Brief aus Paris

Ein Eishauch hat sich in Paris verfangen. Er muss sich eingeklemmt haben zwischen den Krallen der steinernen Ungeheuer von Notre-Dame. Kälter ist es ...

Ein Eishauch hat sich in Paris verfangen. Er muss sich eingeklemmt haben zwischen den Krallen der steinernen Ungeheuer von Notre-Dame. Kälter ist es in Moskau auch nicht, denke ich. Nur der Schnee fehlt. Wie ein hungriger Wolf knirscht der Winter mit den Zähnen. Er tut das, um die Pariser zu erschrecken. Ich klappere mit den Zähnen, weil mir kalt ist in meiner Dachkammer. Da sitze ich, an die winzige Heizröhre geschmiegt, schlürfe kannenweise heißen Tee und komme darauf, dass es Napoleon war, der den Winter einst nach Frankreich importierte. Mehr war damals auf dem Russlandfeldzug nicht zu holen für die kaiserlichen Truppen.

Aber das ist lang her. Napoleon friert in seinem Sarkophag und mir geht es nicht besser. Ich müsste mich bewegen, um meine Gänsehaut loszuwerden, aber selbst für Kniebeuge ist meine Dachkammer zu klein. Ich beschließe ein Stündchen in den Tuilerien zu flanieren. Ich nehme die Métro und fahre bis Concorde. Draußen haut mir der Wind die Kälte um die Ohren. An dem großen, achteckigen Springbrunnen stoße ich auf Lola aus Valencia. Sie sitzt allein auf einem der grünen Stühle und starrt auf die gekräuselte Oberfläche des Wassers. Sie trägt einen Rock und einen dick gefütterten Mantel, in dem sie aussieht wie eine Matroschka. Ihre schwarzen Haare wirbeln über ihrem Kopf. Auch Lola wollte ein wenig Luft schnappen. So spazieren wir gemeinsam durch den Park. Grau und schwermütig hängen die Wolkengebirge über uns. Die Stühle stehen verwaist im Sand, darüber kreischen ein paar Möwen.

Die Blätter, die als letzte von den Bäumen gesprungen sind, flattern über die Wege. Hin und wieder kommt uns ein blasser Student mit Augenringen entgegen. Die meisten Flaneure sind schon wieder zu Hause und schreiben trübe Gedichte. Der Wind pustet Lola und mich durch die Allee. Er bläht unsere Bäuche: der Rock der Spanierin und der Saum meines Mantels stehen waagerecht in der Luft. Wir reden über Gott und die Welt, über Glück und Präservative. Da fängt es an zu regnen.

In einem Papierkorb liegt ein schwarzer Regenschirm, der aussieht, als ob er in eine Waschmaschine geraten ist. Zehn Meter weiter findet Lola einen besseren. Es ist ein hellblauer Regenschirm mit Holzgriff. Er scheint noch heil zu sein. Aber als sie ihn öffnet, schnippt der Schirm weg wie ein Pfeil. Lola hält den Holzgriff in der Hand und lacht.

Einem Mann, der aussieht wie Karl der Kahle, ist der Schirm gegen das Schienbein gesprungen. Er hebt den Zeigefinger und zischt Lola an, dass ihm der Speichel über das Kinn läuft. Ich sehe, wie Lola rot wird und wie sie tief Luft holt. Dann bricht es aus ihr heraus. Ein Schwall von Schimpfwörtern ergießt sich über den Alten, und während der sie noch mit offenem Mund anstarrt, holt Lola mit dem Holzgriff aus und prügelt auf ihn ein, dass er vor Todesangst fistelnd das Weite sucht. Finster blickt Lola ihm hinterher. Ich gratuliere ihr zu ihrem Sieg, aber sie zuckt nur mit den Achseln. Gut, dass ich mich nicht eingemischt habe. Etwas anderes hätte Lola mir im Leben nicht verziehen. Der Regen fällt weiter und kühlt Lolas süße Wut.

Wir laufen an dem kleineren Wasserbecken vorbei. Außer den steinernen Figuren ist keiner da. Nur ein paar Tauben sitzen auf den Häuptern der griechischen Götterlieblinge. Wie zum Spott entleeren sie sich auf ihre unsichtbaren Lorbeerkränze. Immer heftiger peitscht der Regen den Park, die Bäume biegen sich. Es donnert und grollt. Erschrocken flüchten wir aus den Tuilerien. Wir lassen die Glaspyramide des Louvre rechts liegen und suchen Zuflucht in einem Café an der Comédie Française. Der Kellner bringt Lola einen Crème und mir einen schlechten Rotwein. Wir schauen hinaus, während der Regen auf das Straßenpflaster prasselt.

Allmählich wird es dunkel. Wir sitzen da und schweigen. Ich überlege gerade, ob ich nicht auch ein trübes Gedicht schreiben sollte, da zupft Lola mich am Ärmel. Sie blickt mich traurig an. Was hast du? frage ich. Ich weiß nicht, sagt sie. Ich glaube, ich bin ein bisschen melancholisch heute. Melancholisch, sage ich. Ja, melancholisch. Sie seufzt. Sag mal, was machst du heute Abend? Ich zucke mit den Achseln. Kann ich nicht mit zu dir kommen? Ich tue so, als würde ich überlegen. Aber was ist, wenn ich nun auch melancholisch bin? Lola spitzt ihre roten Lippen und lächelt. Dann vertreibe ich dir eben deine Melancholie! Sie zwinkert mich an, und ich zwinkere zurück.

Lola rückt mit dem Stuhl näher an den Tisch, so dass sich unsere Knie berühren. Ich schließe die Augen und vergesse das Gedicht. Ich stelle mir meine Dachkammer vor, und mir wird warm bei dem Gedanken, dass ich heute nacht nicht frieren werde. Lola sieht mich an und kichert. Eine Handvoll Hagel poltert gegen die Scheibe, es klingt wie das Krachen der Zähne im Apfel. Ich trinke Rotwein, ein Glas nach dem anderen, schaue hinaus und sehe zu, wie Paris zerfließt.


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