökonomien" - sprich durch Autodiebstahl und Drogenhandel - erwirtschaften sie nun das Familieneinkommen. Mit der so errungenen Autorität zwingen sie ihrem sozialen Umfeld die eigenen konservativen Vorstellungen von Religion und Moral auf. Ihre geistige Nahrung beziehen sie von islamischen Fundamentalisten, deren Einfluss in den Vorstädten beständig wächst.Für die Mädchen des Viertels bedeutet dies: Sie sollen sich wieder in die traditionelle weibliche Rolle fügen - sich "züchtig" kleiden, nicht ausgehen und vor allem bis zur Ehe Jungfrau bleiben. Dieses ungeschriebene Gesetz gilt nicht nur für muslimische Mädchen. Denn die Minderheit der jungen maghrebinischen Männer kommandiert inzwischen auch die nicht-islamische Bevölkerung in den Vororten - afrikanische Immigranten und Franzosen aus der Unterschicht.In ihrem Buch beschreibt Fadela Amara eindrücklich, welcher moralische Druck auf den Mädchen lastet. Und wie viel Mut sie aufbringen müssen, um den selbst ernannten Tugendwächtern die Stirn zu bieten. Indem sie sich schminken etwa oder einen engen Rock tragen. Beides bedeutet in den Vorstädten mittlerweile einen Akt des Widerstands. Aus Angst vor Repressalien kleiden sich viele Mädchen daher bewusst unattraktiv - oder greifen sogar zum Schleier."Das Kopftuch symbolisiert die Unterwerfung unter das männliche Dominanzverdikt", erklärt Fadela Amara. Sie unterstützt deshalb Staatspräsident Chiracs harte Linie, das Kopftuch in den Schulen zu verbieten. Es signalisiere "Ich bin nicht zu haben." Damit erkauften die Mädchen sich zwar "Ruhe". Doch genau daraus resultiere die fatale Alternative, die durch den auf Provokation setzenden Slogan "Ni putes, ni soumises" denunziert werden soll: Entweder frau fügt sich in die traditionelle Rolle - oder sie gilt als Hure und Freiwild.Häufige Strafe für solche widerspenstigen Mädchen sind im schlimmsten Fall so genannte "tournantes" - Gruppenvergewaltigungen. Samira Bellil hat als erste dieses Phänomen in ihrem in diesem Jahr erschienenen Buch Durch die Gewalt der Hölle beschrieben. Dreimal war die junge Frau Opfer gemeinschaftlicher Vergewaltigungen geworden, bis sie - nach einer Psychotherapie - den Mut fand zum Schritt in die Öffentlichkeit. Samira Bellil war auch Schirmherrin von "Ni putes ni soumses", bis sie im vergangenen Jahr - mit erst 31 Jahren - an Magenkrebs starb.Bellils Buch und Amaras Aktionen haben auch die Politik wach gerüttelt. In verschiedenen Städten sind seither Notrufe und Schutzwohnungen eingerichtet worden für Mädchen und Frauen, die vor ihrer Familie und aus ihrem Viertel fliehen mussten. Auf Polizeistationen wurden spezielle AnsprechpartnerInnen für "Migrantenprobleme" geschult. Um auch deren Wurzeln auszumerzen, sind ihrer Ansicht nach Maßnahmen gegen die Massenarbeitslosigkeit und die Gettoisierung der Vorstädte notwendig.Amara sieht jedoch nicht nur die Politik in der Verantwortung. In ihrem Buch übt sie scharfe Kritik an den traditionellen Erziehungsmethoden vieler Einwander. "In muslimischen Immigrantenfamilien werden die Söhne wie Könige behandelt. Sie werden nicht nur den Mädchen vorgezogen: Sie werden auch verzogen und verhätschelt." Die Crux dabei sei: Wenn den jungen Männern außerhalb der Familie zum ersten Mal Gegenwind ins Gesicht bläst, zum Beispiel wenn sie nach der Schule keinen Ausbildungsplatz bekommen, reagieren sie hilflos und völlig destruktiv. Sie kompensieren ihre Wut und Minderwertigkeitsgefühle durch Machismus und Gewalt gegen sozial und körperlich Schwächere - insbesondere Mädchen."Sexuelle Aufklärung findet in den Vorstädten beinahe nur noch durch Pornovideos statt - wie sollen die Jungen da kein gestörtes Frauenbild haben?", meint Amara. Sie fordert daher Aufklärungsunterricht in den Schulen. Darin sollen die Jungen Werte lernen, die sie zu einem achtsamen Umgang mit dem anderen Geschlecht befähigen. Zum gleichen Zweck hat Amara einen Guide du respect drucken lassen, einen Leitfaden zum Thema Respekt im Hosentaschenformat. Mit ihm gehen ihre Mitarbeiter in Schulen. Dort diskutieren sie mit Mädchen und Jungen über deren Vorstellungen von Ehre, Jungfräulichkeit, Zwangsverheiratung, Beschneidung, Zärtlichkeit und Liebe.Das sei der Unterschied zwischen denjenigen, die einem Kulturrelativismus das Wort reden, und ihrer Organisation, die für universelle Menschenrechte eintritt, betont Amara. "Aus übertriebener Toleranz gegenüber vermeintlichen kulturellen Unterschieden archaische Traditionen zu fördern - das ist einfach nicht akzeptabel."Fadela Amara: Weder Huren noch Unterworfene. Orlanda Frauenbuchverlag, Berlin 2005, 160 S., 14,50 EURSamira Bellil: Durch die Hölle der Gewalt. Pendo, Zürich 2003, 280 S., 19,90 EUR; Blanvalet-Taschenbuch, München 2005, 293 S., 7,95 EUR
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