Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an sie: Assia Djebar, Historikerin, Schriftstellerin, Filmemacherin aus Algerien, jenem Land, das vom Frieden nur träumen kann. Seit bald einem Jahrzehnt wird er nun schon blutig ausgetragen, der obskure, menschenverachtende Machtkampf zwischen radikalem Islamismus und Regime, dem Zehntausende zum Opfer fielen, Kinder wie Greise, Buch- und Tabakshändler, Frauen, Kabylen, Künstler und Intellektuelle wie Tahar Djaout, von dem der programmatische Ausspruch stammt: »Du stirbst, wenn du sprichst, du stirbst, wenn du schweigst - also sprich und stirb.«
Auch Assia Djebar, die engagierter Literatur und vehementer Polemik zutiefst misstraut, hat, in der ihr eigenen, verhaltenen Art, mehrfach reagiert auf den tödlichen Terror, der ihre Heimat erschüttert: literarisch distanziert im Erzählband Oran, langue morte (1997), persönlich gefärbt im Essayband Weißes Algerien (1996), einem Fragment algerischer Zeit- und Literaturgeschichte, in dem sie zur Bewältigung des eigenen Schmerzes Zwiesprache mit den Opfern des Terrors hält, Intellektuellen aus ihrem engsten Freundeskreis, und zugleich dem multikulturellen Club der toten Dichter Algeriens ein Memento setzt, Albert Camus und Jean Sénac, Taos und Jean Amrouche, Anna Gréki, Malek Haddad, Mouloud Mammeri, Kateb Yacine. Ein erstes Plädoyer für Pluralismus und Toleranz hat sie angesichts des erstarkenden Islamismus schon 1991 vorgelegt: mit Fern von Medina (deutsch 1994), einem dokumentarischen Roman, in dem die Historikerin 17 Frauengestalten der Frühzeit des Islam aus den klassischen Chroniken zum Leben erweckt und die feminine Dekonstruktion der festgefahrenen patriarchalen Lesart des Islam von innen her betreibt, »ein Geniestreich«, »ein einmaliges literarisches Konzept«, wie Barbara Frischmuth begeistert notiert.
In der Tat: virtuos fügt sich unter Djebars Blick franko-algerische, arabo-berberische, islamische »history« erstmals zur »herstory«. Ihr Konzept der kunstvollen Verflechtung von Fakt und Fiktion, von Individual- und Sozialgeschichte, autobiographischem Fragment und historischem Dokument bewahrt sie vor jeglicher Schwarz-Weiß-Malerei, bricht gefrorene Klischees auf und eröffnet neue Blickwinkel. Djebars Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt, hat weltweit Interesse ausgelöst, Anerkennung gefunden, im universitären wie im Medienbereich. Im deutschen Sprachraum tritt sie anfangs nur sporadisch hervor, 1959 mit dem Roman Die Ungeduldigen, 1973 und 1974 mit Erzählungen und dem revolutionären Theaterstück Morgenröte in DDR-Anthologien. 1988 dann erscheint ihr Roman Die Schattenkönigin, der im Rekurs auf 1001 Nacht die schwesterliche Solidarität von Scheherazade und Dinarzade am Beispiel zweier Ehefrauen desselben Mannes zum Modell weiblicher Emanzipation fernab westlicher Strickmuster erhebt. Der Roman wird 1989 mit dem Frankfurter LiBeraturpreis prämiiert, Djebars Einstand in die deutschsprachige Szene. 1995 folgt der Ehrendoktor der Universität Wien für ein Werk, das »ein vertieftes Verständnis der vergangenen und gegenwärtigen Wechselbeziehungen zwischen Nordafrika und Europa ermöglicht und zugleich ideologischen Blockierungen auf beiden Seiten entgegenarbeitet«, 1996 wird Assia Djebar auf Vorschlag der österreichischen Autorin Barbara Frischmuth der amerikanische Neustadt-Literaturpreis verliehen. Seit 1997 unterrichtet sie als Nachfolgerin von Edouard Glissant am Zentrum für Französische und Frankophone Studien der Louisiana State University in Bâton Rouge, 1999 nimmt sie die Frankophonie-Medaille der Académie Française entgegen und wird in die Königlich Belgische Akademie für französische Sprache und Literatur gewählt ...
