Als alles begann, war ich in Amerika. Meine Familie hatte mich vorgewarnt, dass mich niemand am Flughafen in Tel Aviv abholen könne, und so machte ich mich selbst auf den Weg nach Hebron. Das israelische Taxi mit gelbem Nummernschild konnte mich nur bis an die Grüne Linie kurz vor Bethlehem bringen. Dort musste ich in ein palästinensisches Taxi mit grünem Nummernschild umsteigen, mit dem ich bis ungefähr zehn Meter hinter die vom israelischen Militär kontrollierte Stadtgrenze gelangte. Von dort aus führte zunächst kein Weg weiter, weil die Straßen, die den Flickenteppich Westjordanland untereinander verbinden, allesamt abgesperrt waren. Schließlich nahm sich ein befreundetes Ehepaar aus Bethlehem meiner an und schmuggelte mich auf Schleichwegen, hügelauf und -abwärts, durch Dörfer und über ungeteerte, unbeleuchtete Pfade nach Hause. Erst jetzt begriff ich, was um mich herum los war, und verstand, warum meine Familie mich am Telefon so dringlich gebeten hatte, meine Heimreise noch etwas aufzuschieben.
Unser Wohngebiet liegt zwischen dem von Israel kontrollierten H1-Gebiet und dem palästinensisch verwalteten H2-Gebiet. Wir wohnen exakt auf dieser Linie und haben die Grenzsituation für uns als Privileg und Legitimation ausgelegt, uns wenigstens tagsüber einmal außer Haus zu schmuggeln. Die Häuser sind an einem Hang gebaut, von dem man weit über die Stadt bis zur Ibrahimi-Moschee sehen kann. Wegen der guten Luft und dieser wunderbaren Aussicht gilt unser Viertel eigentlich als eine der besten Wohngegenden in Hebron. Seit dem 28. September allerdings neidet uns niemand unsere exponierte Position im Zielkreuz der israelischen Militärstützpunkte.
Ich muss sagen, dies war nicht gerade das Willkommen, wie man es sich nach anderthalb Monaten in der Fremde wünscht. Alle waren mit weit Wichtigerem beschäftigt: den grauenhaften Nachrichten, den Beerdigungen und Besuchen in den Häusern der Märtyrer. Die ersten Tage nach meiner Rückkehr erschienen mir ganz surreal, als beobachtete ich die grauenhafte Szenen eines Horrorfilms. Schließlich begann ich meine Tage so zu füllen, wie es alle anderen auch taten: Wir verbrachten Stunden vor dem Fernseher und verfolgten die Nachrichten. Ich wurde zu einer Süchtigen, die sich ohne Nachrichten wie abgeschnitten von der Welt vorkommt, obwohl doch diese Nachrichten sich unmittelbar vor unserer Haustür ereignen. Features, Hintergrundberichte und Analysen von BBC und CNN führten uns auf dem Fernsehschirm eine Realität vor, die mich über Wochen mehr berührte als die grausame Wirklichkeit um mich herum.
Wir verdanken es wohl den israelischen Siedlern, die im Herzen unser Stadt leben, dass die Stromausfälle in den Nächten immer nur Minuten und nicht wie in anderen palästinensischen Städten stundenlang dauern. In diesen dunklen Momenten erinnere ich mich an die achtziger Jahre, während der Intifada, als wir noch Kinder waren und vom Fenster aus die Straßenschlachten beobachteten. Die palästinensischen Jugendlichen, die mit Steinen nach den israelischen Soldaten warfen und dann davonliefen. Es war immer das gleiche Muster von Aktion und Reaktion, die gleiche Konstellation der Waffen: Steine gegen Maschinengewehre.
Das ist heute anderes. Da riskiert man schon sein Leben, wenn man sich nur in der Nähe eines Fensters aufhält. So erging es einem Freund von mir, Medizinstudent aus dem Sudan, der sich zwecks besserer Funkverbindung mit seinem Handy aus dem Fenster eines zweistöckigen Hauses lehnte. Ein Schuss hat ihn tödlich erwischt. Den Versuch, Kontakt zu seiner Familie in Saudi Arabien aufzunehmen, musste er mit dem Leben bezahlen. Sein Vater arbeitet dort als Übersetzer für die amerikanischen UN-Friedenstruppen. Er war gar kein Palästinenser, besuchte hier nur seinen Bruder, der an der Universität in Abu Dis (einem Vorort von Jerusalem) studiert. Wofür hat er sein Leben gelassen?
