Immer mehr, immer schneller, immer weiter so

Zwischen Wachstumsdrang und Klimaschutz Es muss einen dritten Weg geben. Den zu suchen, ist aller Mühen wert

Neulich bei einem Gespräch unter Umweltschützern: "Der Klimahype, den wir seit der ›unangenehmen Wahrheit‹ von Al Gore, der Veröffentlichung des Stern-Reports und der IPCC-Berichte*, dem Treibhaus-Boom in Deutschlands Boulevardpresse und den diversen Wetterkapriolen haben, macht doch deutlich, dass die Wachstumskritik der siebziger Jahre einen sehr realen Kern hatte. Die konsequente Missachtung der Naturgrenzen führt eben früher oder später zu katastrophalen Entwicklungen, die uns selbst bedrohen. Wir sollten die Debatte über die Grenzen des Wachstums und die notwendige Änderung unserer Lebensstile inklusive des Verzichts wieder beleben."

Antwort: "Nein, das sollten wir auf keinen Fall tun, jedenfalls nicht jetzt. Viel wichtiger ist es heute, den Menschen Mut zu machen, dass sich noch etwas ändern lässt. Sorgen haben sie schon genug. Wir sollten vielmehr über neue Arbeitsplätze, neue Technologien und neue Exportmärkte durch den Klimaschutz reden - ihn als riesige ökonomische Chance und als gesellschaftliche Modernisierungsstrategie präsentieren. Nur so können wir die Menschen mitnehmen."

Erwiderung: "Das hat durchaus einen wahren Kern. Ich bin auch gar nicht dagegen, über die Modernisierungschancen durch Klimaschutz zu reden. Aber hat die Vergangenheit nicht gelehrt, dass das, was wir durch technischen Fortschritt an Effizienzgewinnen erreicht haben, durch Wachstumseffekte immer wieder aufgezehrt wurde? Wir haben zwar im Schnitt verbrauchsärmere, aber immer mehr Autos, besser gedämmte Wohnungen, aber immer mehr Wohnfläche pro Kopf, sparsamere Elektrogeräte, aber immer mehr elektrische Anwendungen. Man könnte die Liste beliebig fortsetzen. Um es klar zu sagen: Was wir an der Effizienzfront gewonnen haben, haben wir an der Wachstumsfront wieder verloren. Wir haben als Industriegesellschaften schlicht und einfach ein Mengenproblem. Wollten alle Erdenbürger so leben wie wir, käme es zu gewaltigen Konflikten."

Antwort: "Es stimmt ja, was du sagst, unser Lebensstil ist nicht verallgemeinerungsfähig. Aber ich bleibe bei meinem Urteil über die Kommunikationsstrategie: Wenn die Leute den Eindruck gewinnen, Klimaschutz bedeute vor allem Verzicht, dann werden wir sie nicht mitnehmen.

Im Übrigen schwächt es uns auch, wenn uns die Protagonisten des ›weiter so‹ in die Ecke der Verzichtsapostel, Technikfeinde und Schwarzseher stellen können. Da sollten wir uns unter keinen Umständen hin bugsieren lassen. Das könnte den Strukturkonservativen so passen. Ich mache dir daher folgenden Vorschlag: Wir reden jetzt erst mal über eine grüne Wachstumsstrategie, über technische Innovationen, zukunftsfähige Jobs und ökologische Märkte. Wenn das alles nicht reicht, was durchaus möglich ist, können wir später immer noch über Grenzen des Wachstums und Änderung des Lebensstils reden."

Dieses Gespräch ist zwar ein fiktives. So oder ähnlich findet es aber regelmäßig statt, wenn ökologisch Engagierte beieinander sitzen. Es fällt auch nicht leicht, einfach dieser oder jener Position Recht zu geben, denn beide Protagonisten führen gewichtige Argumente ins Feld. Im Grunde ist der Konflikt so alt wie die moderne Ökologiebewegung selbst. An deren Wiege stand in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine radikale Wachstums-, Industrie- und Konsumkritik. Sie gipfelte in einem Aufruf zur Umkehr: Wenn du, Menschheit, mit deinem zerstörerischen Wirken fortfährst, wird das schlimme Konsequenzen für die natürlichen Lebensgrundlagen und letztlich auch für dich selbst und dein Lebensglück haben.

Seit den achtziger Jahren sank die Höhe der Tonlagen deutlich und wich einem technisch-ökonomischen Gestaltungsanspruch in "grün". Katastrophenszenarien, Wachstums- und Konsumkritik gerieten aus der Mode. Nur noch in Spuren fanden sich Zweifel am Expansionsgedanken in einzelnen Umweltpublikationen, etwa der Studie Zukunftsfähiges Deutschland des Wuppertal Instituts, die stark den "Überkonsum" der Industriestaaten betonte (1996). Vorherrschend war ein eher anpackender Grundton, der den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft in hellen Farben als große Modernisierungschance pries. Entsprechend erschien ein Wende-Szenario nach dem anderen: die "Energiewende" (Peter Hennicke/Stefan Kohler), die "Verkehrswende" (Markus Hesse und andere), die "Landbauwende" (Armin Bechmann und andere) und die "Wasserwende" (Thomas Kluge/Engelbert Schramm).