Doch es ist und bleibt von Ambiguität geprägt, das Verhältnis zwischen der französischen Sprache und Assia Djebar, der »Grande Dame« der modernen franko-maghrebinischen Literatur, die sich als einzige weibliche Stimme zwischen lauter Männerkollegen schon in der Gründer-»Generation von 1952« behauptet, neben Kateb Yacine und Mohammed Dib, Mouloud Feraoun, Mouloud Mammeri, Albert Memmi und Driss Chraïbi. Zwei »Feinden« hat sie, die 1936 in Cherchell, dem antiken Caesarea, einer kleinen Hafenstadt westlich von Algier am Mittelmeer, als Fatima-Zohra Imalayène das Licht der Welt erblickt, ihren außergewöhnlichen Werdegang, ihre weibliche Emanzipation in einer von Männern beherrschten Welt zu danken: ihrem Vater und der französischen Sprache. Einem Vater, der, wie das kleine Mädchen im schwülen Hammamgetuschel der Frauen erfährt, Vertreter jener Spezies ist, die die Algerierinnen in ihrer Sprache schlicht als »der Feind« bezeichnen, doch der als progressiver Französischlehrer der kleinen Tochter den Weg aus der algerischen Dorfschule ins ferne Frankreich ebnet, während ihre Spielkameradinnen mit zwölf hinter dem Schleier verschwinden. So studiert sie als erste Algerierin an der renommierten Pariser Ecole Normale Supérieure de Sèvres. 1956, der Algerienkrieg ist in vollem Gang, platzt mitten in die Abschlussprüfungen hinein ein Aufruf der algerischen Studentenorganisation zum Generalstreik. Während des Streiks entsteht der erste Roman, La Soif, der 1957 unter dem hastig gewählten Pseudonym Assia Djebar erscheint (1993 dann auf Deutsch unter dem Titel Die Zweifelnden nachgeschoben). Denn Schreiben, sich schreibend als Frau offenbaren, ist keineswegs selbstverständlich in einer patriarchalen Kultur, die im Zeichen eines Propheten steht, den man nur zu gern mit dem Ausspruch zitiert: »Haltet die Frauen fern von der Schrift.« Es folgen, während sie selbst zwischen Tunis, Rabat und Algier pendelt, ihr Geschichtsstudium bei Louis Massignon abschließt und gleichzeitig für Frantz Fanon, Herausgeber des damals noch revolutionären Al-Moudjahid, aus den Flüchtlingslagern jenseits der Grenze berichtet, drei weitere Romane: Die Ungeduldigen (1958, dt. 1959, 1991), Les enfants du nouveau monde (1962, Die Kinder der Neuen Welt) und Les alouettes naïves (1967, Die naiven Lerchen). Romane durchaus klassischer Faktur, die das Lebensgefühl der algerischen Jugend im Umbruch reflektieren, die Rolle der Frauen im Widerstand, die Entdeckung des Paares, des weiblichen Körpers. Djebars Frühwerk erweist sich, ohne explizit Bezug auf die algerische Revolution zu nehmen, auf eigene Art revolutionär. Erstmals in einer männlich monopolisierten Literaturlandschaft kommt die Frau nicht als Objekt sondern Subjekt vor - der Geschichte, der Betrachtung, der eigenen Lust. Und wenn da nur eine im wohligen Kitzel des Sonnenlichts auf der entblößten Schulter erschaudert, wie die 18-jährige Dalila, Protagonistin der Ungeduldigen, im Gefühl, etwas Harmloses und doch unerhört Unanständiges, wirklich Revolutionäres zu tun. Erstmals kommt hier das große Thema Assia Djebars späterer Bücher, feminine Selbstfindung und Selbsterfahrung, wie sie drei Jahrzehnte später in den erotischen Szenen der Nächte in Straßburg (1997, deutsch 1999) gipfelt, zur Sprache.
