Abbas M. hat in Deutschland Asyl beantragt. Die Wartezeit im Aufnahmeheim verbringt der im Iran politisch verfolgte Journalist zwischen Bangen und Hoffnung. Als er endlich den Aufnahmebescheid und damit Sicherheit und Hilfe erhält, schlägt seine Stimmungslage um. Statt Erleichterung und Freude zu empfinden, fällt Abbas M. in eine tiefe Depression.
Wohl hat er einen neuen, schützenden Raum gefunden, aber dieser ist ihm komplett fremd. Er hat verloren, was ihn ausgemacht hat: Die Spiegelung durch sein Umfeld, die Menschen, die ihm vertraut waren, seine Sprache. Er ist der Fremde ausgeliefert. Der Verlust der gesellschaftlichen Einbettung erschüttert zutiefst seine Identität, ihm bleibt nur der Ausweg in die Depression und Verzweiflung.
Diesen Zustand haben zwei bekannte Exilanten einst selbst durchlebt und in Worte gefasst. Für den vor den Nazis flüchtenden Philosophen Jean Améry war "die Vergangenheit urplötzlich verschüttet, man wusste nicht mehr, wer man war"; und der ungarische Schriftsteller György Konrad erkannte: "Wenn du all das verlässt, was zu dir gehört, verlässt du fast dich selbst".
Abbas M. bräuchte jemanden, mit dem er in seiner Sprache über seine Gefühle und die einschneidenden Erfahrungen sprechen kann, damit sie verarbeitet werden können. Vor ihm liegen die verunsichernde Anstrengung und Ungewissheit, sich in einer neuen, ihm fremden Gesellschaft zurechtzufinden, mit anderen Worten, der Aufbau einer neuen Heimat.
Heimatverlust als Trauma
Neben Asylanten sind auch Exilanten, Migranten, Vertriebene, Aussiedler und selbst freiwillige Aussteiger Heimatlose. Der Blick auf die seelischen Auswirkungen von Heimatverlust eröffnet die Möglichkeit, die mit dem Begriff Heimat verbundenen Emotionen freizulegen und ihn der Definitionsmacht von rechts zu entziehen. Die Psychoanalytikerin Irmhild Kohte-Meyer, Vorsitzende des Instituts für Psychotherapie in Berlin, ist durch ihre langjährige Arbeit mit Migranten bis in die dritte Generation zum Schluss gekommen, dass Heimatverlust ein traumatisches Geschehen ist.
Die Trennung von der Familie, von der sozialen Anbindung an den Wohnort, von der Sprache, von Gebräuchen, Regeln, Normen, Sitten, die eine "Großgruppe" verbinden, bedeutet Schmerz. Dieser kann unbewusst und überlagert bleiben, weil man auch gerne in die Fremde geht. Nur erfordert das Leben in der Fremde, neue Regeln des Zusammenlebens zu erlernen, man muss sich anderen Menschen, einer anderen Sprache anpassen und neue Gepflogenheiten entwickeln. Zurückgeworfen auf den Zustand eines Kindes, muss der erwachsene Migrant ertasten, wie das neue soziale Miteinander funktioniert, wann die neuen Menschen lächeln, bei welchen Gelegenheiten sie lachen. Die Art des Humors oder Formen der Aggression müssen verstanden werden. Doch anders als das Kind fühlt sich der erwachsene Migrant dumm und ausgeschlossen; ständig ist er mit der dramatischen Frage konfrontiert: Wieweit kann ich mich anpassen, ohne meine Identität zu verlieren?
Ist der Wechsel von einem in den neuen Kulturkreis freiwillig vollzogen worden, kann dieser Prozess zunächst auch als aufregend empfunden werden. Die Fremde wirkt ja auch faszinierend, verspricht gegenüber der Enge und den beschränkten Möglichkeiten in der Heimat Freiheit oder verheißungsvolle innere und äußere Veränderungen. Doch mit der Zeit, vor allem wenn die Betroffenen nicht freiwillig gingen, wird die Anpassung an das Fremde zur Belastung. Der Migrant erfährt den Verlust von stabilen und stabilisierenden psychosozialen, räumlichen und kulturellen Zusammenhängen. Sein beständiger Wunsch nach Heimkehr bewirkt, dass er die Anstrengungen der Integration und des Lernens der neuen Sprache meidet und mit anderen Landsleuten in die kulturelle Nische flieht, sich dort einrichtet oder gar die Gettoisierung wählt. Oft bleiben die erwachsenen Migranten gegenüber ihren sprachlich schneller integrierten Kindern zurück, und sie werden auch noch innerhalb der Familie, von der sie sich Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung versprechen, in die Isolation getrieben. Irmhild Kohte-Meyer spricht von seelischer Starre oder gar Stummheit, die eintreten, wenn der Spracherwerb stockt. Und wenn die Seele keinen sprachlichen Ausdruck mehr findet, spricht der Körper und drückt Missgefühle in Form von Krankheiten aus.
