Die guten alten Dinge

Massenkultur Wie ein "neuer Traditionalismus" in der Gesellschaft fröhliche Urstände feiert

Dass der Zeitgeist sich rückwärts orientiert, dieser Eindruck verfestigt sich. "Der Konservativismus, der über Europa liegt", frohlockte Wolf Jobst Siedler schon vor geraumer Zeit, "signalisiert ein neues Weltverständnis, dessen Chiffre die historische Erinnerung ist." Die Nachschöpfung des Berliner Hohenzollern-Schlosses ist dabei nur ein, wenngleich hervorgehobenes, Beispiel. Wir leben in einer Umwelt, deren Produktionsbedingungen sich ändern. Und im selben Maße scheint keine Produktion mehr ohne eine Collage von historischen Bildern auszukommen, die Pawlowsche Reflexe bei der Kundschaft hervorrufen. Herrschaftliches Wohnambiente und stilvolle Manieren feiern allerorts fröhlich Urständ, ebenso der klassische Dreiteiler für den Herren, die Retro-Armbanduhr oder der Art-Déco-Toaster.

Dass der Zeitgeist sich gerne in das Kleid eines neuen Traditionalismus hüllt, kommt indes nicht überraschend. Lässt er sich doch lesen als Reaktion und Spätfolge jener ostentativen Sachlichkeit, die in pure Funktionalität, Anmutungsarmut und Unwirtlichkeit eingemündet ist oder zu sein scheint. Und an dem all der aufgesetzte fancy glamour heutiger Erlebniswelt nichts ändert. Er wendet sich implizit gegen eine industrielle Massenkultur und bemüht vermeintlich zeitlose Ideale und Werte. Allein, diese Bewegung verkennt, wogegen sie sich richtet. Dass das Phänomen "Massenkultur" die kulturhistorisch bedeutendste Folge der Avantgarde der zwanziger Jahre sei, ist nämlich ein Irrglaube. Denn erst der Nationalsozialismus hat einer umfassenden Ästhetisierung des Alltags Gestalt verliehen. Was in der Aufbruchbewegung zu Beginn des Jahrhunderts beschworen wurde, war nie ein Ausdruck der Massen, und in homogenen Bahnen ist sie ebenso wenig verlaufen. Dennoch gründet in der damaligen (Zer)Störung des althergebrachten Kunstverständnisses eben jenes Problem, dem wir heute in der schier umfassenden Historien-Sehnsucht begegnen.

Obgleich der Unterschied zwischen hoher Kunst und Massenkultur unaufhaltsam erodiert; obgleich von der sinnstiftenden Ganzheit einer elitären Kunst längst nicht mehr die Rede sein kann: Symbole gibt es, der Postmoderne sei Dank, überall. Und die Wirklichkeit wird mehr und mehr in eine Zeichenwelt umgewertet. Immerhin, man darf sich dazu verhalten: Ist das nun eine im ethischen Sinne "gefährliche" Entwicklung? Oder sind nicht vielmehr die alltäglichen Ästhetisierungen - diese neue Eleganz hier, das Sich-Herausputzen da - jener Kitt, der die Zersplitterung des Lebens noch halbwegs im Rahmen hält? Kann man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, dass unsere Gesellschaft heute mehrheitlich auf "Klassiker" zu setzen scheint - langlebig nicht nur aufgrund von Technik und Material, sondern auch, weil sie vermeintlich über allen Moden und Trends stehen. Das Versandhaus Manufaktum verkörpert diese Haltung geradezu: Der seit 1988 bestehende und sich immer weiter verbreitende Versandhaushandel produziert und verkauft nur solche Klassiker: "Wir haben uns vorgenommen, Dinge zusammenzutragen, die in einem umfassenden Sinne ›gut‹ sind, nämlich nach hergebrachten Standards arbeitsaufwendig gefertigt und daher solide und funktionstüchtig, aus ihrer Funktion heraus materialgerecht gestaltet und daher schön, aus klassischen Materialien hergestellt, langlebig und reparierbar und daher umweltverträglich." Überflüssig zu sagen, dass diese Strategie voll aufgeht. Weswegen wohl auch mehr und mehr eine entsprechende Erwartungshaltung gegenüber unserem Staatswesen an den Tag gelegt wird: Nicht nur die Dinge, auch das Dasein selbst möge doch, bitteschön, ›gut‹ im klassischen Sinne sein.

