Retro Follows Future

Trend zur Mitte Eine Tiefenbohrung zum gesellschaftlichen Kern der zeitgenössischen Architektur

Jener Philosoph, der wie kaum ein anderer eine Leidenschaft für die Baukunst an den Tag legte - Ludwig Wittgenstein -, hat einmal folgende kleine Begebenheit notiert: "Ich kam nach Hause und war sicher eine Überraschung zu finden. Es gab keine Überraschung für mich, was mich natürlich überraschte." Ganz ähnlich ließe sich die Rezeption einer nicht unerheblichen Tendenz heutiger Architektur beschreiben: Der "neue Traditionalismus", dem nicht nur bekannte Verdächtige wie Prince Charles, sondern mehr und mehr auch weite Kreise innerhalb der cultural community ihre Reverenz erweisen.

Es ist gerade das Selbstbewusst-Unspektakuläre dieses Phänomens, das einen verunsichern mag. Allerorts in unserem Kulturkreis, von der Urban Renaisssance eines Gabriele Tagliaventi über das englische Poundbury bis zum amerikanischen New Urbanism, zieht sich ein Netz zusammen, in das ein recht distanzloses Verhältnis zur Vergangenheit tief eingewoben ist. Die Regression eines allein ästhetisch gegenwärtigen Leitbildes baulich-räumlicher Orientierung in der Gegenwart, möchte man meinen. Und das Eigenheim am Stadtrand, wo die Dächer walmen und satteln, die Fenster sprossen und die Balken Gemütlichkeit wie eh und je biegen, macht es vollends offenbar: Der Traditionalismus ist, ganz im Gegensatz zu seinem Gehabe, keineswegs unzeitgemäß. Er versammelt die Modernisierungsverängstigten und Flüchtlinge der gesellschaftlichen Umstrukturierung. Bildet sich hier eine neue architektonische Elite heraus, die die Massenkultur bedienen und sich zugleich von ihr abheben will? Muss sie nun neu geschrieben werden, die Theorie der Avantgarde?

Es sind Fragen wie diese, denen Werner Sewing in seinen hier versammelten Aufsätzen nachgeht. Den Berliner Architektursoziologen interessieren die Zusammenhänge hinter den Oberflächen, und die weiß er so profund wie beredt darzulegen, wobei er die Grenzen der Disziplin weit hinter sich läßt. Was gebaut wird, wie etwas geplant wird, das sagt viel über die Gesellschaft aus, in der es stattfindet. Und umgekehrt. Einerseits sind die kulturellen Prämissen der Architektur - anders als in der freien Kunst - hochgradig konsensbedürftig, zunehmend jedoch immer weniger konsensfähig. Andererseits hat sich die Architektur mit ihren "Raumbildern für Lebensstile und Bühnenbildern für die Stadtkultur" in der Erlebnisgesellschaft längst unentbehrlich gemacht. Ihre soziale und politische Aufladung, die tatsächliche wie die intendierte, bildet bei dieser Bestandsaufnahme den roten Faden.

Seit etwa hundert Jahren, und befördert durch diverse Entwicklungsstränge, sieht sich der Architekt gern als Agent der Gesellschaft, als Repräsentant eines kollektiven Sinnzusammenhangs. "Architektur ist in diesem Verständnis mehr als bloße ästhetische Bedienung eines Lebensstilmarktes, als persönlicher Geschmack und künstlerische Exzentrik, sie ist, frei nach Hegel, die Gesellschaft in Formen gefaßt." Diesem Selbstbild der Profession, das mit zwar wechselndem, aber doch zählbarem Erfolg vermarktet wurde, sind ältere Traditionen eingeschmolzen, so auch das "Konzept des Hofkünstlers: der Architekt als Vertrauter des Herrschers, wobei die Aura des Herrschers auf die des Künstlers übergeht und umgekehrt der Herrscher sich als Künstler begreift. Diese wechselseitige Auraverstärkung ist beim modernen Architekten in sein Verhältnis zum gesellschaftlichen Auftraggeber übergegangen." Doch ironischerweise droht die erfolgreiche Generierung von Bildern für beliebige Lebensstile zur Beliebigkeit des architektonischen Kanons zu führen und damit das Monopol des Berufsstands ad absurdum zu führen. Weswegen gegen diese populistische Verflachung, deren Verursacher die Postmoderne gewesen sei, nun erneut ein puristischer Minimalismus bemüht wird - vornehmlich á la swiss, wie die Namen Zumthor und Herzog Meuron belegen. Womit freilich die Alltagsarchitektur in fast sakraler Weise überhöht wird.

