BERLINALE RETROSPEKTIVE Den Vertretern der Nouvelle Vague galt er als Vorbild unabhängigen Filmemachens, hierzulande blieben Otto Premingers Filme der Kritik politisch suspekt
Jedes Jahr aufs Neue nehme ich mir vor, die zwölf Berlinale-Tage ausschließlich am Ku'damm zu verbringen, gelassen hin und her pendelnd zwischen Astor und Cinema Paris, mit gelegentlichen Ruhepausen in den Seitengassen, wo man mit der Billigpizza in der Hand die Frühjahrskollektionen der Buchvitrinen studieren kann. Aber jedes Jahr boykottiert ein völlig irrationaler Hunger nach dem, was angeblich neu ist in den Festspielsektionen von Wettbewerb, Forum und Panorama, den Kino-Reaktionär in mir, der in den Retrospektiven immer die wahre Avantgarde zu entdecken vermeinte. Denn hier hat er Fullers Forty Guns und Cukors A Star is born erstmals in wirklichem Cinemascope gesehen. Viscontis Leoparden in voller Länge, oder, Jahre davor, Senso in neuen Farben erstrahlen
Senso in neuen Farben erstrahlen sehen. Das glasklare Schwarzweiß von Stroheims Blind Husbands hatte, kaum war der Vorhang aufgegangen, alle Festivalenttäuschungen vom Tage weggefegt. Man sah die göttlich grausame Betty Davis in Wylers Little Foxes, James Mason in Bigger Than Life sein Spiegelbild zerschlagen, das Gangsterballett in Melvilles Cercle Rouge, die Demoiselles de Rochefort durch die Wohnung tanzen, hörte Robert Mitchum erstmals singen (in Walshs Pursued) - und fühlte sich nach einem abgehetzten Berlinale-Tag wie endlich nach Hause gekommen.Was bei flüchtiger Revokation der vergangenen Retrospektiven und ihrer angefügten, durchwegs hervorragenden Publikationen ins Auge fällt, ist die beharrliche Akzentuierung der Tatsache, daß das Kino eine europäische Erfindung ist. Man mag das aus einer postkolonialistischen und filmhistorisch differenzierten Perspektive durchaus bezweifeln. Aber es bereitet doch immer wieder eine kleine hämische Freude bestätigt zu sehen, daß Hollywood-Babylon hauptsächlich von Rumänen, Ungarn, Tschechen, Österreichern und Deutschen erbaut worden ist. So ist es von beinah zwingender Logik, daß nach den großen Hommagen auf die Regie-Exilanten Fred Zinnemann, William Wyler, Erich von Stroheim und G. W. Pabst nun Otto Premingers gedacht wird, des vielleicht nach Stroheim europäischsten Amerikaners, der im fabrikmäßigen Studiosystem der dreißiger bis fünfziger Jahre seine persönliche Handschrift durchzusetzen wußte und schließlich als sein eigener Produzent das künstlerische Ethos des »Independent Filmmaker« par excellence verkörperte. Die jungen Adepten vom alten Kontinent wußten es ihm in hymnischen Kniefällen zu danken. Für die Cineasten-Garde der Nouvelle Vague verkörperte Preminger neben Nicholas Ray, Samuel Fuller, Jacques Tourneur (im übrigen alle vier Vertreter der »harten« RKO-Schmiede), Douglas Sirk und Hitchcock jenen Parnass der unabhängigen Filmkunst, für die man über (Schauspieler)Leichen geht, damit eine Szene so wird, wie man sie sich ausgedacht hat.La mise-en-scène avant tout - das Bild, das Arrangement der Gesten und Blicke im Rahmen der bedeutungshaltigen Interieurs soll mit allen Licht- und Schatteneffekten so in Szene gesetzt sein, daß es den intendierten Effekten entspricht. Es ist anzunehmen, daß Preminger seinem Kameramann über die Schulter (besser: durch dessen Sucher) sah, um sich der Bildkomposition zu versichern. Markiert die Flasche, aus der sich das Hausmädchen im Bildvordergrund und mit dem Rücken zu uns Zuschauern maßlos die Binde zugießt, während sie David Niven, Deborah Kerr und der ausgelassenen Teenager-Kröte Jean Seberg in Bonjour Tristesse den Champagner nachschenkt, auch exakt den linken