Unsere Nächte sind unbeschreiblich beängstigend, nichts ist vorhersehbar, alles kann passieren, und der ganze Aufwand an Belagerung erscheint sinnlos und unglaublich überflüssig. Die vor der Stadt stationierten hochmodernen israelischen Panzer und Kampfflugzeuge demonstrieren deutlich, was geschehen wird, wenn von palästinensischer Seite ein Angriff ausgehen sollte. Aber wozu dann jede Nacht der heftige Beschuss und die Bombardements? Es ist entsetzlich laut, das Haus bebt, wenn wieder eines der Geschosse niedergeht. In solchen Momenten kleben wir an der Wand. Alle suchen Schutz, den es nicht gibt. In diesen Nächten übernimmt meine Mutter das Kommando: Türen und Fenster schließen (um uns vor etwaigen Angriffen der israelischen Siedler zu schützen). Alle Lichter und den Fernseher aus! Sie verbietet uns jede Bewegung im Haus und alle paar Minuten ruft sie jeden einzelnen von uns bei seinem Namen, um sicherzugehen, dass niemand von uns einen Herzanfall oder ähnliches erlitten hat. Um dieser Situation nicht total hilflos ausgeliefert zu sein, habe ich eine Zeit lang in diesen Nächten verschiedene Fernseh- und Radiostationen angerufen und life darüber berichtet, was mit uns geschieht. Wie oft habe ich gehört: Pass gut auch Dich auf! Natürlich hilft einem Anteilnahme, aber sie kann uns trotzdem nicht von den Raketen über unserem Haus bewahren.
Anfangs hatte ich am wenigsten um mich selbst Angst. Wenn ich darüber nachdachte, dass ich vielleicht so belanglos sterben sollte, brachte mich das nur zum Lachen, was meine Mutter ziemlich daneben fand. Ich bin, wie gesagt, süchtig nach Fernsehen, und in solchen Nächten ist mir sehr nach Hollywoodschnulzen. Eine dieser stumpfen mexikanischen Seifenopern tut es aber auch. In diesen Momenten geht es mir nur darum, meinen Kopf und die Köpfe aller anderen Anwesenden in unserem Wohnzimmer fern von den Schüssen und den Explosionen, hin zu dieser fröhlichen bunten Kiste zu lenken. Und aufs Fernsehen kann man sich verlassen, am nächsten Morgen bekommen wir die Nachrichten noch früh genug.
Allerdings ist es schwierig herauszufinden, welches Viertel unserer Stadt bombardiert wurde. Deswegen beginnen wir jeden Morgen mit einem Rundruf, um zu erfahren, wie es den engsten Verwandten und Freunden ergangen ist: Dort sind Fensterscheiben unter den Detonationen zersplittert, einige der Kinder nässen ein, andere haben Schlafstörungen oder Probleme mit dem Essen.
Dann aber gab es zwei Ereignisse, die mich in Panik versetzten und so aus dieser merkwürdigen Teilnahmslosigkeit rissen, von der ich seit meiner Rückkehr befallen war. Eines Morgens zeugten 50 Meter von unserem Haus entfernt große Blutflecke vom Tod unseres 17-jährigen Nachbarn, der an dieser Stelle erschossen worden war. Und in einer anderen Nacht klingelte wenige Minuten vor Mitternacht das Telefon, und Freunde berichteten, dass ein anderer Nachbar, der sich in einer Ecke seines Esszimmers vor den Bombardements zu schützen suchte, von einem Geschoss getroffen wurde, das die Mauern des Hauses durchschossen und seinen Kopf von den Schultern getrennt hatte. Wir hatten das Getöse gehört und gespürt, sein Haus ist unmittelbar neben unserem, und so hätte sein Tod auch unser aller Ende bedeuten können.
