Vergangenheitsüberwältigung

IM KINO Der Berlinale-Sieger "Magnolia", das Fernsehen und eine simple Moral

Der Tycoon liegt im Sterben. Die letzten sichtbaren Zeichen von Leben spielen sich im faltenreichen Gesicht des Fernsehmagnaten Earl Partridge (ein auf intensivsten Schauspielminimalismus zurückgenommener Jason Robards) ab, dessen von Lungen- und Hirnkrebs zermarterter Körper im Krankenbett seiner Nobelvilla dem baldigen Tod entgegensiecht. Nach langen Bewusstseins-Absenzen hebt er immer dann, wenn die Wirkung der schmerzstillenden Mittel aus- oder die Gewissensbisse um begangene Fehler einsetzen, die altersschwachen Lider und beginnt einen Dialog mit seinem Pfleger Phil (Philip Seymour Hoffman), der in einer Mischung aus Selbstlosigkeit und Mitgefühl diesem ehemals rücksichtslosen, nun reumütigen Patriarchen die letzten Stunden so angenehm wie möglich machen möchte und in caritativer Ergebenheit bis zum Schluss an seiner Seite verharrt. Er ist der mitleidende Engel am Bett des Sünders, dessen altruistisches Herz nicht einmal religiöse Gefühle trüben.

Dieses "Paar" am Sterbebett bildet den erzählerischen Ruhepol des auf neun Hauptcharaktere sorgfältig aufgesplitteten und virtuos miteinander verflochtenen Bilderbogens aus der amerikanischen Medienwelt, deren Lügen und Neurosen sich wie der reale Krebs in die Köpfe und Herzen der Menschen gefressen haben. 189 Minuten lang folgen wir den Figuren einen Tag und eine Nacht lang bei steigender Luftfeuchtigkeit und schließlich nicht mehr enden wollenden Regenfällen (die als Inserts eingeblendeten Wetterprognosen interpunktieren und steigern gleichermaßen den Handlungsverlauf) auf ihren sich kreuzenden Wegen im Mikrokosmos des San Fernando Valley, jener Suburbia von Hollywood, die vom titelgebenden Magnolia Boulevard durchkreuzt wird. Und sie tragen alle mit sich eine schwere Last von Plagen: Wenn sie nicht gerade an ihren realen Metastasen zugrunde gehen wie der Fernsehproduzent und sein Quizshow-Moderator Jimmy Gator (Philip Baker Hall), zerbrechen sie, wie Linda Partridge (Julianne Moore) als die junge Frau des TV-Tycoons, an ihrem eigenen Egoismus; werden sie, wie der Sex-Maniac Frank Mackey (Tom Cruise), von ihrer verdrängten Vergangenheit eingeholt ("Vergangenheitsbewältigung verhindert, dass man Fortschritte macht", ruft er seinem johlenden Publikum zu); dröhnen sich wie Claudia Gator (Melora Walters) über erlittene Verletzungen mit Drogen und Fernsehen hinweg oder bauen wie der donquichoteske Quizshow-Sieger von einst, Donnie Smith (William H. Macy), der den Sprung zurück in die Realität nicht mehr gefunden hat, einfach permanent Scheiße.

Was für die einen Drogen, Alkohol oder Sex sind, ist für die anderen das Wissen oder die Religion. Der etwas einfältige und redselige, aufdringlich philanthropische Streifenpolizist Jim Kurring (John C. Reilly) betet vor Dienstantritt zu Füßen seines Kruzifixes und spricht auf seinen einsamen Fahrten zwischen den Routineeinsätzen in Ermangelung eines Gesprächspartners mit Jesus. Der ständige Begleiter des Quizshow-Kid Stanley Spector (Jeremy Blackman) hingegen ist die Unmenge an Büchern, die er ständig zwischen Schule und Aufnahmestudio mit sich herumschleppt. Vom Unterricht ist das Wunderkind freigestellt, um sich wie ein minderjähriger Privatgelehrter in der Schulbibliothek ganz der Akkumulation unzusammenhängenden, also nutzlosen Wissens widmen zu können.

Beten und Lügen

Die offenkundige und von allen Kritiken gezogene Parallele zu Robert Altmans meisterlich gehandhabter Patchwork-Technik, die die ShortCuts zeitgenössischer Lebensfragmente zu einem grell schimmernden Mosaik zusammenfügt, lässt einen fundamentalen Unterschied unter den Tisch fallen. Wo Robert Altman die Musik-Industrie (Nashville), den Modezirkus (Prêt-A-Porter) oder das Leben, Lieben, Lügen, Sterben und Töten in L. A. (Short Cuts) mit ungerührter Aufmerksamkeit seziert und den Zynismen der westlichen Mediengesellschaft mit bösartigem Sarkasmus begegnet, hält ihnen der dreißigjährige Paul Thomas Anderson - der seine Infiltration durch christliche Wertvorstellungen nicht verleugnet - die Alternativen Liebe, Aufrichtigkeit und Hoffnung entgegen. Seine einsamen Protagonisten müssen sehr tief fallen, wie Claudia im Drogenrausch fast um ihren Verstand kommen, wie Linda Partridge und der Showmaster Jimmy Gator einen Selbstmordversuch unternehmen oder wie das von seinem Vater zum Erfolg getriebene Wunderkind sich vor laufenden Kameras in die Hose pinkeln, um wieder erhoben zu werden. So versieht Claudias bittersüßes, verweintes Lächeln (im Übrigen kennt die Filmgeschichte kaum ein Beispiel, in dem dermaßen viel und ausdauernd geheult wird wie hier) in der letzten Einstellung des Films diese dreistündige Seelentortur konsequenterweise mit jenem Schuss Zuversicht, der der Hollywood-Lüge dann doch noch Einlass gewährt.