Kultur zu verallgemeinern, ist ein virulenter Anspruch jeder Gemeinschaft. Auf eine gewisse Weise hat der neue Traditionalismus eben das verinnerlicht. Er stellt eine Spielart jener affirmativen Kultur dar, wie sie einmal in Bezug auf die deutsche Gesellschaft um die vorletzte Jahrhundertwende diagnostiziert wurde. Nur dass sie jetzt in einen neuen, universellen Zustand transformiert worden ist. Wie kein zweiter hat etwa der Möbelkonzern Ikea verstanden, dass Massenkultur eine Angebotsökonomie darstellt - und natürlich entsprechend davon profitiert. Ikea-Design ist weltanschaulich scheinbar neutral: Es wirkt, als sei es auf eine anheimelnde Weise nichts als praktisch. Die Nüchternheit des Preiswerten ist abgemildert durch die skandinavische Wohnfolklore, die auf einem sorgsamen Umgang mit Farben und Licht basiert. Dies wiederum hat Erwartungshaltung und Geschmack einer ganzen Generation geprägt: Gleichsam ein Klassiker in der Kunst des Understatements. Aber eben bereits ein "Klassiker".

Ästhetik und Stil sind zentrale Begriffe heutiger Selbstdefinition. Und im teils vagen, teils klar bestimmt Historischen finden sie gleichsam eine neue Symbiose. "Modern ist der Individualismus. Man wird auf der Grundlage, dass man bloß sich für modern, die andern aber entweder für altmodisch oder irregeleitet erklärt, zu der gewünschten Volkskunst nicht kommen. Die Altertümelei ist doch auch etwas noch nie oder doch nur selten Dagewesenes; jene, die wir betreiben, die wissenschaftlich alles umfassende, ist nur unserer Zeit eigen. Das Nachahmen des Alten ist also sicher eine ganz moderne Tätigkeit." Nicht frei von Ironie, verteidigte der Kritiker und Publizist Cornelius Gurlitt, vor gut 100 Jahren, die Nachahmung des "Alten" und bezeichnet es (wenn schon nicht als innovativ, so doch) als modern. Und dass der renommierte Züricher Professor Vittorio Lampugnani unlängst die "Kontinuität des Dauerhaften" nicht nur in der Architektur, sondern für die Kultur schlechthin beschwor, passt exakt ins gleiche Bild.

Zwei weitere Begriffe, oder besser: Werte sind für den neuen Traditionalismus zentral. Der eine, "Einfachheit", ist keineswegs so eindeutig, wie es scheint. Als Illustration kann man die Haustür eines alten Bauernhauses bemühen, die der neue, solvente Besitzer sorgfältig und teuer restauriert in den ursprünglichen Zustand der Einfachheit. Sollte uns hier der alte Mies van der Rohe grüßen: "Lasst uns einfach bauen, koste es, was es wolle"? So bleibt die Frage, ob nun Bild oder Substanz gemeint sei, ob also die Häuser "einfach" sein müssten, damit sie Bescheidenheit signalisieren oder damit sie - weil kostengünstiger - möglichst vielen zugute kommen. Geht es um die Ästhetik des Einfachen oder um billige Produktionsmethoden? Der andere Begriff heißt "Konvention". Er meint Vereinbarung und Herkommen. Wo aber kommt was her? Teilen der intellektuellen Elite geht es um den Bestand unserer westlichen Kultur, oder genauer: um das, was wir verloren haben. Und natürlich geht es ihr auch um die Definitionsmacht: Sich im Besitz der historischen Wahrheit zu wissen. Ganz in diesem Sinne hält der namhafte Architekt Hans Kollhoff eine "Rückbesinnung auf Werte, die lange verzichtbar schienen und auf Konventionen, die als überlebt galten", für notwendig. Wo Konventionen erodieren, müsse Architektur die "Rest-Konstanten gesellschaftlichen Zusammenlebens" bewahren helfen. Damit sind vor allem die gesellschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Werte gemeint, die dem hektischen Großreinemachen der zwanziger Jahre zum Opfer fielen. Fürwahr, ein großer Anspruch!