Auch mein kleiner Bruder - ein aufgewecktes, hochintelligentes Kind - ist seit Beginn der Ausgangssperre nicht mehr zur Schule gegangen. Seit Wochen ist es ihm mehr oder weniger selbst überlassen, sich aus all diesen Ereignissen einen Reim zu machen. Wenn ich ihn so beobachte, spüre ich hinter der aufgedrehten Jungen-Aktivität seine Verlorenheit, seine Hilflosigkeit. Zu Beginn der Schießereien und des Bombardements suchte er Schutz in den Winkeln unseres Hauses, als er verstand, dass diese Flucht ihn vor nichts bewahren konnte, wählte er einen von uns und klammerte ihn mit beeindruckender Kraft. Seitdem alles nur noch schlimmer geworden ist und die Angst wächst, benutzt er die Fernbedienung und zappt wie verrückt von einem Nachrichtensender zum anderen und hört nicht auf, uns alle möglichen unmöglichen Fragen zu stellen, von denen die meisten nicht zu beantworten sind. Auch einer meiner Freunde berichtet über die Ratlosigkeit der Erwachsenen. "Haben die Israelis Kinder?" hat ihn sein vier Jahre altes Töchterchen gefragt. Natürlich haben auch sie Kinder, hat er ihr geantwortet. Aber über ihre folgende Frage: "Und wer tötet dann diese israelischen Kinder?" musste er lange grübeln. Wie hätte er einer Vierjährigen all das begreifbar machen sollen: die Massaker und die Opfer, die Selbstmordattentate, die physischen und psychischen Krüppel, die Aufstände, die Intifada, die verschiedenen Stadien der Depression, Menschen, die auf einmal tot umfallen, und dieses Ausmaß an alltäglicher Hysterie bei Leuten, die ständig damit rechnen, das sich jeden Moment etwas Entsetzliches ereignen könnte? u Ich habe einen meiner besten Freunde verloren. Er wurde aus dem H1-Gebiet aus 400 Meter Entfernung erschossen, als er gerade damit beschäftigt war, im H2-Gebiet sein Taxi zu waschen. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, zur Beerdigung zu gehen und in meiner Schwäche und Hoffnungslosigkeit seiner Familie gegenüberzutreten. Er war einer der fröhlichsten und ausgeglichensten Menschen, die ich kannte. Seine drei kleinen Kinder gingen ihm über alles. Ein Kopfschuss verspritzte die Gehirnmasse über das ganze Auto und auf die Straße. Wenn es sein Schicksal war, zu diesem Zeitpunkt zu sterben, so hat er es dennoch nicht auf so eine eklige Art verdient. Er wird jetzt als Märtyrer gefeiert, seinen Kindern aber hilft das nicht, mit dem Tod ihres Vaters fertig zu werden. Ich kann es nicht lassen, mich in meinem Büro, das im verbotenen H1-Gebiet liegt, einzuschmuggeln. Nicht, um zu arbeiten, in solchen Zeiten liegen die Geschäfte brach, einfach nur, um mich etwas abzulenken, mich mit etwas zu beschäftigen, das früher meinen normalen Alltag ausgemacht hat. Und wenn es nur ausgedehnte Ausflüge im Internet sind. In Hebron leben 40.000 Menschen seit Monaten unter Ausgangssperre. Ein Großteil der Bewohner kommt nicht zu seinen Arbeitsplätzen, weil diese entweder im unzugänglichen H1-Gebiet liegen, oder sie in anderen Städten arbeiten, die wegen der Abriegelungen nicht erreichbar sind. Vielen ist die Lust am Arbeiten ohnehin vergangen. Wozu ein Geschäft öffnen, wenn es keine Kunden gibt? Wozu etwas aufbauen und an Träumen festhalten, wenn es dafür keine Zukunft mehr zu geben scheint? Lange geht das so nicht mehr weiter. Doch wie soll eine Lösung aussehen? Wie für alle jene, die einen Sohn, eine Tochter, einen Vater, eine Mutter, einen Ehepartner verloren haben? Wer könnte diesen Verlust vergessen? Wie willst du dich mit jemandem aussöhnen, der dir eine M16 an die Schläfe hält?
Aus dem Englischen von Angela Grünert
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