BERLINER ABENDE Vor den Messehallen am Funkturm hält ein Mann ein Schild in die Höhe: »Suche Startnummer!« Letzte Chance für unseren Auslandsredakteur, den 27. ...
Vor den Messehallen am Funkturm hält ein Mann ein Schild in die Höhe: »Suche Startnummer!« Letzte Chance für unseren Auslandsredakteur, den 27. Berlin-Marathon in ein Schnäppchen zu wandeln. Nein, er rückt seine »27161« nicht heraus, wozu ist er schließlich in den vergangenen Wochen kilometerweise durch die Gegend gerannt, hat in den letzten Tagen erst ganz viel und dann nur Spaghetti gegessen und noch dazu das Rauchen aufgegeben? Am Sonntag ist Laufen angesagt, und da ich der Sportart in Maßen zugeneigt bin, werde ich zur multifunktionalen Begleitung ernannt. Ausgestattet mit dem Streckenplan, auf dem mir T. allerhand Kreuze mit Anweisungen gemalt hat, stehe ich lange vor dem normalen sonntäglichen Aufstehen auf dem Bahnhof Mahls
hlsdorf und treffe zu meiner Verwunderung auf die ersten Startnummernbesitzer, zu erkennen an den blauen Plastikbeuteln. Später werden sie diese, gefüllt mit allem, was nicht am Körper bleibt, in große rote Wagen einer bekannten Möbelfirma verstauen und zum Ziel transportieren lassen. Von Station zu Station vermehren sich die Beutelträger. Es gibt sie mit langem wehenden Haar und Vollbart, Kurzschurköpfen, groß und athletisch, ich entdecke den Burschenschaftstyp mit Nickelbrille und den kleinen, drahtigen Mittfünfziger, auf Frauen stoße ich erst später. Kein Wunder, es gehen auch nur 4.322 Marathonläuferinnen ins Rennen, umgeben von 22.695 Männern. Ich begleite T. zum Start, er lächelt nervös und spricht von Zerrung. Ringsum streicht man Vaseline auf prekäre Körperstellen, es werden Pflaster auf Nase oder Brustwarzen geklebt sowie Waden und Oberschenkel mit stinkendem Schlangengift gefügig gerieben. T. erklärt mir noch einmal, was ich bei welchem Kreuz auf dem Streckenplan zu tun habe, ich lese bei Kilometer 14 und 32 »Doping Shit«, was wohl zwei Aspirin bedeuten soll, bei Kilometer 24 vielleicht ein Foto, und am »Knackpunkt« (Kilometer 38) darf es eventuell eine Jacke sein. Den Startschuss des Regierenden Bürgermeisters hören wir nicht, aber plötzlich fliegen Luftballons gen Himmel, und das bedeutet, der Mammutstress nimmt seinen Lauf. T. wählt den geraden Weg entlang der eigens zu diesem Zweck auf die Straße gemalten blauen Linie, und ich stürze mich ins Abenteuer Nahverkehr. U- und S-Bahn sind quälend voll, die Unterstützer-Szene wälzt sich quer durch die Stadt, bewaffnet mit Strecken-, Bahn- und Stadtplan. Am Halleschen Tor bin ich erster, halte die orangefarbenen Pillen eisern eine halbe Stunde in der Hand, T. entdeckt mich, die Übergabe funktioniert, meine Handfläche leuchtet orange. Ich drängele mich zur U-Bahn durch, fahre zur Möckernbrücke: umsteigen, neue U-Bahn, Yorckstraße aussteigen, Platz auf der linken Seite suchen, warten. Rechts von mir schwenkt ein älteres Paar euphorisch putzige grüne Fähnchen, hinter mir wetteifern zwei Frauen im Rasseldrehen, vor mir die Parade der Läufer, die Weltklasse ist längst durch, jetzt gibt es die merkwürdigsten Körperhaltungen und erstaunlichsten Kostümierungen zu betrachten. Es laufen Teufel und Engel, ein Weihnachtsmann, Snoopy, Pumuckel, Superman, ich blicke gerade einem jungen Mann im rückenfreien kleinen Schwarzen nach, da wirbelt T. mich einmal um die Achse. Foto? Zu spät. Schnell in die S-Bahn Richtung Wannsee, Ausstieg: Botanischer Garten. Hier in der Straße Unter den Eichen herrscht Volksfeststimmung, Bratwurst vom Grill, laute Musik und ein dichtes Spalier. Ein Mann rempelt aufgeregt meine Nachbarin an und schreit: »Der Fischer kommt!« Umringt von knackigen Bodygards läuft unser Außenminister ganz nah an mir vorbei. Wo bleibt T.? Ich halte schon wieder diese färbenden Pillen fest in der Faust. Vis à vis ist gerade Wolfgang eingetroffen. Keine Ahnung, wer das ist. Auf einem Transparent steht: »Wolfgang nur noch 10 Kilometer« und darunter wird ein schweißtriefender Mensch von seinen Freunden geknuddelt, dann schieben sie ihn wieder auf die Piste. Das Feld franst aus, Power-Walker schreiten vorbei, Marathonläufer gehen, humpeln, schleppen sich. Vier Stunden währt das Treiben bereits, noch zehn Kilometer bis zum Ziel, den »Knackpunkt« mit der Jacke schenke ich mir. Auf dem Weg zur S-Bahn piept mein Handy, eine SMS. Ich lese: Startnummer 27161 ist als 10.914 M-Runner mit der Zeit 4:04:39 durchs Ziel gegangen. Richtig, alle Läufer tragen einen Chip, auf dem die Laufdaten vermerkt werden, und die Ergebnisse konnte sich, wer wollte, aufs Handy legen lassen. T. ist also längst im Ziel. Ich schlage mich per Bahn und zu Fuß bei dichtem Gedrängel zu ihm durch, vorbei an Bergen von Bananenschalen, 90.000 sollen verzehrt worden sein, vorbei an plastikumhüllten Gestalten, denen das Glück, im Ziel zu sein, noch nicht anzusehen ist, vorbei auch an Liegenden, deren Beine von jeweils einem Physiotherapeuten geknetet werden. T. strahlt, ich bin völlig kaputt. Nächstes Jahr sollten wir die Rollen tauschen.
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