"Wahnsinn"

10. NOVEMBER 1989 Vor und hinter dem Brandenburger Tor

Das meistgebrauchte Wort dieser Tage war "Wahnsinn".

Am Freitagmorgen kommt eine Kollegin mit verquollenen Augen zu spät zur Redaktionssitzung. Wir lachen verstehend, wir glauben, sie, eine gute Reporterin, sei unter den West-Berlin-Besuchern der vergangenen Nacht gewesen. Sie antwortet mit Tränen. Als die Mauer gebaut wurde, sagt sie, war ich zwanzig, jetzt bin ich achtundvierzig. Achtundzwanzig Jahre, die besten meines Lebens. Damals habe ich an die Mauer geglaubt, was hatte das alles nun für einen Sinn?

Später gehen wir zum Brandenburger Tor, um zu sehen, was an diesem Tag, dem 10. November 1989, geschieht. (...) Kaum haben wir das Schild "Sie betreten den amerikanischen Sektor" passiert, sind wir links und rechts von einer Mauer jubelnder und klatschender Menschen eingekeilt. Warum jubeln sie uns zu? Dasselbe Unbehagen wie bei den Fernsehbildern vom Empfang unserer Ausgereisten im Westen. Alles kommt mir wie ein großes Missverständnis vor. Es wird wohl noch lange dauern, bis meine Generation für selbstverständlich hält, was vor gar nicht langer Zeit fast als Vertrauensbruch galt.

Wir kommen nur schrittweise vorwärts. Es wird an die Scheibe geklopft. Aufmachen, rufen sie. Ich merke, ich habe Berührungsängste. Ich zwinge mich, meine Verkrampfungen zu lösen und kurbele die Scheibe herunter. Glückspfennige werden ins Auto geworfen, Sekt angeboten.

Als wir schon wieder auf dem Rückweg sind, brausen Autos, begleitet von Blaulicht und Sirene, heran. Jetzt kommt Momper, sage ich aus Spaß. Momper steigt aus, zusammen mit Willy Brandt und ein paar Begleitern. Sie gehen die 250 Meter bis zur Mauer zu Fuß. Im Nu sind sie von Leuten eingekeilt. Ich gerate neben einen der Bodyguards, wundere mich, wie klein und zierlich er ist. Willy, Willy ruft es aus der Menge. Die beiden Regierenden Bürgermeister, der von 1961 und der von 1989, werden auf die Bühne geschoben. Momper will etwas sagen, doch die Menge versteht ihn nicht. Trotz allerfeinster Technik sind keine Lautsprecher da. Ein Megaphon wird herbeigeholt. "Die Mauer muss weg, die Mauer muss weg", skandiert die Menge. Aus dem Volksfest wird ein Tribunal. Momper, so scheint es, macht Konzessionen an die Stimmung.

Er begrüßt die Reiseregelung in der DDR, betont aber, das genüge nicht, fordert freie Wahlen, spricht von Unterstützung der oppositionellen Gruppen und verlangt Beendigung der Alleinherrschaft der SED. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl mitzuerleben, wie unsere Angelegenheiten auf der anderen Seite der Mauer verhandelt werden. Willy Brandt schlägt vor, Teile des Mauerbauwerks als Museum zu lassen. Später, bei der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus, sagt er: "Das Zusammenrücken der Deutschen verwirklicht sich anders, als es die meisten von uns erwartet haben. Und keiner sollte in diesem Augenblick so tun, als wüsste er ganz genau, in welcher konkreten Form die Menschen in den beiden Staaten in ein neues Verhältnis zueinander geraten werden. Dass sie in ein anderes Verhältnis zueinander geraten, dass sie in Freiheit zusammenfinden und sich entfalten können, darauf allein kommt es an."

Die Rede von Bundeskanzler Kohl ging in Pfiffen unter, und als ein Vertreter der Republikaner sprach, wurde "Nazis raus" und "Aufhören" gerufen.

