BERLINER ABENDE Das Leben ist ein Hamsterrad mit Spielregeln. Wer das Pech oder die Kraft hat, von außen zuzuschauen, besitzt die Freiheit des Beobachters. Hin und ...
Das Leben ist ein Hamsterrad mit Spielregeln. Wer das Pech oder die Kraft hat, von außen zuzuschauen, besitzt die Freiheit des Beobachters. Hin und wieder gelingt es aber auch involvierten Hamstern, über ihre Rolle im Gesellschaftsspiel nachzudenken. Beispielsweise beim Joggen, was bei mir zugegebenermaßen dem Hamsterrad noch eins drauf setzt. Ich laufe in einem Sportstadion Endlosrunden, bin also nach einer Stunde Anstrengung von A nach A gekommen. Allerdings kann ich in dieser Zeit ungestört das Leben im allgemeinen und in manch besonderem an mir vorbeiziehen lassen, Menschen in Kategorien einordnen, ihnen Schubfächer zuteilen, sie wieder herausholen, umtopfen, mich zu ihnen in Beziehung setzen. Das ergibt nicht wirklich Überraschendes, aber es verhilft zu e
u einer gewissen Gelassenheit, vor allem dann, wenn es mir gelingt, Dinge zu durchschauen.Jeder verteidigt seinen Platz im großen Spiel: Politiker, Modehäuser, U-Bahnfahrerinnen. Politikern stehen Spielhelfer zur Verfügung, die eine Art Coachfunktion übernehmen, sie tragen zusammen, was der Mann an der Spitze wissen sollte, sie schreiben ihm auf, was er zu sagen hat, sie studieren mit ihm Auftritte und Gesten ein. Manche Spielhelfer haben es leichter, ihr Mann hält, was er (ihnen) verspricht, ist diszipliniert und vor allem präsent in den Medien, andere brauchen Big Brother und den Raab der Woche, um gesehen zu werden. Ein paar hilflose Stunden im Container und Guido W. bekommt hundert Briefe in einer Woche! Was darin geschrieben steht? Keine Ahnung, ist wahrscheinlich auch nicht wichtig. Wahrnehmen zählt oder besser das Wahrgenommenwerden. Dies wiederum ermöglichen sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die privaten Medien und werden daher Mittler oder Widerpart der Spielhelfer. Die Rollenverteilung ist umstritten: Wer agiert, wer reagiert, gibt es ein Zusammenspiel? Ist es geprägt durch Ablehnung oder Misstrauen, durch gegenseitige Abhängigkeit oder Kooperation und gar Vertrauen? Gibt es Verschiebungen in der Machtbalance, möglicherweise durch den Umzug in die neue Mitte der Hauptstadt? Es heißt, das Klima sei rauer, die Bonner Gemütlichkeit der kurzen Wege vom ellbogengeführten Konkurrenzkampf in Berlin verdrängt worden. Große Sender schicken zuweilen drei Kamerateams zu einem Termin, um optimales Bildmaterial zu erstreiten, kein Wunder, wenn es eng wird im Hamsterrad.Modehäuser und Boutiquen haben auch Spielhelfer, oft rotieren ganze PR-Abteilungen, um die Aufmerksamkeit der Multiplikatoren zu erlangen. Da werden Pressemitarbeiter zu Modeschauen an ferne Orte geflogen, zu vorweihnachtlichen Cocktails gebeten und mit kleinen Aufmerksamkeiten bedacht. Unausgesprochen wird eine gute oder überhaupt Presse erwartet. Die wiederum soll Kundinnen locken, beispielsweise ab 25 Jahre aufwärts (immerhin 1,3 Millionen Frauen in Berlin), gern auch mit Kindern bis 13 Jahre. Das gilt für den größten schwedischen Mode-Einzelhandel-Konzern, der kürzlich im Neuen Kranzler Eck am Ku'damm Quartier bezog. Lindex, der Schriftzug steht auf meiner neuen Umhängetasche!, will schnell und aggressiv in Deutschland expandieren. 31 Filialen wurden in den vergangenen zwei Jahren landesweit eröffnet, ein Flagship-Store mit 1.800 Quadratmeter Damenoberbekleidung in exklusiver Geschäftslage ist nun hinzu gekommen. Eschenholz, Stahl, natürliches Licht, Farbflächen zur leichten Orientierung, breite Gänge zum Wohlfühlen, Kinderecken, Babywickel- und Stillraum. Stichworte, die ich mir auf dem Presseempfang notiert habe. Und "Harry", das modische Beiwerk! Hierbei handelt es sich um einen Mann, was in diesem Kontext zunächst revolutionär klingt, im Konkreten aber doch eher sexistisch oder vielleicht auch nur klischeehaft anmutete. In der getanzten Modeschau war Harry der Verführer aller gut gekleideten Sekretärinnen, Young-Fashion-Girlies und Betthäschen. Hat nun die PR-Abteilung von Lindex mir diesen Termin diktiert oder habe ich Einfluss auf den Laden, indem ich die Entscheidung treffe, der Einladung zu folgen? Oder gilt das alles nur für Polit-PR und Politikberichterstattung?Ungeklärt ist auch noch der Platz, den die U-Bahnfahrerinnen einnehmen im endlosen Hamsterwettlauf. Sie bilden zwar das Schlusslicht in der Kette der handelnden Personen, aber wird nicht ihretwegen das ganze Affentheater aufgeführt? Wer, wenn nicht sie steigen am U-Bahnhof Kurfürstendamm aus, erklimmen die Treppen, fallen bei Lindex ein und kaufen das Flagship leer? Schließlich ist alles zu haben, außer Harry. Und sind sie es nicht auch, die Big Brother gucken und plötzlich Guidos Partei kennen lernen wollen?Ich bin mir nicht sicher, ob ich unzulässig verallgemeinere, manchmal verrenne ich mich bei meinen vielen Stadionrunden in den Gedankengängen des großen Gesellschaftsspiels. Vielleicht gehe ich noch mal zurück, nicht über Los und setze einmal mit Würfeln aus?
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