Die Sprache, in der dies geschieht, ist freilich die französische, die »im Tod der Meinen gründet, ihre Wurzeln in die Kadaver der Eroberten und Besiegten treibt« - wie ihr am Ende des algerischen Befreiungskriegs, nach 130 Jahren französischer Kolonisation, schmerzlich bewusst wird. Analog zur »Dekolonisierung des Bewusstseins«, wie sie zeitgleich von der intellektuellen Avantgarde Marokkos um Khatibi und Nissaboury postuliert wird, verstummt die französischsprachige Autorin Djebar und begibt sich mit Tonband und Kamera auf die Suche nach der eigenen Identität, der authentischen femininen Kultur, fernab des hegemonialen Mainstream, im geographischen Umfeld des Stammes ihrer Mutter, der Beni Menacer. Sie bringt Mütter, Großmütter, Urahninnen zum Sprechen und Licht ins Dunkel weiblicher Lebenswelten, fängt Stimme und Sprache, Lebensgefühl und Lebenserfahrung algerischer Frauen ein, wie sie sich über Generationen hinweg im Verborgenen artikulierten, in der Mündlichkeit des Dialekts, der abgeschlossenen Welt der Frauenhäuser, am Rand einer durch französischen Kolonialismus und arabo-islamisches Patriarchat doppelt fremdbestimmten Gesellschaft. Sie dreht zwei Dokumentarfilme (La Nouba des femmes du Mont Chenoua, La Zerda et les chants de l'oubli) die ihr internationale Anerkennung einbringen, 1979 auf der Biennale von Venedig, 1982 auf der Berlinale, und sie peu à peu zurückführen zur Literatur, oder besser: zu einer eigenen »französischen« Literatursprache, die fortan geprägt ist vom Moment der Mündlichkeit, der Mehrstimmigkeit, filmischer Montagetechnik. Erstmals in ihrem Erzählband Die Frauen von Algier (1980, dt. 1994), dominant in ihrem zweiten literarischen Quartett, dem - zu drei Vierteln fertiggestellten - arabian quartet, in dem sie grenzüberschrei(b/t)end ihr Territorium abschreitet, um, so ihr erklärter Anspruch, das nuancierte, vielschichtige Tableau der komplexen kulturellen Identität Algeriens zu skizzieren, ob die von Faszination wie Leid gleichermaßen geprägte französisch-koloniale Vergangenheit (Fantasia), das neu zu befragende arabische Erbe aus 1001 Nacht (Die Schattenkönigin) oder die berberischen Wurzeln der algerischen Kultur, wie 1995 im Roman Weit ist mein Gefängnis (dt. 1997).
Leitmotivisch durchzieht die Reflexion über feminines Schreiben im postkolonialen Kontext Djebars Werk. Es ist ein Schreiben im Spannungsfeld zwischen arabischem und berberischem Dialekt, Hocharabisch und modernem Französisch, das in Djebars Wahrnehmung von der »Sprache der Macht« zur »Sprache der Marginalität«, der »Entschleierung«, der Kreativität, des freien Ausdrucks und letztlich des »Ich« mutiert, eine Entwicklung, die ihr unlängst erschienener Essayband Ces voix qui m'assiègent (1999) - Diese Stimmen, die mich belagern - eindrucksvoll reflektiert. Es sind die »Schattenstimmen der Schattenfrauen«, denen sie sich verpflichtet weiß, um deretwillen sich Assia Djebar, die sich selbst zwar als »Autorin französischer Sprache, zuallererst aber als arabische Frau« empfindet, immer wieder erneut dem »Schreiben als Wagnis« aussetzt, wie sie in einem Artikel formuliert, der im utopischen Wunsch ausklingt, dass die Muezzine auf den Minaretten eines Tages Frauen seien ...
Nun nimmt sie also den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen und wird selber ihre Stimme erheben - nicht in der Moschee, doch immerhin in einer Kirche, die jenen Apostel im Namen trägt, der gerne mit dem Ausspruch zitiert wird, dass das Weib in der Gemeinde zu schweigen habe. Das könnte, quer durch alle Religionen, nachdenklich stimmen...
Die Bücher von Assia Djebar erscheinen alle im Züricher Unionsverlag.
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