Natürlich aber gibt es große Unterschiede, wie man diese Begriffe oder Werte in die Praxis übersetzt. Um noch einmal das Beispiel der Architektur zu bemühen: Dass die neuen und neuesten gestalterischen Bestrebungen in das formale Repertoire aufgenommen wurden bei gleichzeitigem Rückgriff auf regionale Bautraditionen, auf die mittelalterliche Stadt als rückwärtsgewandte Bezugspunkte: Das hat der Historiker Julius Posener einmal treffend als "wilhelminischen Kompromiss" bezeichnet. Die Spannweite heutiger Positionen ist indes unübersehbar. Sie reicht vom inszenierten Kulissenzauber und aquarellierten Idealbildern eines amerikanischen New Urbanism bis zur intellektuell ernstzunehmenden Versuchen, frühere Formen unter gegenwärtigen Bedingungen zu revitalisieren - seien sie nun konstruktiv-technischer, materialer oder nutzungsbedingter Natur. Und in letzteren liegt sicherlich ein gewisses Potential.

Offenbar lässt sich aus der Dialektik von Vereinheitlichen und Differenzieren, Freiheit und Bindung, universalistischer Strömung und partikularistischem Bestreben doch so etwas wie Identität schöpfen. Die Art und Weise wie wir wohnen (wollen), unterliegt offenkundig nicht der gleichen Dynamisierung wie andere Alltagszusammenhänge. Im Gegenteil: Im gleichen Maße, wie die Globalisierung eine stärkere Nivellierung der Lebensumstände provoziert, scheint, komplementär dazu, das Bedürfnis nach je eigenen Kulturen und Traditionen zu wachsen. Und wie sehr regionale, lokale oder geschichtliche Anleihen beim Planen, Bauen und Wohnen heute bereits die Marketingstrategien industrieller Hersteller bestimmen, zeigen diverse Tendenzen in den USA. Diese werden wohlgemut von breiten Schichten der Bevölkerung aufgenommen, die mangels anderer und authentischerer Offerten in den wie auch immer historisch kostümierten "neuen" Haus- und Siedlungsformen ihre Wünsche nach Geborgenheit und Gemeinschaft, Individualität und Unverwechselbarkeit befriedigen. Die Angebotspalette der Baumärkte - ob nun Obi, Praktiker oder Bauhaus - tut auch hierzulande dann nur ein Übriges.

Bis zu einem gewissen Maß darf man in all dem kein Problem sehen. Intellektueller und kultureller Purismus war noch nie Sache einer Mehrheit und muss es auch tatsächlich nicht sein. Von einem "Komfort des Herzens", der die Kunst erst zum Gebrauch qualifiziere, sprach einst ja bereits Walter Benjamin: Tatsächlich "lebendige Formen" gibt es für ihn nur um den Preis, dass sie in sich etwas erwärmendes, brauchbares, schließlich beglückendes haben, dass sie dialektisch den "Kitsch" in sich aufnehmen, sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch überwinden können. Blickt man aus dieser Warte auf den neuen Traditionalismus, dann stellt er eine ganz normale Konjunkturwelle dar, einen gegenläufigen Pendelschlag, wie er die Diskussion über die industrielle Massenproduktion seit jeher begleitet hat. Mit der Politur des Hergebrachten und nostalgischer Begleitmusik lässt sich eben das Neue besser ertragen, in der Politik ebenso wie in der Wohnumgebung. Modern am "neuen Traditionalismus" ist freilich, dass der Rückgriff auf histor(ist)ische Formen zur Avantgarde, zur Spitze der Bewegung erklärt wird. Und dass seine Protagonisten beständig auf der Suche sind nach dem Wahren, dem Gültigen und dem Schönen. Selbst das wäre wohl nicht weiter schlimm - wenn sie nicht glauben würden, es auch schon gefunden zu haben.


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