Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haus torschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selber.« Was Karl Kraus seinerzeit sarkastisch auf den Punkt brachte, beschreibt eine so nüchterne wie weitverbreitete Werthaltung gegenüber der gebauten Umwelt, die zugleich wohl das Paradigma unserer Städte ist. Allzugroß jedenfalls ist der Drang nach Auseinandersetzung, nach einer öffentlichen Debatte über die Frage, was Stadt und Architektur heute sein sollen, hierzulande nicht. Einerseits. Andererseits ist auch eine andere Neigung zu verzeichnen: Wenn neu gebaut, wenn Stadt dreidimensional gestaltet wird, dann möge auch, bitteschön, das »Sinnversprechen der Ganzheit«
Gratwanderung
VISIONEN TUN NOT Die Stadt, der Wunsch und die Unmöglichkeit
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71; bildmächtig erneuert werden - siehe Potsdamer Platz. Ein solcher Anspruch läßt sich jedoch nur erfüllen, wenn ausreichend Platz bleibt für das Ungeplante, Widerständige, Nichtkonforme. Gerade daran aber hapert es in der Regel. Denn neben dem schönen Schein sind Ordnung, Übersicht, Kontrolle die entscheidenden Stichworte. Und im Ergebnis wird, wie es Gerwin Zohlen einmal formulierte, »das städtische Leben stillgestellt zum Marionettentanz der Konsumenten.«Wir reden von Stadt und Urbanität, sehen indes nur Bilder und Oberflächen. Das menschliche Sensorium ist für die vergleichsweise labyrinthischen Verhältnisse der künstlichen Umwelt nicht ohne weiteres konditioniert. Zudem hat Architektur viel mit Erinnerung zu tun. Sie wird, wie wir von Walter Benjamin wissen, »in zerstreuter Gewöhnung« rezipiert und nicht in konzentrierter Aufmerksamkeit (das würde ohnehin nur ihre Funktionalität stören). All das macht es verdammt schwer - wenn nicht unmöglich -, den Widerspruch zwischen ich-bezogener Bequemlichkeit, urbaner Ästhetik und gemeinschaftsbildender Raumstruktur aufzulösen oder doch zumindest zu überbrücken. Architektur (allein) kann nicht das Werkzeug dafür darstellen. Der Blick zurück mag bei der Sinnsuche behilflich sein.Die Stadt im industriellen Zeitalter hat nicht eine Geschichte; sie hat deren zwei. Während die Stadts als komplexes Kräftefeld, als Offenbarungsform menschlicher Existenz unaufhörlich wuchs, während sie für viele eine prosaische, ja bedrückende Realität schuf, war sie zugleich auch immer Projektionsfläche und Zielpunkt euphemistischer Programme. Der Wirtschaftsliberalismus des letzten Jahrhunderts hatte die Stadt dem »freien Spiel der Kräfte« überlassen, und der Staat sah als seine Aufgabe lediglich die Gefahrenabwehr, zum Beispiel im Erlass von polizeirechtlichen und Feuerschutzbestimmungen; allenfalls wurden noch Zuständigkeiten in den Bereichen Gesundheitsfürsorge und Straßenbau gesehen. Die frühe Industriestadt Englands, wie sie ein Karl Friedrich Schinkel erlebte, schuf indes keine neuen Übel: sie konzentrierte und multiplizierte die vorhandenen alten. Sie war aber zugleich auch diejenige Stelle im straff gespannten sozialen Netzwerk, die durchlässig war in der Vertikalen. Stendhal oder Dickens mochten die koterfüllten, lichtlosen Gassen der Elendsviertel noch so ekelerregend schildern: Wenn sie ihren Protagonisten die Gelegenheit zum sozialen Aufstieg verschaffen wollten, so mussten sie ihre Geschöpfe der großen Hure Babylon zuführen. Der Weg nach oben ist für Julien Sorel oder Oliver Twist der Weg in die Hauptstadt, nach Paris oder London.Die europäischen Hauptstädte sind aber auch bevorzugter Ort für die andere Geschichte. Sie zeigt die Stadt in jener