Den ideologischen Überbau für solche technikoptimistischen Szenarien lieferten Bücher wie Faktor 4: Doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch (Ernst U. von Weizsäcker, Amory und Hunter Lovins). Solare Weltwirtschaft (Hermann Scheer) oder Green Capitalism (Paul Hawken). All diese Werke, ob aus eher linker oder eher liberaler Gesinnung geschrieben, kamen weitgehend ohne Wachstumskritik aus. Vielmehr priesen sie die segensreiche Wirkung ökologischen Strukturwandels für das Wohlstandsniveau. Aus Wachstumskritik war - wenn auch von den meisten Autoren gar nicht explizit formuliert - unter der Hand der Anspruch geworden, Umweltschutz sei der beste aller Wachstumsmotoren. Im politischen Raum war man damit natürlich wesentlich anschlussfähiger als mit Zweifeln am Sinn immerwährender Expansion.

Langsam nun wird das Hohelied der ökonomischen Potenz von Umwelt-, Effizienz- und Solartechnik auch da gehört, wo die Entscheidungen fallen: politische Entscheidungen, Investitions-, individuelle Entscheidungen. Das Zentralorgan des globalen Kapitalismus, der Economist, lange auf der Seite derer, die am Klimawandel zweifelten, hat jetzt den Startschuss gegeben: The heat is on - der Klimawandel ist da. Wir müssen uns verdammt anstrengen, ihn in erträglichen Grenzen zu halten, aber wir können mit dem Klimaschutz auch einen Haufen Geld machen. Also los!

Der deutsche Umweltminister spricht von "ökologischer Industriepolitik", EU-Kommissare schwärmen vom neuen "ökologischen Industriezeitalter", die Aktienkurse grüner Unternehmen boomen, das Weltwirtschaftsforum in Davos befasst sich mit dem Klimawandel. Nun, nachdem der Emissionshandel in Europa etabliert ist, wenn auch mehr schlecht als recht, ist der Umweltschutz in den Finanzabteilungen der großen Konzerne eine feste Größe.

Sicher, es gibt noch eine Fülle von Halbherzigkeiten und viel folgenloses "Grünsprech". Und es bedarf weiterhin gewaltiger Kämpfe mit den Lordsiegelbewahrern des Status quo, die hoffen, die Sache mit dem Klima sei nur ein Spuk, der bald vorübergehe. Aber es hat sich in der Tat etwas verändert, was die Bereitschaft zum Wandel in Richtung Umwelt- und Klimaschutz betrifft.

Was aber bedeutet all das für die Wachstumsfrage? Ist es richtig, sie einstweilen zurückzustellen und stattdessen für die Effizienzrevolution und die Solarzivilisation zu kämpfen? Oder ist es für die Ökologiedebatte nicht nachgerade konstitutiv, die Frage nach dem rechten Maß zu stellen und politische Rahmenbedingungen so zu setzen, dass wachstumsneutrale Lebens- und Wirtschaftsstile begünstigt werden?

Erinnern wir uns, die Wachstumskritik der siebziger Jahre speiste sich aus drei Quellen: Der Einsicht, dass es in einem begrenzten System wie der Erde unbegrenztes Wachstum nicht geben kann, weil die Ressourcen- und Senkenfunktionen der Natur nicht unerschöpflich sind; der Einschätzung, dass Zufriedenheit und materieller Wohlstand jenseits eines bestimmten Niveaus nicht mehr oder sogar negativ korrelieren, ein großer Teil des Konsums also eher kompensatorischen Charakter hat - der unstillbare Wunsch ist, immaterielle Bedürfnisse materiell zu befriedigen. Schließlich gab es die Erkenntnis, dass die Fixierung auf das Bruttosozialprodukt (BSP) als alleinigem Wohlstandsindikator in die Irre führt, weil es vieles falsch misst (Unfälle, Krankheiten), manches nicht misst (Hausarbeit, Nachbarschaftshilfe) und wieder anderes gar nicht messen kann, etwa die Qualität des Sozialwesens oder der Natur, also den sozialen Zusammenhalt oder die Gratisleistungen der Natur wie sauberes Wasser, gute Luft, stabiles Klima, produktive Böden, biologische Vielfalt.

Nimmt man sich diese drei Kritikquellen heute vor und fragt, ob sie noch gültig sind, muss man mit einem ziemlich klaren Ja antworten. Schlimmer, lebten wir in den siebziger Jahren noch in manchen Sektoren innerhalb der Naturgrenzen, so müssen wir heute in vielen Bereichen einen "Overshoot" - ein Überschießen - konstatieren. Beim Kohlendioxid etwa muss der weltweite Ausstoß um über 50 Prozent reduziert werden, um in die Naturgrenzen zurückzukehren, also die Assimilationskapazität von Pflanzen, Böden und Ozeanen nicht zu überschreiten. In den Industrieländern mit ihrer historischen Verantwortung liegen die entsprechenden Reduktionserfordernisse gar bei 80 Prozent. Ganz ähnlich sieht es bei anderen Spurengasen wie dem Methan und dem Lachgas aus. Auch die Einträge von Nährstoffen und Schadstoffen liegen in der industrialisierten Welt weit oberhalb der tolerablen Grenzen.