Bildrahmen? - Sieht man einen Preminger-Film, mag sich der aufmerksamere Zuschauer - der da fast in eine Detektivrolle rutscht - fragen, und dabei gleichzeitig ob des vollendeten Tableau Vivant aus Meer, sanft bewegtem Zedernwald und scheinbar fröhlich mondänen Menschen, in denen eine alte Tragödie gärt, in schlichte cineastische Schwärmerei geraten -, mag sich der von allusiven Zeichen überforderte Zuschauer in der Reflexionspause einer langsamen Überblendung fragen, ob er hier nicht vielmehr dem Vorüberziehen flüssig gewordener Allegorien einer kunstgeschichtlichen Vergangenheit beiwohnt. So ist es nicht verwunderlich, daß Laura, Premingers Debüt im Film noir und bleibende Visitenkarte für Hollywood, schon wenige Jahre nach seinem Erscheinen 1944 als Klassiker seines Genres galt.Geboren 1905 in den östlichen Gefilden des zerfallenden Kakaniens (ungewiß ob im heutigen Polen oder Rumänien), nach Kind- und Jugendjahren in Graz und Wien unter der fördernden Hand von Max Reinhardt schnell zum Regie-Shooting-Star an deutschsprachigen Bühnen herangewachsen, der, noch keine dreißig Jahre alt, bereits Direktoren- und Intendantenstatus genießt, entwickelt er früh ein Interesse am eben entstandenen Tonfilm, »weil diese Kunstform in keinerlei Tradition verankert ist und der schöpferischen, auf neue Wirkungen und Erkenntnisse gerichteten Phantasie so viel Bewegungsfreiheit und Spielraum läßt«, wie er es 1931 anläßlich seiner ersten Filmregie Die Große Liebe begründete. Seine folgende Filmkarriere in Amerika hat der »hundertprozentige Jude« (Preminger über Preminger) ironischerweise nicht wie seine Exil-Kollegen den politischen Umständen zu verdanken, sondern seinem sicheren Gespür für reißerische Bühnenstücke und deren publikumswirksame Umsetztung: 1934 sieht ein Broadway-Produzent im Wiener Theater an der Josefstadt seine Inszenierung von Edward Woolls Sensationsprozeß und engagiert ihn nach New York. Jahrzehnte später wird er sagen: »Es war eh immer mein Wunschtraum gewesen, irgendwann in den Staaten zu arbeiten. Mit Hitler hatte dieser Entschluß so gut wie gar nichts zu tun.«»Premingers Filme kennt man aus dem Fersehen!« Das stimmt. Aber Premingers in den Kanon der Klassiker abgestellte Sachen wie Advice and Consent, Anatomy of a Murder, The Man with the Golden Arm, Carmen Jones Borgy and Bess, Laura, Angel Face und River of no Return, die allesamt im jeweiligen Genre einen bösartigen Kommentar zu den zeitgenössischen (amerikanischen) Verhältnissen abgeben, muß man einfach auf der großen Leinwand sehen, um den ganzen visuellen Ideenreichtum, der die erzählerische Essenz birgt, überhaupt wahrnehmen zu können. »Es gibt weder Thema noch Ausführung, weder Ungezwungenheit noch Trouvaille, sondern die nackte, von Präsenz berstende Evidenz eines zu Herzen gehenden Kinos.« Diese hingerissenen Zeilen des jungen Jacques Rivette in den Cahiers du Cinéma anläßlich einer Szene aus Angel Face entdecken in den winzigen Details und versteckten Gesten die Kunst und das Ethos des wahren metteur en scène. In diese Bresche schlägt auch Norbert Grobs Großessay, der den Kern des zur Retrospektive erschienenen, wie immer vorbildlich gestalteten Buches bildet (Otto Preminger. Hrsg. von Norbert Grob, Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen, Jovis Verlag, 304 Seiten, 170 s/w Abb., 78 DM), worin er auf fast 140 Seiten einen tiefgreifenden Einblick in das viele Genres umfassende Oeuvre des unbarmherzigen Meisters gibt und dessen hindernisreichen Werdegang vom Studioregisseur zum unabhängigen Produzenten nachzeichnet, der sich konsequent heikler Themen annahm.
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