Die Seele vergisst nicht
Die Erschütterung, die der Verlust der alten Heimat bewirkt und die Anstrengungen der Integration sind für eine Familie oft so gravierend, dass sie über Generationen Auswirkungen haben. Dem Berliner Psychoanalytiker Uwe Langendorf fiel vor ein paar Jahren auf, dass über ein Drittel seiner Patienten Nachkommen von Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten sind. Nach der Erfahrung von Gewalt, Schutzlosigkeit und Auslieferung an den Feind hatten die Eltern in ihrer neuen Umgebung auch noch mit Ablehnung und Verachtung zu kämpfen und reagierten mit Selbstabwertung und Selbstverachtung, Schuld- und Schamgefühlen.
Aus der Kränkung erwuchs ein Anpassungsdruck, den die Flüchtlinge mit besonderer Tüchtigkeit bedienten. Gleichzeitig verhinderte die wach gehaltene Hoffnung auf Rückkehr die emotionale Verwurzelung in der neuen Heimat. Auch Uwe Langendorf beschreibt diesen tiefgreifenden Einschnitt als Trauma. Bei seinen Patienten nimmt Langendorf ein Gefühl von Heimatlosigkeit wahr, von Unruhe und Unfähigkeit, sich heimisch zu fühlen. Sie scheinen wie auf der Flucht, sind auf der Suche und wissen nicht wonach. Diese verdrängten Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit werden erst jetzt langsam aus der kollektiven Verdrängung geholt und bewusst zur Kenntnis genommen.
Uwe Langendorf nimmt die schon in alten Kulturen bestehende Vorstellung von Heimat als einem sozialen, mütterlichen Raum auf. Sie stellt eine mehrdimensionale Hülle des Schutzes, der Geborgenheit und der Vertrautheit bereit, die für Identitätsfindung und -wahrung des Einzelnen unverzichtbar ist. Heimat bedeutet also keine Höhle, die den Menschen abschottet, sondern eine Brücke zur Welt.
Heimatverlust bei Ostdeutschen
Diesem Verständnis von Heimat folgt auch die Leipziger Psychologin Beate Mitzscherlich, die sich mit dem Heimatverlust von Ostdeutschen beschäftigt. Auch plötzliche Wechsel innerhalb eines politischen Systems lösen kulturelle und soziale Bindungen auf und schaffen eine konfliktreiche Situation der inneren Emigration. Für die Ostdeutschen, die nicht in den Westen des Landes zogen, ist zwar der lokale Bezug erhalten geblieben, doch die sozialen und kulturellen Zusammenhänge haben sich so stark verändert, dass sie für viele nicht mehr integrierend sind. Das Kollektiv in der DDR wurde von einer sozialen Differenzierung abgelöst, durch die Menschen mit derselben Bildung und derselben Herkunft auseinander gebracht wurden. Wie bei Migranten hat der Verlust stabiler Strukturen des "Kennen, Gekannt- und Anerkanntwerden" (Mitzscherlich) auch bei vielen Ostdeutschen das innere Gleichgewicht erschüttert.
Nicht die Identifizierung mit dem Staat DDR, die bei den meisten gar nicht vorhanden war, sei, so Mitzscherlich, verloren gegangen, sondern die Identifizierung mit einer osteuropäisch geprägten Kultur. Viel Erlerntes, was die eigene Identität ausmachte, war plötzlich nichts mehr wert. Abwertungen werden dann durch überzogene lokale, regionale oder nationale Identifikation oder sogar durch den Anschluss an rechte Gruppen und Parteien, die Zugehörigkeit zu bieten scheinen, kompensiert. Von der verinnerlichten gewohnten Kultur abgeschnitten zu sein und sich in der neuen aufzulösen, kommt einem Identitätsverlust gleich.
Während uns im Alltagsgebrauch der ambivalente Begriff Heimat - soweit er mehr meint als der Ort, an dem wir aufgewachsen sind - eher peinlich ist, befassen sich Psychiater, Psychoanalytiker und Psychologen ganz ungeniert mit dem Thema. Und Volksmusikabende, der Heimatfilm-Boom und ähnliche Erscheinungen verweisen auf ein stärker werdendes Bedürfnis nach Heimat. Während weltweite Kommunikationsnetzwerke und ökonomische und politische Globalisierungsprozesse dem Einzelnen Weltoffenheit und fortwährenden Wohnortwechsel abnötigen, weckt die damit einhergehende Verunsicherung ganz offensichtlich Wünsche nach Verwurzelung in einem überschaubaren Raum.
Schon bei Homer oder Hölderlin waren die Sehnsucht nach Ferne und die Sehnsucht nach Heimat aufeinander bezogen. Das Hinausgehen in die Welt, Aufbruch, Bewegung und Wandel, gelingt dann, wenn es den stabilen Raum für die Rückkehr, für Ruhe und Geborgenheit gibt. Wenn heute Heimat nicht als Abschottung vor der Welt, sondern als Brücke ins Gespräch kommt, dann ist das nicht neu. Doch offensichtlich ist im Weltbild fortschrittlichen Denkens die Verknüpfung dieser beiden Elemente, der Weltoffenheit des Kosmopoliten und seine konkrete Anbindung an Heimat, irgendwann verloren gegangen und einem schematischen Entweder-oder gewichen.