Perspektive, an die uns die Vergangenheit des Städtebaus gewöhnt hat: Als Produkt von Ideen und Initiativen, als Werk weitblickender Politiker (hier ist, notabene, von der Vergangenheit die Rede!), aktiver und manchmal philanthropischer Unternehmer, als Geniestreich begabter Planer. In dieser Geschichte wären die repräsentativen Veranstaltungen des neuen Städtebaus zu benennen: Die simple, nichtsdestoweniger eindrucksvolle und bis zu einer gewissen Leistungsgrenze auch funktionstüchtige Geometrie der frühen nordamerikanischen Stadtpläne; der elegante chirurgische Eingriff, mit dem der englische Planer und Grundstücksspekulant John Nash dem Londoner Westen ein biegsames Rückgrat eingesetzt hat; die klassizistische Stadtbaukunst von Mailand bis Karlsruhe; die imperialen Verwandlungen von Paris unter Napoleon III. und Wien unter Franz Joseph. Aber auch Luigi Costas und Oscar Niemeyers Brasilia - die in Beton gegossene Apotheose einer neuen »demokratischen« Hauptstadt - gehört hierher. Und so unterschiedlich all diese Unternehmungen auch waren, sie hatten doch einen gemeinsamen Wesenszug: Der Glaube in die Kraft der unmittelbar sichtbaren Ordnung lebt von der Auffassung, dass harmonisch entworfene Städte auch harmonische Gesellschaften hervorbringen würden.Das mag uns fremd und fern erscheinen. Aber heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, befinden wir uns in einer gar nicht so unähnlichen Situation. Obgleich unsere Strukturkrisen (die eigentlich Sinnkrisen sind) die Gesellschaft als Ganzes betreffen, ist es die Stadt, wo ihre Metastasen am sichtbarsten auftreten. Der Staat fühlt sich nicht so recht zuständig, baut auf private Initiative und tritt selbst nur mit einzelnen, dafür aber spektakulären Großprojekten in Erscheinung. »Festivalisierung« der Stadtentwicklung haben berufene Münder das genannt. Ansonsten spiegelt das postmoderne anything goes unserer Architektur nur die Individuierung, ja Atomisierung unsrer Gesellschaft. Ohne erkennbare zentripedale Kraft treibt die Stadt dahin, und jeder macht daraus, was ihm gutdünkt. Das kann es wohl nicht sein. Wir werden stärker über den Tel lerrand der unmittelbaren Konsumbedürfnisse hinausgucken müssen, soll unsere urbane Lebenswelt nicht auf dem Altar der Globalisierung geopfert werden. Auf diesen Konformitätsdurck achselzuckend mit dem Verdikt vom »Ende des utopischen Zeitalters« reagieren, wie einst die FAZ? Das wäre zu billig.Der gegenwärtige Kulturbetrieb bedarf eines utopischen Elements: als ersten Schritt gegen die reibungslose Verdauung von ausschließlich selbstreferentiellen Bilderwelten. »Utopien«, schreibt Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften, »bedeuten ungefähr soviel wie Möglichkeiten; darin, dass die Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als dass die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie.« Sie wäre demnach, wie sich ergänzen läßt, Ausdruck der Hoffnung auf Veränderung. Genau danach verlangen wir.Visionen tun not. Umso wichtiger ist es, sich einen Urbanismus, der sich aus dem utopischen Denken entwickelt hat, erneut ins Gedächtnis zu rufen. Denn schließlich ist das okzidentale Planungswissen, wie Gerd de Bruyn befand, auch ein »Produkt jenes kritisch-utopischen Denkens, das auf der Schwelle zur bürgerlichen Gesellschaft den intellektuellen Aufstand gegen eine Welt zunehmender sozialer Kälte probte und sich dem Entwurf 'glücklicher Gemeinschaften' widmete«. Ob die utopischen Sozialisten Robert Owen, Charles Fourier und Etienne Cabet, oder spätere Visionäre wie Frank Lloyd Wright: