Steinkind

Kehrseite I Schade, dass man den Baum nicht umhacken kann. Vater will es nicht. Ihn stört das Klopfen nicht, er schläft auf der anderen Seite. Tagsüber gibt die ...

Schade, dass man den Baum nicht umhacken kann. Vater will es nicht. Ihn stört das Klopfen nicht, er schläft auf der anderen Seite. Tagsüber gibt die Eiche sich für einen alten Mann aus, der das Haus an seine Brust drücken möchte, doch kaum ist die Sonne untergegangen, streckt er seine Klauen nach dem Schlafzimmer aus; sein riesiger Schatten rüttelt an den Wänden.

Ich sollte mir nichts daraus machen. Ich bin alt genug, die Baumkrone selbst zu stutzen, wenn Vater es nicht tut. Man beugt sich aus dem Fenster und sägt alle Zweige ab, die zu weit vorstehen. Vielleicht ist jetzt nicht die richtige Jahreszeit, der Baum ist eine Wintereiche, aber das ist dann eben Vaters eigene Schuld ... Ich werde mich so weit wie möglich aus dem Fenster lehnen und den Zweigen ins Leben schneiden. Ich werde den Baum ordentlich zum Schreien bringen.

Ob sie eigentlich irgendwann auch mal ins Bett gehen, oder was? Stijn schläft bestimmt schon. Ich habe ihn nicht heimkommen hören.

Aus dem Schlafen wird nichts, auch weil ich heute Mittag am Parrelsee in den Dünen lange gedöst habe. Die Sonne schien grell aufs Wasser, und davon werden die Augen müde. Später wird einem übel und man bekommt rasende Kopfschmerzen, stundenlang; vielleicht der Anfang von einem Sonnenstich.

Die Hitze ist immer noch in meinem Körper. Mit der Decke wedeln hilft. Ich puste über den Schweiß auf meiner Brust und sehe wieder die Mantelmöwe von heute Mittag vor mir, die so schön über das Meer hinstrich und einen Fisch fallen ließ, keine zehn Meter entfernt von der Stelle, wo ich saß. Die Möwe machte noch kehrt, aber der Fisch war schon in die Tiefe geflüchtet und ließ immer breiter grinsende Kreise auf dem Wasser zurück ...

"Was?"

"Pst! Nicht so laut."

Vater sagt etwas über das Meer und dann wohl etwas Witziges, denn Mutter lacht schallend, die Nacht erschrickt bis in die fernsten Winkel.

"Schmutzfink."

Was da unten im Garten passiert, geht mich nichts an. Trotzdem klettere ich aus dem Bett und gehe zum Fenster, stecke den Kopf durch einen Spalt zwischen den Vorhängen. Der Mond steht hell und tief über den Dünen, nicht mehr weit vom Meer. Vater und Mutter gehen zum Klinkerweg, der am Haus entlangführt, sie haben einander die Arme um die Taille gelegt. Mutter lehnt sich an Vater und legt den Kopf an seine Schulter. Sie ist barfuß; kokett lässt sie ihre Sandalen gegen ihre Hüfte baumeln. Hat sie getrunken?

Vater sucht Mutters Mund. Ich will es nicht sehen, aber ich kann nicht weggucken.

Hand in Hand gehen sie weiter. Vater beginnt zu singen, als sie den kurzen, steilen Hang hinaufgehen, Mutter kichert wieder, und dann kann ich sie nicht mehr erkennen.

Geht nur. Ich gehe schlafen.

Ich krieche wieder ins Bett, und als ich die Augen schließe, laufe ich ihnen in Gedanken nach. Schau, sie streiten sich; so geht das oft. Im einen Moment tun sie schrecklich verliebt, und im nächsten liegen sie sich in den Haaren. Ich stelle mir vor, dass Mutter sich losreißt und allein in die Dünen läuft. Vater ist beleidigt, doch Mutter kümmert sich nicht darum, so dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als starrköpfig auf dem Weg weiterzugehen. In meiner Vorstellung lasse ich ihn bis zur Straße nach Warsenhout gehen, die lebensgefährliche Straße, auf der letztes Jahr der Vater von Reinoud aus meiner Klasse totgefahren wurde.

Morgen müssen die Zweige dran glauben. Dafür werde ich schon sorgen.

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist eine Hand, die an meiner Schulter rüttelt. Ich höre Stijn rufen, ich solle aufwachen, und drehe mich zu seiner Stimme um.

"Weißt du, wo sie geblieben sind?"

"Was?"

