Die Katastrophen der Geschichte beginnen meist harmlos. Als NATO-Kampfjets das Feuer auf jugoslawische Bodenziele eröffneten, war vom Bodenkrieg noch nicht die Rede. Luftschläge führe man aus, so die beschwichtigende Rhetorik des Anfangs, um die Belgrader Unterschrift unter das Kosovo-Abkommen herbeizuzwingen. In ein paar Tagen werde der Spuk vorüber sein. Letzteres hat zwar kein maßgeblicher Politiker ausdrücklich gesagt, doch die Absicht eines kurzen, energischen Kraftakts war der Eindruck, den die Öffentlichkeit vermittelt bekam. Darauf beruhte die relativ breite Zustimmung, die das rabiate Unternehmen in den westlichen Ländern fand.
Dann kamen die Elendsbilder entkräfteter Menschen an den Grenzen des Kosovo. Wohlgemerkt - sie kamen nach Beginn des Krieges! Vorher hatte es keine Flüchtlingslager in Mazedonien und Albanien gegeben. Erst als die NATO-Operation unmittelbar bevorstand und daraufhin die OSZE-Beobachter Hals über Kopf die Krisenprovinz verließen, konnte sich die Wut der serbischen Militärs und Paramilitärs an der albanischen Bevölkerung austoben. Jetzt hatte der Bombenkrieg unversehens eine neue Begründung: dem Belgrader Regime in den Arm zu fallen, sein blutiges Werk fortzusetzen. Das gleichsam selbsttragende Motiv ist der Traum jedes Propagandisten. Verdient denn nicht Strafe, wer sich an Wehrlosen vergeht?
Eine Zeitlang erfüllte die Suggestion ihren Zweck, den westlichen Kriegskonsens aufrechtzuerhalten. Nur ist Strafen noch keine Politik, zumal der Erfolg ausbleibt. Nach zwei Monaten ständig gesteigerter Raketen- und Bombenangriffe konnte noch kein einziger Albaner in seine Heimat zurückkehren. Die überfüllten Flüchtlingscamps leeren sich nicht - im Gegenteil. Immer häufiger gehen in Belgrad die Lichter aus, aber die weiße Fahne will nicht erscheinen. Ernüchterung breitet sich aus, und die öffentliche Billigung des Krieges bröckelt erneut. Die Regierungen halten mit ihrer »Doppelstrategie« dagegen: Man müsse den militärischen Druck weiter erhöhen, um einer politischen Lösung den Weg zu bahnen. Aber welcher Lösung?
Allem sorgsam genährten Anschein zum Trotz ist kein Verhandlungsfrieden in Sicht. Zwar verbreiten internationale Vermittler in wachsender Anzahl den Eindruck rastloser Geschäftigkeit und geben sich routinegemäß »vorsichtig optimistisch«, in Wahrheit jedoch treten sie auf der Stelle. Auf Grundsätze zur Beilegung der Kosovo-Krise hatten sich Anfang Mai in Bonn die Außenminister der
G-8-Staaten verständigt. Daß Rußland zu den Unterzeichnern gehörte, wurde als politischer Durchbruch gefeiert. Seither geht es um die Konkretisierung der sieben Prinzipien, die an entscheidenden Stellen von den fünf älteren NATO-Forderungen abweichen. Verlangt wird der Rückzug jugoslawischer Kräfte aus dem Kosovo, aber nicht ein vollständiger Abzug, von einer wirksamen internationalen Sicherheitspräsenz ist die Rede, nicht mehr von Militärpräsenz, schon gar nicht unter NATO-Kommando, und die Entwaffnung der UÇK steht auf dem Programm.
Wie ernst der Westen diese Eckpunkte nimmt, offenbart tagtäglich das Ritual des Sprechers Shea im Brüsseler NATO-Hauptquartier. Als hätte es die Einigung mit Rußland nie gegeben, wiederholt er als Vorbedingung für eine Beendigung des Luftkrieges stoisch die Erfüllung der fünf Maximalforderungen der NATO. Die sieben G-8-Prinzipien bleiben unerwähnt, so kommt jeder dieser Auftritte einer neuerlichen Brüskierung des angeblichen Partners Moskau gleich. Wie Rußland besteht auch China auf der Einstellung der Luftangriffe vor einer Resolution des Sicherheitsrats. Wer aber nur unter Fortführung der militärischen Operationen verhandeln will, verrät etwas über sein Verhandlungsziel: Um eine politische Lösung geht es erst in zweiter Linie, vorrangig geht es um Kapitulation. Die westliche Doppelstrategie enthüllt sich als Doppelspiel.
Dazu paßt, daß hohe NATO-Militärs und Spitzenpolitiker vor allem in Washington und London immer deutlicher als realistischen Zeitpunkt eines erfolgreichen Abschlusses der Bombenangriffe die Monate August/September ins Visier nehmen. Bis dahin könnte der Aufmarsch der Landstreitkräfte abgeschlossen sein, die den Kern der Kosovo-Friedenstruppe bilden sollen. Inzwischen ist dafür statt der ursprünglich 28.000 Soldaten ein neuer Kräfterahmen von 50.000 Mann im Gespräch. Die Stärke würde ausreichen, um den Luftkrieg, falls erforderlich, in den Bodenkrieg übergehen zu lassen, ohne daß dies als Ziel schon jetzt eigens proklamiert werden müßte. Die Inszenierung diplo matischer Aktivität mag als bestes Mittel erscheinen, von den militärischen Planungen abzulenken. Jedenfalls wäre bis zum heutigen Tag im NATO-Krieg gegen Jugoslawien noch nicht einmal die Halbzeit erreicht.
Eine gespenstische Perspektive! Die fehlgeleiteten Geschosse auf Wohnsiedlungen und Hospitäler sind schlimm. Schlimmer ist die systematische Attackierung der zivilen Infrastruktur. Sie zerstört die Lebensgrundlagen einer ganzen Bevölkerung. Wie Hohn klingt die Beteuerung des Washingtoner NATO-Gipfels: »Unsere Militäraktionen richten sich nicht gegen die Serben, sondern gegen die Politik des Regimes in Belgrad«. Soviel ist sicher: Präsident Milosevic und sein Führungspersonal werden die letzten sein, die keinen Strom mehr haben und denen das Wasser knapp wird.
Es war derselbe Gipfel, auf dem der US-Präsident erklärte: »Wenn wir kämpfen, tun wir es, um zu siegen«, der deutsche Bundeskanzler ihm sekundierte: »Wir werden siegen, weil wir siegen müssen.«
Unser Autor ist Vize-Direktor des Hamburger Friedensforschungsinstitutes.
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