Sie alle wollten die Folgen der industriellen Revolution in einer neuen, zukünftigen Gesellschaftsordnung überwinden. Sie setzten der wirklichen Stadt eine ideale Stadt entgegen. Daraus aber ist, historisch gesehen, nicht viel geworden: Der gesellschaftliche Impetus, der all diese Utopien speiste, verschmäht zumeist die banale Wirklichkeit. Mit hochfliegenden Träumen ließen und lassen sich die tatsächlichen Probleme der(post)industriellen Stadt nur schwer lösen.Lag den utopischen Entwürfen letztlich die Vorstellung von der Stadt als eines quasi-biologischen Organismus zugrunde, so war ein zweiter Strang utopischen Denkens eher vom Leitbild der Maschine inspiriert. Aus der Kritik am sterilen und verlogenen Eklektizismus der akademischen Architektur entstand eine Strömung, die die neuen technischen Möglichkeiten euphorisch begrüßte. Als Kind der Renaissance, der Aufklärung, der Industrialisierung schleppte sich die Utopie bereits geraume Zeit durchs Leben, bis es endlich von der Avantgarde adoptiert wurde. Allenthalben beschworen die holländischen De Stijl-Bewegung und das Bauhaus gesellschaftliche Momente im materiellen Substrat ihrer Schöpfungen. Die Spitze der Bewegung aber stellten die russischen Konstruktivisten dar. Überaus fest war ihre Überzeugung, dass die Welt von Grund auf erneuert werden, die Massenproduktion eine Massenkultur und die Emanzipation des Arbeiters einen Neuen Menschen schaffen müßte. Und man musste 1925 als Künstler oder Architekt nicht Kommunist sein, um von dem Neubeginn in der Sowjetunion beflügelt zu sein. Für die ganze Avantgarde aber galt als Ziel, Kunst und Technik zu vereinen, den Einzelnen mit dem Ganzen zu versöhnen. Man sonnte sich im Schein des revolutionären Bewußtseins. Als Sprachrohre, die überzeitliche Wirkungszusammenhänge verkündeten, bemühte sich die künstlerische Elite, Lebenseinstellungen und -vollzug der Benutzer/Bewohner zu beeinflussen.Doch der Schuss ging nach hinten los. Denn was sich in der Folge durchsetzte, war eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik. Sie ermöglichte und beförderte die Herausbildung unserer heutigen Siedlungsstruktur. Das Haus wurde zum Bestandteil der Megamaschine Stadt, die durch ihre vielfältigen Ver- und Entsorgungstechnologien den Haushalt von zahlreichen Arbeiten entlastete, aber um den Preis einer immer stärkeren Belastung der natürlichen Umwelt. Wir sind an einem kritischen Punkt angelangt, wo immer größere Investitionen erforderlich werden und sich »Stadt« immer mehr von den Betroffenen, zumal als politisches Gebilde, entfernt. Allein um das bestehende Versorungsniveau aufrechtzuerhalten, wird Stadt entweder zum geschlossenen Bezirk oder zum untertunnelten Regierungs- oder Konsummachtdesign.Was die mögliche »Stadt der Zukunft« anbelangt, haben sich Architekten und Städtebauer immer ambivalenter verhalten. Rückblickend ist zudem eine seltsame Wechselwirkung zu beobachten: Im 19. Jahrhundert hatte die gesellschaftliche Wahrheit sich an den Architekten vorbei konkretisiert, weil diese sich als Fachleute verhielten und ihre berufsethische Frage (»In welchem Style wollen wir bauen?