"Papa und Mama. Wo sind sie?"

Aufwachen ist, als kröche man aus einem totenstillen See, das Wasser des Schlafs noch im Mund. Erst glaube ich, ich habe verschlafen, in der Schule ist der Unterricht in vollem Gang, ohne mich, bis mir einfällt, dass ich ja von der Schule erlöst bin. Ich sehe das Gebäude am Sluisweg vor mir, die leeren Gänge, die stillen Klassenräume mit den Stühlen auf den Bänken. Sommerferien. Stijn hat auch frei. Noch. Dies ist seine letzte Woche, Montag muss er wieder in der Werkstatt anfangen.

Worüber regt er sich so auf? Vater braucht Mutter wahrscheinlich im Laden, oder sie macht Einkäufe. Sie wird gleich zurückkommen. Wenn Stijn Hunger hat, soll er sich doch selbst Frühstück machen.

"Ich komme gleich."

"Alles steht noch von gestern Abend da. Ich war im Geschäft, aber da ist keiner."

Stijn steht unschlüssig neben meinem Bett, doch bevor ich etwas sagen kann, geht er aus dem Zimmer.

Vater und Mutter sind heute Nacht nicht nach Hause gekommen.

Ich trete die Decke von mir, und um einen klaren Kopf zu bekommen, reibe ich mir die Wangen. Erst mal unten nachschauen. Alles wird wieder gut, bestimmt, und dann habe ich später was Spannendes zu erzählen. Von jetzt an muss ich furchtlos auftreten, das ist wichtig. So furchtlos wie Jim Wells, der Detektiv aus Im Herzen von Chicago. "Furchtlos und kaltblütig", so kündigt die Hörspielstimme ihn immer an, und dann wirbelt die Musik wie ein Blaulicht.

Im hinteren Zimmer sind die Vorhänge geschlossen. Auf dem Tisch sehe ich eine Schüssel mit Apfelsinenschalen und einem Kartoffelschälmesser. Mutters Schultertasche aus Lackleder steht unter einem Stuhl. Auf dem Fußschemel vor dem Gasofen liegt das Damebrett mit der Schlussstellung der Partie von gestern abend, bei der Schwarz mit offenen Augen in alle meine Fallen tappte.

In der Küche entdeckt mein Späherauge ein noch größeres Durcheinander. Schmutziges Geschirr im Spülbecken, leere Flaschen. Ein Weinglas, in dem ein Korken schwimmt, ein Teller voller Kippen. Überall Gegenstände, die sich dafür schämen, was sich gestern Nacht im Dunkeln abgespielt hat.

"Ich kapier das nicht", sagt Stijn seufzend. "Hast du etwas gesehen oder gehört?"

"Ich habe gehört, wie sie weggingen. Du hast schon geschlafen."

"Wie spät war - nein, lass nur."

Stijn weiß, dass ich eine Leseschwäche und auch Schwierigkeiten mit der Uhrzeit habe.

"Sie gingen den Weg zu den Dünen runter. Fröhlich waren sie. Und sie taten ein bisschen verliebt."

Das Letzte sage ich nur vor mich hin, mehr darf ich nicht verraten. Es ist schon schlimm genug, wenn Vater und Mutter dahinterkommen, dass ich sie gestern Nacht belauscht habe.

"So, in die Dünen. Diese Kindsköpfe!"

Stijn hält mich für alt genug, alles über "in die Dünen gehen" zu wissen, das verrät sein Blick. Er geht zum Fenster und blickt zum Wasserturm hinüber. "Ich weiß es auch nicht", sagt er schließlich. Er nimmt einen Stuhl und stellt erst den einen und dann den anderen Fuß darauf, um die engen Hosenbeine seiner Jeans über die Schäfte seiner spitzen Stiefel zu ziehen. Er kriegt ein rotes Gesicht davon. "Ich gehe zur Polizei. Du bleibst hier", kommandiert er. "Es muss jemand zu Hause sein, für den Fall, dass."

Für den Fall, dass Vater und Mutter auf einmal wieder auftauchen. Mit Tröten, Luftschlangen und Festhütchen, weil es etwas zu feiern gibt, das Stijn und ich total vergessen haben. Für den Fall, dass ein Polizist klingelt und fragt, ob er kurz mal reinkommen darf.

"Klar warte ich", sage ich.

Robert Haasnoot wurde 1961 in Amerika geboren. Er wuchs im niederländischen Fischerdörfchen Katwijk auf. Der Text ist aus dem Roman Steinkind, der im Februar im Berlin Verlag erscheint.


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