Das doppelte Russland

Putin Der ins Amt zurück­gekehrte Präsident kann die ­Spaltung der Gesellschaft überwinden. Dafür braucht er das neue Bürgertum an seiner Seite

Es ist vollbracht. Das ehrgeizige Kreml-Projekt, Wladimir Putin zum dritten Male als Präsidenten zu inthronisieren, ist erfolgreich beendet – unter Einsatz aller erlaubten und vor allem unerlaubten Methoden. Wieder einmal hat der Staat vorgeführt, was er von seinen kritischen Bürgern hält: nicht viel. Auch am Wahlabend keine Worte der Versöhnung an die außerparlamentarische Opposition, sondern genüssliches Auskosten des Triumphs.

Staat und Gesellschaft gingen noch nie gemeinsame Wege in Russland – abgesehen von außergewöhnlichen Kraftakten wie dem Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im 19. und dem Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler im 20. Jahrhundert. Ansonsten gilt das Bild eines doppelten Russlands, über das der oppositionelle Politiker und Schriftsteller Alexander Herzen schon vor 150 Jahren schrieb: auf der einen Seite der mit „bürokratischen und politischen Techniken“ ausgestattete Staat, auf der anderen Seite die „demokratisch hilflose“ Gesellschaft.

Dieses Nebeneinander, ja die Feindseligkeit zwischen den beiden Polen begann unter den Zaren, setzte sich unter den Generalsekretären fort und nahm auch unter den Präsidenten kein Ende. Russland ist dadurch politisch gelähmt. Ausgenommen davon blieb für das Volk allein die oberste Amtsperson selbst, von Gott oder vom Schicksal gegeben. Doch seit der im September angekündigten Machtrochade und den manipulierten Dumawahlen im Dezember kam es zu einem dramatischen Wandel. Daran ändert auch die Wiederwahl des durchaus populären Putin nichts: Russlands Mittelschicht will sich der Willkür des Staates nicht mehr fügen. Endlich.

Zu gewaltig sind die Herausforderungen, vor denen Russland steht. Nachhaltige Reformen sind dringend notwendig, um das Land wirtschaftlich fit zu machen im Kampf gegen so alte Konkurrenz wie die EU und gegen die neue aus China. Dafür bedarf es eben nicht nur einer technischen, sondern auch einer gesellschaftspolitischen Modernisierung, wie sie Dimitri Medwedjew als Präsident angekündigt, aber dann nicht umgesetzt hat. So existieren in einem einzigen Land verschiedene Staatlichkeiten, die sich gegenseitig behindern: Reformen im Kirower Gebiet unter einem einst oppositionellen Politiker, mörderische Verteilungskriege im Nordkaukasus, schierer Überlebenskampf im Fernen Osten, dazu die beiden ein Eigenleben führenden Metropolen Moskau und St. Petersburg.

Das hat Folgen. Vergleicht man Russlands Anteil am Welthandel mit dem am Weltreichtum, so ergibt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz. Denn im Gegensatz zu einem ordentlichen Handelsvolumen ist der Reichtum eher bescheiden. Das Kapital wird abgezogen, gut betuchte Geschäftsleute legen inzwischen Wert auf ein Ausweichdomizil im westlichen Ausland. Mit anderen Worten: Es mangelt an Vertrauen in die Zukunft des größten Landes der Welt.

Hinzu kommt das Gefühl der moralischen Unzufriedenheit, wie der Großmeister der Soziologie Barrington Moore schon vor Jahren herausgefunden hat, dem Auslöser für Unmutskundgebungen. Deren Basis sind die Vertreter der neuen Mittelschicht, des neuen Bürgertums Russlands. Ein nicht geringer Teil kommt aus gut dotierten Jobs im Staatsdienst. Doch nicht alle sind die Nachfolger der berüchtigten sowjetischen Nomenklatura, die einst allein am Erhalt des Status quo interessiert war. Viele kritisieren inzwischen die Schwächen eines Staates, der im Vergleich zu der sich dynamisch entwickelnden Gesellschaft und Wirtschaft immer weniger agiert, sondern nur reagiert, spät oder gar nicht.

Diese heterogene Mittelschicht, etwa ein Fünftel der Bevölkerung, symbolisiert mit ihren Taten das Ende des anachronistischen Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft. Mittels Internet und sozialen Medien vollzieht sich endgültig die mit der Perestroika begonnene Transformation Russlands. Damit ist auch die Zähmung der Gesellschaft vorbei. Diese Bürger lehnen die ihnen vom Staat aufgezwungene Wahl zwischen Stabilität und Reform ab. Sie fordern beides zusammen ein. Und dabei wollen sie politisch eingebunden sein.

Für den neuen Präsidenten Putin bedeutet dies zweierlei: Zum einen muss er aufpassen, nicht einen Wettkampf der Eliten zu initiieren, so wie ihn die Ukraine erlebt hat. Ausgeschlossen ist das nicht, wenn er den Herausforderungen nicht gerecht wird. Zum anderen muss er die Balance halten zwischen den Eliten und den aufstrebenden Bürgern, die er dringend für die Modernisierung seines Landes braucht. Eine historische Chance tut sich ihm auf, die nur wenigen Politikern in Russland gegeben wird: Statt sich allein auf hohe Preise für Rohstoffe zu verlassen und die Bürger je nach Gusto daran teilhaben zu lassen oder eben nicht, kann er in Zeiten relativer politischer Ruhe mittels einer motivierten und gut ausgebildeten jungen Mittelschicht mit Russland den Sprung in das von ihm selbst formulierte „Großeuropa“ schaffen, definiert durch Rechtsstaatlichkeit, Partizipation und Demokratie. Dazu gehört auch die Kooperation mit Andersdenkenden. Die Würfel sind gefallen: Das längst überfällige Ende des doppelten Russland ist nicht mehr aufzuhalten.

Reinhard Krumm ist Journalist und Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau

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