Ein schneeweißes Pferd in Ramallah, darauf ein hagerer, hochaufgeschossener alter Mann. Er reitet an mir vorüber, in der Hand eine langstielige helle Blüte. Kein Ölzweig. Aber auch kein Schwert wie einst Saladdin auf seinem Schimmel, der Jerusalem 1187 für die Moslems zurück eroberte und dessen Mythos als Befreier Al Quds´ bis heute in der arabischen Welt lebendig ist. Die Blüte - ein Zeichen? Der Blick des Mannes streift die von israelischen Raketen zerstörte Polizeistation. Im Hintergrund Gewehrfeuer. Das sind die Zeichen im März 2001, an einem Abend in einem Land voller Irritationen, fremd, nah, begreifbar und völlig absurd.
Es war 13 Uhr 34. Ich stand in einem Bus mit Touristen an der Kreuzung, die den French Hill mit der Nablus-Str
er Nablus-Straße verbindet. Während wir darauf warteten, dass die Ampel auf grün schaltet, sprach ich über Mikrophon zu einer Gruppe von 24 deutschen Journalisten, die sich zu einer Studienreise in Israel aufhalten. Viele Autos fuhren an uns vorüber, darunter auch ein langer Bus der Linie 6. ... Eine ohrenbetäubende Explosion auf der rechten Seite. Während ich mich instinktiv duckte, sprach ich wie ein Automat weiter ins Mikrophon. Ich hörte mich sagen: "Hier sehen Sie nun ein weiteres Beispiel für unsere unrealistische Realität." Ich wandte mich an meine Gäste und sagte mit leiser Stimme: "So sieht ein Terroranschlag aus." Und dann sah ich den Bus der Linie 6 wieder, zum zweiten Mal in zehn Sekunden. Sein gesamter hinterer Teil war verkohlt, und auch nachdem die große Rauchsäule verschwunden war, stieg aus dem Bus noch immer Rauch auf. ...So lebensecht hatte die Bundeszentrale für politische Bildung ihren Anschauungsunterricht für uns Journalisten nicht geplant. Vielmehr war der israelische dpa-Korrespondent Gabriel Bronn eingeladen, uns an ausgewählten Punkten Jerusalems die geopolitischen Parameter der Stadt zu verdeutlichen. Unterwegs mit unserem Reisemobil, bewacht und gesteuert von Rachal, dem einst auf den Golanhöhen kämpfenden beduinischen Busfahrer, hatten wir kurz zuvor in Gilo, verschanzt hinter einem buntbemalten Schutzwall, der mit diebischer Lust einst aus der Berliner Mauer hätte herausgeschnitten sein können, auf Bet Jala geblickt. Gewarnt vor Schüssen, die seit Beginn der zweiten Intifada immer wieder von dort abgefeuert werden. Einige aus der Gruppe waren scheinbar unbefangen ins Freie getreten, um mit dem Fernglas genauer lokalisieren zu können oder ein Foto zu schießen. Die meisten in dem Bewusstsein, es würde nichts passieren und dennoch kribbelte es im Bauch. Oder kam das von den eiskalten Obstsäften? Auch vor ihnen waren wir gewarnt worden. Unser Stadtführer hatte uns auf eine Schule in der Anafa Straße von Gilo aufmerksam gemacht. Sie trägt seit kurzem einen Mantel aus dickem Beton, einige Löcher bilden ein zufälliges Muster. Ganz sicher nicht die Visitenkarte eines Mauerspechts.In Gabriel Bronns Augenzeugenbericht heißt es weiter: Ich sprach von zwei Möglichkeiten: "Entweder ist ein Terrorist in dem Bus mitgefahren und hat eine Bombe zurück gelassen, oder, und das ist wahrscheinlicher, es handelte sich um einen Selbstmordattentäter, der sich im Bus in die Luft gejagt hat." Ich drehte mich um und sah die deutschen Journalisten wie leere Säcke in ihren Sitzen liegen, halb in die Luft starrend, halb die Ereignisse beobachtend, mir jedoch überhaupt nicht zuhörend.Natürlich waren wir erschrocken, vereinzelt kam auch der Wunsch nach sofortiger Abreise auf. Der israelische Kollege hatte uns beschreiben wollen, wie man in einer anormalen Situation ein normales Leben führt. Er sprach von dem erschossenen Baby am Abend zuvor in Hebron und der detonierten Autobombe in der Nähe eines Einkaufszentrums am Morgen danach. Für eine Journalistengruppe aus Deutschland ist dieser Alltag schwer vorstellbar; nach dieser ungewollten Live-Schaltung fast undenkbar. Und dennoch bewegen auch wir uns nicht in Panzerhemden durchs Heilige Land, meiden allerdings öffentliche Verkehrsmittel und schlendern nicht in größeren Gruppen über Marktplätze.Unserem dichten Vortrags- und Besichtigungsprogramm Zeit für einen Abstecher ins Mittelmeer abzutrotzen, gelingt eines Morgens um sechs Uhr in Tel Aviv. Zu dieser frühen Stunde treffen wir keine weiteren Badegäste, noch kein Grund zum Staunen. Erst