Als ich das sah, war es schon später Abend, und ich saß vor dem Fernseher. Da kamen auch die Bilder von den seligen jungen Leuten, die mehr schlecht als recht "So ein Tag, so wunderschön wie heute" sangen und von dem älteren Mann, der in Tränen ausbrach und den seine Frau tröstete, ich hörte eine Gruppe junger Männer, "Eisern Union" grölend durch die Straßen ziehen, sah Mädchen sich an den Schaufenstern mit modischer Kleidung die Nase plattdrücken, Jugendliche mit roten Köpfen aus einer Bude kommen, die für eine Mark eine Minute lang Pornos zeigt. Ich begegnete vielen Leuten die friedlich aussahen und freundlich waren. Das neue Verhältnis der Menschen zueinander war noch nicht definiert, die konkreten Formen stecken in der flüchtigen Phase des Anfangs, der vieles zulässt. Mit der Gewissheit, daß auf der einen Seite die Zeit der Bonbons, der Glückspfennige und der Sektflaschen schnell vorbei sein wird, verbindet sich die Hoffnung, auf der anderen, auf unserer, werde sich Euphorie und Taumel bald in Besonnenheit und Würde verwandeln.

Im Schaufenster von C entdecke ich das Angebot für DDR-Bürger, in eigener Währung zum Kurs von 10:1 zu bezahlen. Die Wechselstuben am Bahnhof Zoo machten horrende Tauschangebote, und Konditor Dieter Witte auf dem Kurfürstendamm hängte das Schild ins Fenster:

Herzlich willkommen

Für Sie sofort ins Neue Leben bei uns als
Bäcker-Konditor
Verkäuferin - Küchenhilfe
In Voll- oder Teilzeit
Bitte hier melden.

Auch so können Wünsche für die neuen Formen des Zusammenrückens aussehen. Es liegt in der Dialektik der Sache, daß in der Stunde erwachter Selbständigkeit die Vertreter der Wiedervereinnahmung dort wieder ihre Stunde wittern, im Großen wie im Kleinen. Es hat keinen Sinn, die Augen zu verschließen, die ersten Vorbereitungen für den großen Aderlaß sind schon getroffen, und die Frage, wie schnell wir uns wieder in der Situation von 1961 befinden könnten, ist nicht von der Hand zu weisen. Moralische Appelle nützen vermutlich wenig. Mehr schon die Gewissheit, einer neu zu gewinnenden Freiheit, von der Dieter Klein, Prorektor der Humboldt-Universität, auf dem Meeting der SED am Freitagabend sagte, wer sie zum Reise habe, werde nur zurückreisen, wenn er sie auch zu Hause hat. Jetzt sind die Türen offen, und wir müssen lernen, mit Dingen zu leben oder gegen sie zu kämpfen, die zuvor unser Dasein kaum berührten. Wir werden auch bittere Erfahrungen machen müssen. Aber verschlossene Türen sind keine Alternative.

Als wir am Freitagnachmittag über den Kontrollpunkt Invalidenstraße zurückkehren, sind wir erschrocken über die Länge der Schlangen. Den Schwarzen Weg bis zur Habersaathstraße und zurück, mehrreihig. Das erste Gefühl: Bedrückung, Demütigung. Daß wir so unseren Stolz verlieren. Aber ist es nicht Hochmut, so zu denken? Alle diese Leute wollen selbständig einen Schritt tun, der fortan zur Selbstverständlichkeit werden kann. Und wer sagt uns denn, dass alle gekommen waren, um eine historische Stunde zu erleben? Wollten nicht manche vielleicht, erfüllt vom tiefen Misstrauen in die Beständigkeit zeitweiliger Regelungen, es wenigstens einmal versuchen, und zwar sofort, ehe es zu spät wäre?

Ich hatte einen immer wiederkehrenden Traum: Plötzlich befinde ich mich auf dem Gebiet der BRD, weiß nicht, wie ich hingelangt bin. Niemand darf es merken, und um Mitternacht muß ich zurück sein. Bis dahin will ich es schaffen, meine Großmutter zu besuchen. Ich schaffe es nicht. Nicht, sie zu finden, und nicht, zur Zeit zurück zu sein. Ich habe Angst. Da wache ich auf.

Ich habe meine Großmutter das letzte Mal 1957 gesehen, als sie uns besuchte. Dann wurde sie schwächlicher und reiste nicht mehr. 1980 starb sie 94jährig.

Ich glaube, fast jeder, der die Geschichte diese Landes, seine Verletzungen und Wunden, seine Schocks und Infarkte bewusst erlebt hat, besitzt einen solchen Traum. Die Träume ähneln sich. Es sind immer Alpträume. In der Summe ergeben sie das Trauma eines Volkes. Es ist gut, dass dieses Trauma verschwindet.

aus: "Sonntag" vom 19. November 1989

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