«) ernst nahmen. Die Utopisten dagegen haben sich komplementär dazu menschlichen, gesellschaftlichen, sozialen und religiösen Fragen zugewandt. Im 20. Jahrhundert verhält es sich umgekehrt: Da der Mainstream der Architektur sich - deklamatorisch - einer Utopie mit gesellschaftlichen Ambitionen verschrieben hat, können sich die Utopisten nur komplementär dazu einstellen, also ganz entschieden als Architekten, zwar technisch vorauseilend, aber absolut frei von ethischen, religiösen oder politischen Ambitionen. Und das bezeichnet letztlich noch immer der Status quo.Deswegen brauchen wir heute wieder eine Vision, die über den utilitaristischen und allenfalls angehübschten »Standort« für den global player hinausgeht. Aber, resultierend aus den Zweifeln, ob die bekannten Utopien auch die tauglichen sind, ist hier eine Zusammenführung der Sphären gefragt, gleichsam eine Synthese aus Gesellschaftskritik, Fortschrittsglauben und nüchterner Operationalisierung. So ungenügend der derzeitige Urbanismus, der einer Kapitualation vor »dem Markt« gleichkommt, ist, so wenig stellt »Utopie pur« das probate Mittel dar. Denn ihr Gebrauchswert war immer dadurch beschränkt, dass mit ihr die Zeit ausgeschaltet wurde; der Wandel war stets zuwenig mitgedacht. Utopien waren immer ein durchkonstruierter Idealzustand, nie als Prozeß gedacht, nie beseelt von nichtlinearer Dynamik. Die technokratische Utopie der Spezialisten, ihre Hilfsmittel, mit denen sie hofften, die Stadtkrise zu überwinden, zeigen bloß ihre Begrenztheit. Die fundamentale Crux liegt in den sehr differenzierten Vergegenständlichungsformen von utopischen Gedanken. Gerade das Zwanghafte, das durch den ausgefransten Mantel philanthroper Nächtenliebe lugt, diskreditiert die jeweilige Utopie. Und man wird lernen müssen, mit den Umsetzungsproblemen umzugehen. Bislang war es meist so, dass der segnende Intellektuelle sich erstaunt pragmatischen, zumal technischen und ökonomischen Wirklichkeitszwängen gegenüber sieht und nun keineswegs analytisch reagiert, sondern in der Spanne zwischen Enttäuschung und finsterem Populismus. Für eine Utopie heute muss wie in der Kunst gelten: Es gibt nichts Schlimmeres, als es gut gemeint zu haben.Notwendig ist jene eigentümliche Mischung aus Imagination und Pragmatismus, die manches Mal bereits in der Geschichte aufschien - wie vor 100 Jahren beim englischen Parlamentsstenographen Ebenezer Howard. Er wollte sowohl die soziale Frage mittels sozialreformerischer Maßnahmen entschärfen, als auch durch die Gründung von sogenannten Gartenstädten ein Gegengewicht zum schrankenlosen Wachstum der Großstädte schaffen. Nicht Idealismus - oder genauer: die Suche nach einem räumlich gefaßten Ideal ist das Charakteristische seines Konzepts, sondern das planmäßige Angehen realer Mißstände in großem Maßstab. Wenngleich seine Ideen nur in verkümmerter Form umgesetzt wurden, hatten sie weltweit einen durchschlagenden Erfolg.Am Ende unseres Jahrhunderts lautet die Aufgabe wiederum, Utopie und tatsächliche Möglichkeiten unter einen Hut zu bringen. Einen Wegweiser dafür könnte das Engagement von Max Frisch abgeben. Der viele Jahre als Architekt arbeitende Schweizer Schriftsteller begriff und definierte Städtebau als politisches Anliegen der verantwortungsbewußten Bürgerschaft, womit nicht gemeint war, dass die 'kritische Öffentlichkeit' selbst plane, sondern dass Planung unter ihrer Kontrolle stattzufinden habe. Frischs Konzeption zielte nicht auf eine architektonische Vollendung suggerierende Stadt-Utopie, sondern auf ein prozessuales Planungsmodell. Nicht intellektuelle Spiele und ästhetische Versuchsanordnungen, sondern zielgerichtete Reform der herrschenden Lebensverhältnisse waren sein Anliegen. Daran anzuknüpfen wäre für einen heutigen Städtebau ein lohnenswertes Ziel. Das aber setzt eine kritische, zumindest aber interessierte Öffentlichkeit voraus. Und da muß man sich wohl zuerst an die eigene Nase fassen.
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