später ist offensichtlich: Der wunderbare, weiße Sandstrand füllt sich auch tagsüber nicht, die Basare in den engen Gassen der Jerusalemer Altstadt bleiben menschenleer. Verzweifelte Händler gehen zum Angriff über: lockend, werbend, schmeichelnd bieten sie ihre Souvenirs zum halben Preis, den ganzen wird der potentielle Käufer nie erfahren. Jeder dritte Laden eine Neueröffnung und ich die erste Kundin? Die gewöhnlich überfüllte Grabeskirche teilen wir lediglich mit einer israelischen Armee-Einheit, die einen Kulturnachmittag zu absolvieren scheint. Es ist das einzige Mal, dass ich die uniformierten Jungs und Mädchen ohne Gewehr sehe. Ihre im Stadtbild stets präsenten Waffen haben sie auf dem Vorplatz bei einem Wachposten deponiert.Die vor den heiligen Stätten oder vor den Toren der Altstadt wartenden, selbsternannten Wegbegleiter suchen vergeblich nach Kundschaft. Aber auch die staatlich anerkannten Touristenführer sind ohne Arbeit. Urlauber bleiben weg, suchen nach einem sicheren Abenteuer. Für Israels Touristenbranche ist das eine Katastrophe. Für das langfingrige Gewerbe ebenso. Niemand interessiert sich für großformatige Panoramabilder, in deren Sichtschatten unbemerkt Geldbörsen ihren Besitzer wechseln sollen.Ohne Urlauber fehlen der Touristenbranche die Einnahmen. Israels Straßenbild jedoch bleibt multikulturell. "Die Spannungsfelder im Lande sind beträchtlich", sagt der Soziologe Grischa Arloser, der in der Sowjetunion geboren wurde und 1978 nach Israel kam. Er benennt die Hauptkonflikte zwischen religiösen und nichtreligiösen Israelis, den ashkenasischen und den sephardischen Juden, der jüdischen und nicht-jüdischen Bevölkerung - und endet mit der eher rhetorischen Frage: "Wie jüdisch muss der Staat, wie demokratisch darf er sein?" Arloser sieht die gegenwärtige Situation in Israel sehr pessimistisch, hält den Friedensprozess für lange Zeit gestört. Er erzählt uns, dass er bei der Überprüfung seiner Atemmasken, die er seit dem Golfkrieg einmal jährlich vornehmen lassen muss, diesmal ein Schutzpaket für seinen anderthalbjährigen Sohn in die Hand gedrückt bekam. Der Anblick und vor allem die Vorstellung, ihr Kind dort hineinzwängen zu müssen, waren für seine Frau und ihn derart alarmierend, dass sie beschlossen, aus Tel Aviv weg zu ziehen.Andere Stimmen geben Friedensverhandlungen nach der Wahl Sharons durchaus eine Chance. Der Politikwissenschaftler Benjamin Neuberger hält eine Imageänderung für möglich und wagt die These, Sharon könne im Alter in die Fußstapfen Begins treten wollen. Ariel Sharon, der "Bulldozer", - ein zukünftiger Friedensnobelpreisträger? Horst Freitag, Leiter der deutschen Vertretung in den palästinensischen Autonomiegebieten, vergleicht den Besuch Sharons auf dem Tempelberg mit einem brennenden Streichholz, das die ohnehin knisternde Stimmung entflammen ließ. Netanjahu hätte immer nur kleine Schritte gewagt, aber keine Endstatusverhandlungen geführt, Barak wollte die abschließende Lösung, ließ es aber an kleinen Schritten vor Ort fehlen.Die Kibbuz-Vorsitzende Drora Schenk hat Sharon gewählt - tief enttäuscht von der Arbeitspartei, die sie 1967 mit nationalen Appellen auf den im Sechs-Tage-Krieg von Syrien eroberten Golan geholt hatte und nun bereit ist, "ihr Land" für einen Frieden mit Damaskus zurückzugeben. "Aber ...", sagt sie und macht eine lange Pause, "ein Politiker ist ein Politiker". Sie habe kein Vertrauen, zu niemandem. Wir sind zu Besuch in "Merom Golan", unmittelbar vor der Grenze Syriens. 400 bis 450 Personen leben heute noch in diesem ersten, 1967 gegründeten Kibbuz auf den Golanhöhen. Äpfel und Birnen, Israels beste Früchte dieser Art, wachsen hier. Es gibt ein großes Backhaus, eine moderne Molkerei, in der jede Kuh computerüberwacht und jährlich gegen Maul- und Klauenseuche geimpft wird. Sie werde keinen Schritt zurück weichen, sagt die kleine, energische Frau, und hält uns eine Landkarte vor die Nase, gerade mal knappe fünf Prozent mache die Fläche der Golanhöhen von Syriens Territorium aus. Die Hochebene sei ihre Heimat geworden, sie haben diesen Boden fruchtbar gemacht, von dem einst syrische Artillerie auf die Dörfer am See Genezareth schoss. In ihren Gebietsansprüchen bleibt sie unerbittlich, dem Wandel der Kibbuzbewegung begegnet sie mit resignierter Einsicht.Früher stand