In vielen Entwicklungsländern sind die Raten der Bodenerosion, von Entwaldung und Artenrückgang so beängstigend hoch, dass sie mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit als vollkommen unvereinbar gelten müssen.

Es geht also gar nicht um Wachstumsbegrenzung oder Nullwachstum, sondern um Reduzierung und Schrumpfung! Die interessante Frage ist, ob das mit dem Leitbild einer vitalen Gesellschaft und einer vitalen Ökonomie vereinbar ist - in Industrie- wie Entwicklungsländern. Das ist eine offene Wette zwischen denen, die glauben, es ginge, und denen, die da skeptisch sind.

Was die Wachstumskritiker in den Siebzigern nicht in der nötigen Klarheit gesehen haben, ist die soziale Frage. Sie kritisierten vor allem "Überkonsum" im reichen Norden und "Überbevölkerung" im armen Süden. Heute kann sich die politische Debatte eine solche soziale Leerstelle nicht mehr leisten. Inner- und zwischengesellschaftliche Gerechtigkeit müssen integral in umweltpolitische Konzepte aufgenommen werden. Dabei dürfte in den internationalen Beziehungen ein neues Leitbild an Bedeutung gewinnen - Contract and Converge: Die Industrieländer müssen mit ihrer Pro-Kopf-Emission und ihrem Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch herunter, während den Entwicklungsländern noch ein moderates Wachstum derselben zugestanden wird, bis man auf einem Niveau angekommen ist, das insgesamt naturverträglich ist.

Wenn man sich diese Zusammenhänge vor Augen führt, erscheint die Notwendigkeit von umweltverträglicheren Lebensstilen inklusive eines deutlich reduzierten Niveaus an materiellem Konsum durchaus gegeben. Ein solcher Lebensstilwandel, der dem Sein wieder mehr Recht einräumt als dem Haben, und der das "Haben-Wollen" soweit wie möglich dematerialisiert, kann nur durch einen Kulturwandel gelingen - Politik kann einen Beitrag zu diesem Wandel leisten. Ebenso eine Bildung, die entsprechende Werte vermittelt. Gleiches gilt für steuerliche Rahmenbedingungen, die ökologisches Verhalten belohnen, - für eine neue, auch finanzielle Wertschätzung von allen Formen der Eigenarbeit, der Familienarbeit, der Nachbarschaftshilfe, des bürgerlichen Engagements. Wären wir darauf angewiesen, gesellschaftliche Teilhabe nur über Vollbeschäftigung und die wiederum nur über Wirtschaftswachstum zu erreichen, bräuchten wir solch gewaltige Wachstumsraten, dass Nachhaltigkeit als Ziel in unerreichbare Ferne rückte.

Wachstumsdruck von Gesellschaft und Wirtschaft zu nehmen, wird künftig eine politische Herausforderung erster Ordnung sein. Einen Beitrag zur Aufklärung kann die realistische Bilanzierung unseres Wohlstandes leisten - die Abkehr von der einseitigen Fixierung auf das Bruttosozialprodukt. Warum sollte sich das Statistische Bundesamt nicht einmal systematisch Gedanken machen, neben dem Ökonomischen auch das Soziale und Ökologische zu bilanzieren, um unseren Wohlstand realistisch abzubilden? Vielleicht käme dann zum Vorschein, dass "immer mehr" schon längst nicht mehr "immer besser" bedeutet. Es mag sein, dass die moderne Ökonomie in eine Krise gerät, wenn beim Wirtschaftswachstum ein kritisches Minimum unterschritten wird. Es ist aber sicher, dass das Ökosystem Erde in eine schwere, wahrscheinlich existenzielle Krise gerät, wenn wir systematisch über unsere Verhältnisse leben. Es muss einen dritten Weg geben, der beides vermeidet. Den zu suchen, ist aller Mühen wert. Sonst bleibt nur Fatalismus.

(*) Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), auch Weltklimarat genannt.

Gekürzter Vorabdruck aus dem im Herbst erscheinenden Jahrbuch Ökologie 2008.

Reinhard Loske habilitierte sich zu "Nachhaltigkeit als Politik" an der Freien Universität Berlin. Er arbeitete als Projektleiter für internationale Klimapolitik im Wuppertal Institut und gehört seit 1998 für Bündnis 90/ Die Grünen dem Bundestag an. Zwischen 2002 und 2006 amtierte Loske als stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Am 29. Juni 2007 wurde er in Bremen zum Umweltsenator der rot-grünen Koalition berufen.


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