Spätestens an dieser Stelle fühlt man sich unweigerlich an einen anderen erlösungshungrigen Protokollanten des amerikanischen Sündenregisters erinnert, an den Calvinisten Paul Schrader, dessen schuldlos schuldigen Helden, nachdem sie die Hölle durchquert haben, am Schluss stets die Heilserwartung oder zumindest die Vergebung winkt. Im neuesten Film von Martin Scorsese, Bringingout the dead, der die deutliche Handschrift seines Drehbuchautors Schrader trägt, geht er sogar soweit, seinen von den Geistern der Vergangenheit bis an den Rand des Wahnsinns gehetzten Ambulanzfahrer zu einer Jesusfigur hochzustilisieren, der in den Armen einer mütterlichen Geliebten endlich Frieden findet.

Insofern fügt sich Andersons Dichotomie vom Leben im Falschen und der Erlösung daraus, die letzten Endes keiner distanznehmenden Ironie unterzogen wird, in eine zutiefst amerikanische Tradition. Diese so konforme wie simple Moral stellt dieses komplex konstruierte Gesellschaftspanorama rückwirkend leider in ein dubioses Licht. Die unerwarte Katharsis mit den vom Himmel regnenden Kröten (in Altmans Short Cuts entspricht dies, nur weniger unwahrscheinlich, dem Erdbeben) - dabei hätte es das junge Regietalent belassen sollen.

"Verführe und Zerstöre!"

ist der Wahlspruch, den der Sex-Coach Frank T. J. Mackey (Tom Cruise als Ultra-Macho gibt hier eine schauspielerische Antwort auf seine Kastrierten-Rolle in Kubricks Eyes Wide Shut) seinem sexuell frustrierten männlichen Publikum mit der Überzeugungskraft des professionellen Entertainers ins Hirn hämmert und den er zu seinem persönlichen Credo erhoben hat. Wenn das Eröffnungsmotiv von Richard Strauss' Also sprach Zarathustra verklungen ist, tritt er aus dem Dunkel an die Rampe der Studio-Bühne und propagiert den kategorischen Imperativ des männlichen Sexus: "Zähme die Fotze!" Man glaubt dann, dass es keine andere Wahrheit neben dieser auf Erden gibt.

Aber "Verführe und zerstöre!" kann auch als Wesensmerkmal des allgegenwärtigen Fernsehens gelesen werden. Es zerstört die Identitäten und sozialen Beziehungen seiner Macher und willigen Teilnehmer genauso wie es auf dramaturgischer Ebene das Link zwischen den disparaten Lebensläufen bildet. Das, was diese atomisierte Gesellschaft an der Oberfläche zusammenhält, ist gleichzeitig das Medium ihrer Zusammenhanglosigkeit, ihrer moralischen Verwahrlosung und existenziellen Isolation.

Wenn alle Protagonisten nacheinander am tiefsten Punkt ihrer Verzweiflung angelangt sind, wird ihnen schmerzlich klar, dass sie - und gerade die erfolgreichen unter ihnen - nie jene souveränen Subjekte der eigenen Lebensgeschichte gewesen sind, für die sie sich bis dahin hielten, sondern vielmehr nur blinde Spielfiguren in einem System, das ihnen wesentlich äußerlich war. So lautet der wiederholt ausgesprochene Kernsatz des Films: "Wir kümmern uns nicht um die Vergangenheit, aber die Vergangenheit kümmert sich um uns." Die beiden traurigsten Figuren (zudem die tragikomischsten) geben dabei das gealterte, aber nie richtig erwachsen gewordene Quiz-Show-Wunderkind Donnie Smith (William H. Macey mag einigen noch als krimineller Loser aus Fargo von den Coen-Brüdern in Erinnerung sein) und die sich um ihren Verstand koksende Tochter des TV-Moderators, Claudia Gator. Wurde der nun als Aushängeschild einer Elektrofirma jobbende, unglücklich verliebte Donnie im Kindesalter von der Fernsehanstalt als Quotenvieh ausgebeutet, so ist Claudia das Opfer einer sexuellen Misshandlung des Vaters. Zufälligerweise - aber das eben bildet das feinmaschige Erzählgeflecht des ausgefeilten, zwischen blindem Schicksal und fataler Determination oszillierenden Drehbuchs -, zufälligerweise ist ihr gehasster, sterbenskranker Vater seit 33 Jahren der Starmoderator jener Quizshow. Aber die Storyline führt diese beiden geprügelten Charaktere nicht zusammen, sondern zeigt sie an verschiedenen Orten zur selben Zeit, als gerade die Show läuft. Das Fernsehen fungiert so als Leitkörper zwischen den Erzählsträngen, die simultan auf denselben Höhepunkt zusteuern.

Die melancholischen Songs von Liedermacherin Aimee Mann, die den Grundrhythmus des Films bestimmen, erfüllen dieselbe Aufgabe, kulminierend in der Szene, wenn alle Charaktere unabhängig voneinander in denselben Song ("Save Me") einstimmen. Es sind - neben den ausgeklügelten Kamerafahrten, der wunderbar flüssigen Montage und den einzelnen schauspielerischen Großleistungen, die sich zu einem homogenen Ganzen fügen - diese Momente, die den unverwechselbaren Duft von Magnolia ausmachen.

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