die Gemeinschaft im Mittelpunkt, die Menschen waren bescheiden und produktiv. Mit den Jahren hat sich das gewandelt. Die meisten wollten eher weniger machen und viel bekommen. Seit einigen Jahren darf jeder Kibbuznik einen Teil seiner Einnahmen behalten. Das soll motivieren. "Heute steht der Mensch in der Mitte und die Gemeinschaft am Rand". Vor 20 Jahren wurden die Kinder mit sechs Wochen ins Babyhaus gebracht. Ihren Enkel würde sie heute nicht gern in fremder Obhut wissen. "Doch wir haben an dieses Leben geglaubt!" Droras Kinder wollen das nicht mehr. "Aber damals, da waren sie glücklich."Israel hat rund sechs Millionen Einwohner, über eine Million kamen in den letzten Jahren als Übersiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. 40 bis 60 Prozent der Eingewanderten sind nach der traditionellen Definition keine Juden. Der Religionswissenschaftler Gideon Freudenthal erzählt uns von Bestrebungen des Innenministeriums, das gegenwärtig geltende Rückkehrgesetz zu ändern. Künftig sollen nur noch Familienmitglieder mit einreisen dürfen, die nach der Konversion des Antragstellers geboren wurden. Die Zahl der begleitenden Personen würde sich so erheblich reduzieren - und die Staatskasse langfristig entlastet.In Beer Sheva, der Hauptstadt der Wüste Negev sprechen wir mit jungen Russen, die über ein Programm der Jewish Agency für zehn Monate im Land weilen, um sich hier auf ein Studium oder eine Berufsausbildung vorzubereiten. Für die meisten von ihnen steht fest: Sie werden in Israel bleiben, egal ob ihre Eltern, Großeltern oder Geschwister nachkommen oder nicht. Die Radikalität, mit der sie ihr einstiges Leben abstreifen, macht beklommen und wirft Fragen auf, denen in einer kurzen, offiziellen Begegnung nicht nachgespürt werden kann. Die jungen Russen sind willkommen in der großzügig gebauten und prosperierenden Wüstenstadt.Nur wenige Kilometer weiter eine Beduinensiedlung, eingezäunt und nach 22 Uhr von ihren Bewohnern nur verbotener Weise zu verlassen. Damit die Wüste grünen konnte, mussten die Nomaden weichen von einem Land, dessen Besitz nicht beurkundet, sondern per Handschlag von einer Generation auf die nächste vererbt worden war. Sieben Beduinenstädte gibt es in der Negev, allesamt soziale Brennpunkte mit hoher Arbeitslosigkeit, Kriminalität und anderen Probleme, wie man sie auch in anderen Reservationen dieser Welt kennt. Miriam Deutsch, unsere kurzzeitige Reisebegleiterin, streut ein paar Zahlen und Fakten in den Bus. Mindestens einmal stutzen wir: "Die Beduinen vermehren sich rasant, alle zwölfeinhalb Jahre verdoppelt sich ihre Anzahl." Vermehren? Vielleicht hat Frau Deutsch unser Murren gespürt, auf jeden Fall legt sie eine Erklärung nach. Die Beduinenfrauen seien früher für das Vieh zuständig gewesen und hätten die Stoffe für Zelte und Kleidung gewebt. Nachdem die Beduinen, immerhin 25 Prozent der Negevbewohner, nach und nach in den neu erbauten Städten angesiedelt wurden, würden die Frauen heute ihre Bedeutung vor allem durch Kinderkriegen demonstrieren. Eine sehr einfache Sicht auf den zwiespältigen Prozess von Landnahme, Wohnraumvergabe und sozialer Identitätskrise eines ganzen Volkes, die jedoch nicht von allen geteilt wird. Auch das haben wir erfahren, von engagierten israelischen Wissenschaftlern am "Center for Bedouin Studies and Development" der Ben-Gurion Universität in Negev, die sich seit Jahren für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Beduinenstädten engagieren.Einen Tag nach der Jerusalemer Busexplosion wanderte jener Artikel von Gabriel Bronn, in der wir deutschen Journalisten uns angesichts der Explosion in leere Säcke verwandelten, von Hand zu Hand. Erstaunt fragten wir einander unsere Beobachtungen ab. Keiner hatte, wie Bronn, einen Knall gehört, niemand eine Rauchwolke bemerkt. Vielmehr stand, als wir an der Kreuzung ankamen, 200 Meter entfernt der beschädigte Bus der Linie 6, ringsherum Rettungsautos mit Blaulicht. Polizisten, Hilfskräfte und Zivilisten rannten hektisch auf und ab. Dieser Anblick und die schnelle Gewissheit, dass soeben eines jener Märtyrerattentate geschehen war, die uns bislang nur über die sichere Distanz der Medien erreicht hatten, genügte, um einer Journalistengruppe die Sprache zu verschlagen.
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