Als die neuen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ihren aggressiven Nationalismus entwickelten und Heimat und Vaterland von rechts besetzten, antwortete die Linke einseitig mit Internationalismus. Das Bedürfnis nach sozialer Geborgenheit kam ihr nicht ins Blickfeld. Der Proletarier hatte "vaterlandslos" zu sein. Als Heimat galt allenfalls die sozialistische Partei oder die Bewegung selbst. Der Kampf für die in der fernen Zukunft erwartete Revolution ließ emotionale Anbindung an Heimat und Nation im Hier und Jetzt nicht zu.
Damit wurde ein weites Feld von Bedürfnissen der rechten Propaganda überlassen. Für das Wohl von Vaterland und Heimat hatte der deutsche Soldat in zwei Weltkriegen fremde Länder zu erobern und sich auf dem fernen Feld abschießen lassen. Heimat stand für allzu heile, enge, abgeschottete Welten und manifestierte sich in der Kunst in kitschigen, die Realität verklärenden Idyllen.
Das erlittene Leid des Heimatverlustes für zwölf Millionen Flüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkrieges nahm die Nachkriegsgesellschaft weder im Westen noch im Osten des Landes wahr. Im Osten zu Umsiedlern deklariert und assimiliert, wurde in der BRD die Beschäftigung mit dem Heimatverlust den Verbänden der Heimatvertriebenen überlassen, die bald revanchistische Forderungen einer Rückeroberung der verlorenen Ostgebiete formulierten.
Ein belastetes Unwort
Die Scham über die im Namen von Heimat und Nation begangenen Verbrechen lastet so sehr, dass wir uns bis heute unsere deutsche Identität verleugnen und uns eher als Atlantiker oder Europäer, am liebsten sogar als Weltbürger sehen. Unser intellektuelles Lebensgefühl ist geprägt durch Ortlosigkeit, nationale Unbezogenheit und Ungebundenheit, wie es Bernhard Schlink in seiner Heimat-Rede von 1999 treffend ausdrückte. Dieses Lebensgefühl hat auch mit den Einseitigkeiten sozialistischer Tradition zu tun und wohl auch mit dem, was als "Sündenstolz" bezeichnet wurde. Daran änderte sich nichts, als die intellektuelle Öffentlichkeit den Heimatbegriff turnusmäßig wohlwollend überprüfte und eingegrenzt auf das Lokale akzeptierte oder als die Ökologie-Bewegung der achtziger Jahre ihn für ihre Zwecke entstaubte und auffrischte. Ein Bekenntnis zur Heimat rückt zu dicht an ein Bekenntnis zum Nationalen. So blieb Heimat ein belastetes Unwort.
Im Übrigen hatte man seine multikulturelle Freude an der Zuwanderung, südliches Kolorit nun über die Ferienzeit hinaus auch auf unseren farblosen Straßen. Der Döner avancierte nach der Pizza zum beliebtesten Heimatgericht. Multikulturalität bekräftigte linke Tradition: Heimat ist überall! Die Fremden seien uns problemlos Freunde!
Doch die verweigerte Identifikation mit dem eigenen Nationalen blendete den Konflikt aus, der für den entsteht, dem seine nationale Zugehörigkeit verloren zu gehen droht. Dass dauerhaftes Fremdsein soziale Isolation bedeutet und in Zeiten der Unsicherheit die Toleranz gegenüber Fremdem schwindet, wird nur zögernd zur Kenntnis genommen. Immer noch zieht man sich mit Ernst Bloch aus der Bredouille und schiebt Heimat weit weg in die Ferne eines utopischen Ortes ohne Entfremdung, der "allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war". Da schwingt das Vaterlandslose und die Abwehr positiver Anbindung an Heimat und Nation in ferne Zukunft mit.
Seit Blochs Prinzip Hoffnung sind 60 Jahre vergangen. Die Utopien von damals sind gescheitert, überwunden geglaubte nationale Gegensätze sind aus der postsozialistischen Gesellschaft neu auferstanden, deutsch und deutsch gesellt sich nur schwierig zueinander, das Verhältnis zwischen Europa und den einzelnen Nationen zeigt sich als unerwartet ungeklärt, und Migration und Integration sind zu einem gesellschaftlichen Problem geworden.
Im Alltag des multikulturellen Zusammenlebens nehmen Psychoanalytiker Heimatverlust seismographisch wahr und damit die Bedeutung der hinter dem Begriff Heimat stehenden Bedürfnisse. In großer Zahl suchen Migranten bei ihnen Hilfe.
Unsere Hand zum multikulturellen Zusammenleben zu reichen, berücksichtigt nicht die Anstrengungen und verstörenden Erfahrungen, die das Leben von heimatlos Gewordenen zwischen der alten verinnerlichten Kultur und der sich anzueignenden neuen ihnen abfordert. Nur wer selbst länger in der Fremde war oder wer die Melancholie und Depression von Migranten erlebt hat, kann diese Situation nachempfinden. Die Bedeutung von Heimat bleibt für den, der sie besitzt, eher unbewusst, gar irrelevant. Erfahrbar wird sie erst für den, der sie verliert.
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