Sewing rekapituliert den Berliner Architekturstreit der neunziger Jahre ebenso kompetent wie er den "Stadtbürger mit Speckgürtel" seziert oder der Frage nach der Individualität im Massenwohnungsbau nachgeht. Doch fokussiert er beileibe nicht nur die hiesigen Entwicklungen. Mit Blick auf die USA glaubt er feststellen zu können, dass es einen grundlegenden Trend zur Mitte gibt, der kulturell noch viel stärker ausgeprägt ist als ökonomisch. Auch seien schichtspezifische Unterschiede beispielsweise bei musikalischen Präferenzen erheblich höher als in Fragen der häuslichen und gebauten Umwelt. Doch moderne Massenkommunikation beeinflusst nicht nur Geschmacksbildung und ästhetisches Empfinden, sie scheint auch eine spezifische Art der Politik zu generieren. Der Vorwurf des Populismus, den man gegenüber der amerikanischen Politik gerne erhebt, läuft insofern ins Leere, geht es hier doch eher um "einen mittleren Weg des common sense, aus dem sich alle abstrakteren normativen, ästhetischen und kognitiven Kategorien begründen. Der ›Gemeine Mann‹ wird damit zum Legitimationsgrund auch der Politik. Populismus ist also in diesem Sinne kulturtheoretisch nicht die Definition der Ränder, seien sie politisch rechts oder links, sondern die Definition eines gesellschaftlichen Konsenses." Während es etwa in Großbritannien fraglos - und wie seit jeher - eine Elite ist, die den kulturellen Konservatismus trägt und perpetuiert, konnte dieser in den USA zu einer breiten Konsumentenströmung werden. Seit den siebziger Jahren entstand dort eine neue Mittelschicht, deren Lebensstil die Rückversicherung in einer nostalgisch zu rekonstruierenden Vergangenheit mit der Fortschrittsvision eines Bill Gates und der ökologischen Sensibilität eines Al Gore zu harmonisieren sucht. "Nostalgie verliert das Stigma sentimentaler Weltflucht und wird zu einer Sinnressource für die Stabilisierung von Lebenswelten."

Soziale Komplexität auf räumliche Arrangements zu reduzieren, auf Images und Bilder, ist Sewings Sache nicht. Was ihn aber von anderen seines Faches (positiv) abhebt ist, dass er, bei aller kritischen Distanz, die Bedeutung des symbolischen Kapitals anerkennt, welches in der spezifischen Verräumlichungs- und Visualisierungskompetenz der Architekten liegt. Indem er deren operatives Handlungswissen dem rein sprachlichen Reflexionswissen der Sozialwissenschaftler strategisch überlegen einschätzt - zumal in einer zunehmend medial und visuell vermittelten Gesellschaft -, zwingt er die kritische Theorie zu einem neuen, veränderten Blick auf die kulturelle Praxis. Der Architektur wird seit langem nachgesagt, sie habe die Kraft, das Gefühl zu erreichen, verloren. Mit seiner Kritik ist es Sewing darum zu tun, diese emotionale Kraft wieder zu entdecken.

Bildregie. Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur. Hrsg. Von Werner Sewing, Birkhäuser Verlag, Basel-Berlin-Boston 2003, 14 s/w-Abb., 208 S., 24,50 EUR


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