Kreuzfahrten

Berliner Abende Kolumne

Sie haben die leuchtend orangefarbenen Westen gegen ebenso leuchtend orangene Hosen und Jacken eingetauscht. Dicke karierte Hemden und Rollkragenpullover lugen darunter hervor. Strickmützen haben die leichten Basecups abgelöst. Während Laubbäume sich im Herbst ihrer Kleider entledigen, bis irgendwann nur noch kahle Stämme übrig bleiben, verhüllen die Bauarbeiter neben den Gleisen des S-Bahnhofs Westkreuz ihre stämmigen Körper Schicht um Schicht. Nein, nicht alle haben stämmige Körper. In jeder Schicht gibt es auch ein, zwei kleinere spirrlige Männlein mit grauen Stoppelbärten, die meist am Rand der Gruppe stehend den derben Scherzen der breitbeinig geerdeten Platzhirsche ein unsicheres Lächeln zollen.

Jeden Morgen verweile ich für circa fünf Minuten auf dem denkmalgeschützten S-Bahnhof Westkreuz; warte darauf, dass die Bahn, mit der ich angekommen bin, bis auf den letzten Fahrgast entleert langsam den Rückzug antritt. Kurz darauf fährt der Zug in Richtung Spandau ein, verharrt, bis der ihm entgegenkommende Ahrensfelder die Gleise gekreuzt hat, und setzt dann seine Fahrt fort. Danach dauert es nicht mehr lange, und mein Zug nach Wannsee fährt ein. In diesen fünf Minuten beobachte ich das Baugeschehen an den Bahngleisen, seit Monaten. Es ist ja nicht so, dass außer dem Wechsel der Jahreszeiten gar nichts geschehen ist. So nach und nach erhielt der vorübergehend stillgelegte Bahnsteig A nagelneue Kanten. Ich sehe sie stahlgrau und noch graffitifrei leuchten und frage mich, wann und wie die dorthin gelangt sein können und warum das alles hinter meinem Rücken passiert. Dabei sehe ich so gern anderen bei der Arbeit zu. Immer wieder frohlocke ich, heute Früh erlebe ich´s, aber dann wieder nur das gewohnte Bild. Die orangefarbenen Männer stehen zu zweit, zu dritt, in Fünfer-Gruppe oder allein mit Handy in der Gegend herum. Manchmal sitzt einer in seinem gelben Führerhäuschen und baggert so still vor sich hin. Oder neulich, da starrten zwei ganz lange auf einen leeren Fleck an der Bahnsteigkante, dann ging einer nach links, der andere suchend nach rechts. Beide wurden fündig, kamen gemächlich mit alten Brettern unterm Arm an den Ausgangspunkt zurück. Sie hielten erst das eine, dann das andere Holz prüfend an den leeren Fleck, legten schließlich beide Hölzer auf die Erde und blieben stehen ... Zur Sicherheit aller Herumstehenden stehen immer zwei oder drei neongelb gekleidete Männer, hin und wieder auch eine Frau, in ihrer Nähe. Nach Fertigstellung des Bahnsteiges A wird der Bahnsteig B, von dem aus ich die Szenerie beobachte, ebenfalls umgebaut. Dann werde ich das Geschehen seitenverkehrt wieder aufs Neue verfolgen. Ich bin sicher, eines Tages erwische ich sie beim Arbeiten und habe dann endlich die Gewissheit, dass es Heinzelmännchen nur im Märchen gibt.

Um ein bisschen Abwechslung in den Alltag zu bringen, steige ich bei der Rücktour auf dem S-Bahnhof Ostkreuz um. Hier lassen sich nicht einmal Bauarbeiter beim Herumstehen blicken. "Rostkreuz", wie der Kreuzungspunkt von elf S-Bahnlinien und wichtigster Umsteigeplatz im S-Bahnnetz sachkundig genannt wird, ist der Bahnhof der niemals beginnenden Baumaßnahmen. Den frühsten Umbauplänen kam der erste Weltkrieg in die Quere, im zweiten trafen den Bahnhof zerstörerische Bomben und in den Nachkriegsjahren wurden nur die notdürftigsten Reparaturen ausgeführt. Das Verweilen auf dem Bahnsteig ist heutzutage also durchaus Abenteuer, bei dem man sich mit einer extralangen Original Thüringer Rostbratwurst im ofenwarmen Brötchen verwöhnen kann.

1976 entgleiste der Wagen eines S-Bahnzuges am oberen Bahnsteig A bei der Einfahrt. Offiziell waren Mängel am Oberbau schuld, was immer damit gemeint war. In Wahrheit hatte sich aufgrund des Gleiszustandes bei der Kurvenfahrt der Wagenkasten vom Drehgestell abgehoben. Seit diesem Tag ist in der Südringkurve nur noch Tempo 30 erlaubt. Mitte der achtziger Jahre machten erneut Umbaupläne die Runde, 1988 sollte es nach langem Für und Wider endlich losgehen. Doch alle Pläne scheiterten schließlich an den fehlenden Baukapazitäten. Die Wende kam. Seit 1994 sind wieder Umbaumaßnahmen in Planung. So soll der Bahnhof zum Beispiel von Linien- auf Richtungsbetrieb umgestellt werden. Eine durchaus fahrgastfreundlich Geste, denn zurzeit fährt der Zug in Richtung Stadtzentrum meist auf dem Bahnsteig zuerst ein, auf dem man gerade nicht steht und wartet. Durch mehrmalige Änderungswünsche wechselnder Regierungskoalitionen, auch unter dem Aspekt eines Neubaus der Stadtautobahn in Richtung Frankfurter Allee, verzögerten sich die Planungen, und der Baubeginn verschob sich immer weiter. In diesem Jahr soll der erste Spatenstich ausgehoben werden. Hier enden meine Informationen. Habe ich nun den ersten Stich oder seine Vertagung verpasst?


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